Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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7

Der kleine General hatte heute wieder die quälende Unsicherheit des nervösen Menschen, er konnte wohl skrupellos sein, aber er mußte dazu einen Anlauf nehmen. Er war keine robuste Natur, nein, er besaß jene labilen Nerven, die ein exponiertes Leben zur Hölle machten.

In den schlaflosen Nächten zitterte er vor seiner eigenen Gewalttätigkeit und vor der Schwere seiner Vorsätze. Er lag im Bett und hörte sein verwünschtes Herz klopfen. Manchmal, wenn er aus 509 widerwärtigen Träumen aufwachte, war er kalt und naß von Schweiß. Er sah Gespenster, wo keine waren, er verschloß nachts die Schlafzimmertür, er hatte die Pistole auf dem Nachttisch liegen. Er war gewiß nicht feige, aber argwöhnisch. Die verfluchten Gedanken, die er aus reiner Eitelkeit wälzte, all die schlauen und verschlagenen Vorstellungen und Pläne, die er zusammenbrütete, traute er auch andern zu. Er, der Leben und Blut manches Deutschen auf dem Gewissen hatte, bangte um sein eigenes Leben, er fürchtete Attentat und geheime Rebellion, es war ihm nicht ganz wohl in seinem herrschsüchtigen Nimbus. Der geheime Usurpator seiner petit Palatinat brauchte den Nervenarzt.

Er brauchte auch die Kirche, er war nicht befähigt, als Machthaber alleinzustehen, er verschanzte sich, so gut es ging, hinter dem Herrgott und der Mutter Maria.

Sein Vorgänger war stärker gewesen und grimmiger, er hatte bei den Negern Madagaskars gelernt, wie man Menschen zu Herden treibt und kolonisiert. Aber die Pfalz war nicht Madagaskar, seine Methode war falsch gewesen, das Knutenregiment und die geschickten Drahtziehereien im eigenen Lager hatten ihm ein Bein gestellt. Man wünschte eine andere Tonart, die Methoden mußten gewechselt werden.

Und er, der kleine General, damals noch Kreisdelegierter, hatte die Fallen gestellt und den Kolonisator samt republikanischer Reitpeitsche zu Fall gebracht. Kein Zweifel, es war nichts gewesen, als persönliche Eitelkeit. Nun war er, der kleine General mit dem schwarzen Schnurrbärtchen, am Ruder, nun mußte er zeigen, ob die Niedertracht, wenn auf eine andere Ebene gehoben, erfolgreicher war oder ob sie in den endgültigen Bankerott der Rheinlandpolitik mündete. Man erwartete Großes von ihm, er sollte ein Stück Land aus dem Herzen einer Nation reißen. Er wippte mit der Reitpeitsche durch die Luft, trat ans Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Sein Magen war nicht in Ordnung, er hatte sich schon eingebildet, es wäre Krebs. Aber der Arzt hatte ihn ausgelacht und ihm ein Baldrianpräparat verschrieben. Er bekäme weder Krebs noch Pest, weil ihm beides viel zu oft gewünscht würde.

Mit dem passiven Widerstand ging es zu Ende, der General wußte das bereits, wenn es auch noch nicht offiziell bekannt war. Die Deutschen waren ausgeblutet, sie lagen am Boden, ihre letzte Kraft war schmählich vertan, in einigen Tagen würde der Widerstand abgeblasen werden. Das war ihm, dem General mit seinen dunklen Plänen, nicht 510 recht. Er hätte lieber gesehen, wenn die Deutschen noch weiter gezappelt hätten, Bereitwilligkeit machte Gewaltmaßnahmen schwieriger, Erfüllung sanktionierter Forderungen ließ keine außergewöhnlichen Druckmittel zu, man mußte wieder mehr aus dem Hinterhalt knallen, das Lügenspiel wurde fataler und forderte mehr Schläue.

Der General kaute an den Schnurrbarthaaren, er dachte angestrengt nach, er wußte, daß er den bedeutungsvollsten Wochen seines Lebens gegenüberstand, denn der Zeitpunkt für seine heiß ersehnte pfälzische Republik rückte gebieterisch aber nicht ohne unheilvolle Vorzeichen näher. Der Zauderer wußte immer noch nicht, mit welchen Geschützen er feuern sollte, mit den Arbeitern, mit den Bauern oder mit den Katholiken.

In den nächsten Tagen mußte es gewagt werden, die Regieproben hinter den Kulissen waren zu Ende, der Vorhang mußte hochgehen.

Keine Gedanken, keine niederträchtigen Schachzüge mehr, keine Verhandlungen hinter verstopften Schlüssellöchern.

Nein, die offene Tat. Die Tat forderte Einsatz.

Er riß das Fenster auf, war es denn gewitterschwül, er fühlte, wie unter dem Waffenrock das feuchte Hemd auf der Haut klebte. Er beugte sich zum Fenster hinaus und sah den Dom, ungeheuer massig ragten die Türme vor ihm auf.

Ruckartig schaute er sich um, ihm war, als ob jemand die Tür geöffnet hätte.

Es war wirklich nichts mit seinen Nerven, der ewige Ruhm zermürbte. Wo stand denn die Kognakflasche?

Auf dem Schreibtisch blätterte er im Terminkalender. Richtig, heute um elf Uhr hatte er den Capitaine Marcel Foreste bestellt. Ein total verrückter Kerl. Kam ins besetzte Gebiet und wollte mit seinen Gefühlen kokettieren. Hatte einen Gendarmen zu Boden geschlagen und einen Staatsgefangenen aus dem Landauer Gefängnis geholt. Gut denn, dieser Foreste besaß außergewöhnliche Verdienste, man durfte ihn nicht fallen lassen. Alles, nur keine Schwärmer in den besetzten Zonen, am Ende steckte ein Frauenzimmer dahinter. Der General schlug mit der Peitsche trommelnd auf den Tisch, er pfiff dazu einen Clairon-Marsch, offen gestanden, ihm war übel, der verfluchte Magen.

Er verließ sein Hauptquartier in der Versicherungsanstalt und ging in den Dom. Es trieb ihn, dem lieben Herrgott einen Besuch abzustatten, die Kirche war eine Macht, der Himmel hatte Frankreich den Sieg geschenkt, der Himmel würde auch weiter helfen. Die ewige Vorsehung war gut französisch.

511 Der seltsame kleine General ließ sich die Krypta öffnen, er ging hinunter zu den acht toten Kaisern, er hatte ein Gefühl, als ob er sich dort in guter, wenn auch gefährlicher Gesellschaft befände. Aber er wollte dem Teufel vor die Schmiede gehen, um einen Ausgleich für den Mangel seiner inneren Festigkeit zu finden.

Es war kühl bei den deutschen Kaisern, ihn fror, als er vor den Särgen stand. Da lag Deutschland, tot und kalt und eingegruftet. Die Toten standen nicht mehr auf, was tot war blieb tot, was besiegt war, blieb besiegt.

Der General drehte das Käppi in den nervösen Händen, man kam nie hinter den Sinn der Dinge, der Tod war einer von jenen Leisetretern, denen man noch nicht auf die Schliche gekommen war. Wer weiß, was alles hinter dem Tod lauerte, er kam nur immer in seiner abgeschmackten Maske und ließ sich nicht in die Karten schauen.

Das Volk erzählte sich, die toten Kaiser stiegen zu gewissen Zeiten aus ihren Särgen, wenn es hart auf hart ginge, und wenn die sogenannte deutsche Freiheit in Gefahr wäre. Bei Napoleons Sturz wären sie von einem Fährmann über den Rhein gebracht worden in blinkender Wehr und blitzenden Waffen, um für die deutsche Einheit zu fechten. Der General schmeckte etwas trocken Bitteres, als er an den Begriff der deutschen Einheit dachte. Nie und nimmer durfte dieses Gespenst der deutschen Einheit auftauchen; denn es warf seine frostigen Schlagschatten über Frankreichs gesegnete Gefilde. Das Gebäude Bismarcks war gestürzt, geblieben war eine Ruine und auch diese mußte bis zum letzten Stein und bis in die Fundamente hinunter geschleift werden. Nichts mehr von deutscher Einheit, sie erschien einem nur noch in abgeschmackten Träumen, sie war der fürchterliche Wolf, der in die französischen Herden einbrach und die ritterlichste Nation der Welt bedrohte.

Der General trat leise auf und dennoch hallten seine Schritte von den Gewölben zurück. Die trübe Dämmerung schien magisch bewegt, er fühlte einen eisigen Luftstrom, kaum merklich, nur so leise dahingeweht, aber voll argwöhnischer Feindseligkeit. Acht tote deutsche Kaiser, was war geblieben von ihnen? Nichts als der Schauer einer Gruft, ein letzter Odem von Verwesung und Vergänglichkeit.

Nein, sie lebten ewig, sie stiegen immer wieder aus ihren Särgen, alle Menschen lebten ewig, so stand in der heiligen Schrift, so sprach der Glaube, so lehrte die Kirche.

Der General erschrak, er hörte Geräusche, es war wie von 512 unterirdischen Schritten. Er straffte seine Gestalt, zog den Waffenrock hinunter und rührte mit der Hand an seine Orden und Sterne. Er war Soldat, sonst nichts, er hatte kein Recht, sich vor acht toten Kaisern zu fürchten.

Der lebendige Verrat stand zwischen den toten Kaisern. Der Verrat ging im Lande um; wenn sie aufstünden aus den metallenen Särgen und aus dem Dom hinausschritten, um das Gestürzte aufzurichten, würden sie der Mauer des Verrates gegenüberstehen. So war es, in diesem Lande verriet der Deutsche den Deutschen, es gab genügend Männer, die für ihre politische Großmannssucht das Land verkauften. Es gab Wirrköpfe und Heißsporne, es gab Dunkelmänner und ein Gezücht von Charakterlumpen, die es einem französischen General leicht machten, mit wehrlosen Provinzen einen weltpolitischen Kuhhandel zu treiben.

Aber es gab auch andere, und sie besaßen eine unbeugsame Waffe, nämlich die Kraft ihres Glaubens. Sie waren gefährliche Gegner, denn sie glaubten an Deutschland, sie waren unsichtbar und unterirdisch lebendig. Unter dem Getrümmer einer geschlagenen Nation lebten sie weiter, heimlich glühend und neue Triebe emporsendend. Aus vermeintlichen Gräbern klopfte unheimlich drohend ihr Herzschlag. Der General wußte um sie, er verleugnete sie, aber er hatte Furcht vor ihnen, wenn er einsam war und ins Nachdenken kam. Dann wurde ihm bange vor der Knute, die er über einem wehrlosen Volk schwang, fürchtend, es könnte vermessen sein, was er tat. Er ahnte eine ungewisse, wie durch Zauber beschworene Umkehr des Bestehenden, seine neurasthenische Prophetie sah die Deutschen wieder mächtig, in gefahrvoller Auferstehung marschierten sie nach Westen, und irgendein unsichtbarer Fahnenträger trug das brennende Zeichen der Vergeltung voran.

›Ich bin nur ein Mensch‹, dachte der General, ›aber welches Recht besaß der Mensch in ihm, dem Werkzeug, dem General?‹

Keines, der Mensch war nichts, der General alles! Der Mensch war verdammt, das Werkzeug geheiligt! Das Gewissen schwieg, nur die Idee besaß Stimme. Fort mit dem Menschen, fort mit dem Gewissen!

Er fühlte, wie ihm unbewußte Kraft zuströmte, die lästige Enge in der Kehle schwand, durch die feuchten Hände rann eine wohltätige Kühle.

Keine Angst vor den Kaisern, kein Grauen vor kommenden Möglichkeiten, keine deutsche Wiedergeburt mehr in schweren Träumen!!

513 Spiel mit dem Verrat, Spiel mit den Lumpen, Schach den Aufrechten!

Herauf aus euren Gräbern, ich fürchte mich nicht. Ich lebe, ihr aber seid tot, ich schaue mit meinen Augen, ich höre mit meinen Ohren und spreche mit meinem Mund. Ihr aber seid blind und taub und stumm, ich könnte vielleicht für eure verlorenen Seelen beten.

Heraus aus eurem Staub, ich will euch aufrecht empfangen, denn ich trage eine Sendung im Herzen, ihr aber seid ohne Herz und ohne Hirn, und es wird keiner unter euch sein, der mir ein Grab schaufelt. Ich bin kein Mensch, ich bin eine Idee. Der Mensch in mir ist tot, wie ihr tot seid und wie eure Idee tot ist und tot bleiben muß.

Spiel mit dem Verrat, Schach allen Aufrechten!

Herauf, hier steht Frankreich!

Ich bin kein Mensch, ich bin Frankreich. Ich habe meine Regimenter am Rhein, meine Elitetruppen, meine Marokkaner und Spahis, meine Senegalesen und Algerier. Ich habe ganze Wälder abgeholzt für Schießplätze und Flugplätze und Truppenübungsplätze. Alle Straßennamen sind französisch, alle Wegweiser; die Eisenbahnen, die staatlichen Behörden, die Gerichte.

Hier steht Frankreich in seinem kommenden Département!

Der Vermessene taumelte, ein Schrei blieb gelähmt in die Kehle gebannt, er griff nach einem Halt. ›Mein Herz‹, dachte er, ›mein – – – Herz!‹

Im Dämmerlicht zwischen den Sarkophagen stand eine Gestalt, von Schatten umflossen und durch die grauen Schleier flimmernder Augen verhängt.

Die Gestalt kam langsam näher, die Umrisse klärten sich, das Gesicht gewann mehr und mehr an Schärfe.

Öffnete sich die Schlucht der Jahrhunderte, kam ein Sendbote des Todes und rührte an ein fragwürdiges Soldatenschicksal?! Kam einer mit reinem Gewissen und wies auf des Gouverneurs beschmutztes Kleid?!

»Hier steht Frankreich!« sprach gedämpft der General, abergläubisch und an Erscheinungen glaubend.

Plötzlich erkannte er den Menschen, wie töricht, an einen toten Kaiser zu denken, man mußte etwas für seine Nerven tun. Der hier stand, war kein Kaiser, er war nichts als ein verlorener Sohn seiner Heimat.

»Mon dieu, le Marquis d'Orbis?!«

514 Franz Josef Heinz trat schweigend vor den französischen General hin, er machte eine Verbeugung und lächelte, aber dieses Lächeln stand unbeschreiblich fremd und verlassen in dem verschlossenen Gesicht mit den harten und kalten Augen.

Der kleine General fuhr über den herabhängenden Schnurrbart, dann streckte er dem Bauernführer die Hand hin.

»O la la, Sie suken 'ier eine gutte Gesellschaft?«

Er rückte am Schulterriemen und schaute den Rebellen genau an. Der Mann war zur Zeit sein bester Bundesgenosse, man mußte ihn nur beim verfluchten Ehrgeiz packen. Das finstere Gesicht mit dem rötlichen Bart, der Mund und die schwach seitwärts gebogene Nase verrieten ebensoviel entschlossene Tatkraft wie Skrupellosigkeit.

»Ich habe den Geschmack an deutschen Kaisern verloren, ich sah Sie, Herr General, zufällig in den Dom gehen, da bin ich hinterhergekommen. Ich stehe zum erstenmal in dieser Totenkammer. Mir ist, als ob ich hier nicht viel verloren hätte, ich habe es mehr mit den Lebendigen zu tun. Die Toten sind nicht meine Freunde.«

Der General lachte lautlos, der Schreck war noch nicht verflogen, er glaubte an Zeichen. War es eine gute Vorbedeutung, daß der Mann, der letzter und oberster Handlanger seines schändlichen Planes werden sollte, ihm in diesem Schattengewölbe gegenübergetreten war? Wer war stärker hier in der Gruft, die toten Kaiser oder der lebendige Verräter?

Der abtrünnige Bauer stand groß da, aufrecht und den Oberkörper ein wenig zurückgebogen, wie einer, der einen Angriff parieren will, dabei aber keinen Schritt zurückweicht.

»Es sein gutt, wie Sie stehen à mon coté, monsieur 'einz, auch wie eine Kaiser du Palatinat, abber eine lebendige Kaiser, nix tote Kaiser comme ça

Er deutete auf die Sarkophage. Franz Josef Heinz runzelte die Brauen, eine schwarze Vorstellung zog an ihm vorüber. Er schaute nach den Gräbern, ein Schauer lief über seinen Rücken, es wurde ihm plötzlich unbehaglich in der Nachbarschaft des Todes. Sonderbar roch der Tod, man würde Mühe haben, diesen Geruch zu vergessen.

»Monsieur 'einz«, sprach der General scherzend, »kommen Sie, ist su kalt, kommen Sie 'eraus, Sie sollen leben, Sie sein eine gutte Freund, ich versiker Sie, auch Frankreich est votre ami

Sie gingen, in der niederen Tür blieb der Bauernrebell noch einmal stehen und schaute zurück, der ganze Raum verschwamm zu einem 515 düsteren Bild. Er griff sich an die Stirn und fühlte die kühle Feuchte ausbrechenden Schweißes. ›Man mußte sich mit mancherlei vertraut machen in einem Menschenleben‹, dachte er.

»Was 'aben Sie, monsieur 'einz?«

»Rien du tout. Man hat manchmal sonderbare Visionen. Ich bin ein schlechter Gesellschafter, wenn die Toten zu Gast geladen sind.«

Er wandte sich um und ging hinter dem General die Treppe hinauf. Er biß die Zähne zusammen und verwünschte das Dämmerlicht des Gotteshauses.

Im Seitenschiff blieb er stehen und wühlte mit den Fingern im Bart.

»Ich hätte Sie gerne um eine Unterredung gebeten, Herr General. Wir stehen wieder einmal an einem Wendepunkt, der passive Widerstand ist abgeblasen.«

»Je sais tout, monsieur 'einz.«

»Deutschland hat uns aufgegeben, wir Linksrheinischen müssen etwas unternehmen, wir hoffen auf Ihre Unterstützung.«

›So sieht einer aus, der sein Land verrät‹, dachte blitzschnell der General, ›ich muß ihm die Hand geben, aber ich muß mir diese Hand dann waschen. Hier steht Frankreich, hier steht nicht der Mensch.‹

Er gab ihm die Hand und schaute ihm ins Gesicht, dann glitt der Blick über ihn hinaus.

Da stand Franz Josef Heinz aus dem Dorfe Orbis, der unbändige Rotblonde, der eine neue Bauernidee propagieren wollte, der kühne Pläne hatte und einen beflügelten Geist, der aber in die Abwässer geraten war, statt in den freien Strom.

Da stand er, der sein waidwundes Land verriet.

Tirards schwarzer Rabe.

»Kommen Sie in eine Stunde, ich 'aben noch eine kleine conférence

Der Marquis d'Orbis verließ den Dom.

»Le corbeau noir«, sprach der General und kniete vor dem Hochaltar nieder. Er rief die Heiligen an und den Beistand des Himmels.

Er wußte nicht, wie unendlich fern dieser Gott war, den er in seiner törichten Verblendung für sich in Anspruch nahm.

In seinem Hauptquartier wies er alle Besucher und Bittsteller ab und nahm nur den Capitaine Marcel Foreste mit in sein Privatbüro. Als er die Tür hart geschlossen hatte, trat er knapp vor den Capitaine hin und schaute ihm scharf in die Augen.

516 »Sie wissen, warum ich Sie hierherbefohlen habe?«

»Jawohl, Herr General.«

»Gut, dann werden Sie wissen, daß ich im okkupierten Land keine Nachsicht haben darf, selbst nicht mit einem Offizier, der außergewöhnliche Verdienste hat. Auch nicht, wenn er Kommandeur der Ehrenlegion ist.«

»Meine Verdienste sind nicht so außergewöhnlich, daß sie eine Nachsicht rechtfertigen könnten.«

»Bitte jetzt keinen geistreichen Stolz. Ich sage Ihnen eines: Sie dürfen ausnahmsweise so reden, als ob nicht der General vor Ihnen stünde. Verstehen Sie mich recht, mich interessiert Ihre innerste Meinung. Aber wohlgemerkt, mich interessiert nicht der Mensch, sondern nur der Offizier Frankreichs.«

»Wer hier Besatzungsoffizier ist, Herr General, muß den Menschen in sich vergessen, er muß das Gefühl vergessen und das göttliche Gewissen. Was er aber nicht vergessen darf, das ist die Ehre seiner Nation, die er zu vertreten hat mit jedem Atemzug und mit jedem Schlag seines Herzens.«

»Sie sprechen mit Pathos, aber was Sie sagen, ist nichts als eine Selbstverständlichkeit.«

»Dann stehe ich ohne Schuld vor Ihnen, mein General.«

»Ohne Schuld?! Sie haben einen meiner Sûreté-Beamten zu Boden geschlagen, weil er einen Deutschen verhaftet hat.«

»Nicht weil er ihn verhaftet hat.«

»Sondern?«

»Weil er ihn, als er wehrlos war, mit der Peitsche geschlagen hat!«

»Wir sind übereingekommen, daß wir das Gefühl ausschalten, Capitaine Marcel Foreste!«

»Nicht aber die Menschenwürde!«

»Wer handelt gegen die Menschenwürde, wenn ich fragen darf, aber bitte keine sentimentalen Spitzfindigkeiten?«

»Wer sich an einem Wehrlosen vergeht!«

»Der Krieg hat andere Gesetze.«

»Ehre und Schande sind bei Kulturvölkern keinen Wandlungen unterworfen.«

»Frankreichs Feind ist geschlagen, der Wolf liegt am Boden, es gibt kein Deutschland mehr, Deutschland ist tot.«

»Dann dürfen wir nicht zu Leichenschändern werden.«

»Sie wagen viel, Capitaine Foreste.«

517 »Ich wage alles. Mein Leben meiner Nation!«

»Gut, das Leben für die Nation, alles für Frankreich. Frankreich ist groß.«

»Ich würde nicht ertragen, wenn dieses große Frankreich die Scham verlöre.«

»Capitaine!«

»Das freie Wort ist mir zugesichert, ich nehme dieses Vorrecht nicht für mich in Anspruch.«

»Für wen sonst?«

»Nur für die Sache. Ich stehe nicht als Foreste vor Ihnen, Herr General, sondern als Franzose.«

»Ich nicht minder, nur daß eine größere Last auf meinen Schultern ruht. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, eine uralte Idee soll durch mich endlich Gestalt gewinnen, ein Vermächtnis liegt in meinen Händen und zwischen meinen Entschlüssen. Wir sind keine Einzelwesen mehr, wir sind Werkzeuge eines staatspolitischen Gedankens. Kennen Sie diesen dort?«

Er wies auf ein Bildnis des Kardinals Richelieu, das über der Tür hing.

»Richelieu lebt!« sprach der General.

»Wann wird er endlich tot sein?«

»Wenn Deutschland tot ist.«

»Soll er also ewig leben?!«

»Es gibt manchmal kurze Ewigkeiten.«

Sie schwiegen. Der General lief aufgeregt hin und her, er machte nervöse Schulterdrehungen, er preßte die flachen Hände gegen die Schläfen, denn er hatte das Gefühl, als spannte sich ein eisernes Band um seinen Kopf.

»Ich bin manchmal so müde, Sie glauben es nicht. Aber darf ich denn müde sein, wenn meine eigenen Offiziere gegen meine Ziele handeln?! Sie sind einer meiner besten Offiziere und handeln gegen meine Ziele.«

»Niemals gegen Ihre Ziele, ich müßte sonst vor das Kriegsgericht.«

»Wogegen handeln Sie denn in Teufels Namen?«

»Gegen gewisse barbarische Methoden.«

»Barbarische Methoden?! Was meinen Sie damit?«

»Ich finde es barbarisch, wenn man mit der Peitsche Verständigungspolitik und friedliche Durchdringung treiben will. Ich finde es barbarisch, wenn man französische Kulturausstellungen eröffnet 518 und französische Dichter ins Treffen führt, während keine halbe Stunde entfernt deutsche Männer, die nichts als ihre Pflicht getan haben, in feuchten Kellern mit brettervernagelten Fenstern sitzen und dort – – es muß ausgesprochen werden!! – sich auf alte Marmeladeneimer setzen müssen!«

»Capitaine Foreste!!«

Der General sprang auf ihn zu, eine Welle heißen Blutes schoß in sein Gesicht, die geballten Fäuste zitterten, er fühlte wieder diese verfluchte Trockenheit im Halse.

»Es ist unerhört«, stieß er heiser und stoßweise hervor, »was ein Offizier zu seinem General – –!«

»Das freie Wort ist gefährlich, weil es ohne Maske ist.«

»Zwingen Sie mich nicht, Sie zur Rechenschaft zu ziehen!«

»Was ich verfolge, ist den Einsatz eines armseligen Lebens wert. Das Sterben lernt sich leichter, als die meisten glauben.«

»Nichts davon, nichts! Ich sage Ihnen, alle, die in den feuchten Kellerlöchern sitzen, haben gegen Frankreichs Sicherheit gehandelt.«

Marcel Foreste hob die Stimme, seine Augen funkelten, er wußte, daß er vieles wagte, er stand dem Gouverneur einer Provinz gegenüber. Was er tat, war vermessen.

»Aber ich und alle, die diesen Rock tragen, haben diesen Eingekerkerten in der Hölle der Granaten gegenübergestanden. Und wem ich meine Brust und mein Blut biete, der muß meiner würdig sein und würdig bleiben, auch wenn er sich nicht mehr wehren kann. Ich muß den Geschlagenen achten, ich dürfte sonst auch den nicht mehr achten, der ihn geschlagen hat.«

»Was soll Ihre Achtung in dieser Stunde?«

»Sie trennt uns im wahren Sinne von den Barbaren.«

Der General blieb hart vor ihm stehen, mit vorgedrücktem Kopf schaute er ihn haßerfüllt an.

»Ich will Ihnen etwas sagen, was Sie vielleicht noch nicht wissen: Frankreich braucht nicht nur seine Wiedergutmachung, es braucht auch seine Rache.«

»Ist es meine Pflicht, Herr General, ein Instrument dieser Rache zu sein?«

»Ja, das ist es. Die Deutschen sollen leben, aber Deutschland muß sterben.«

»Ich kenne keine Rache, denn die Rache ist vom Teufel, von Gott aber ist die Gnade.«

519 »Phantast, ich werde Sie lehren, meine Methoden zu begreifen. Es soll mir ein Privatvergnügen sein, sie Ihnen begreiflich zu machen. Ich will Ihnen offen sagen, daß ich die Absicht hatte, Sie in Ihre Heimatgarnison zu schicken, aber ich habe mir das anders überlegt. Sie bleiben hier und werden ebenso hart sein, wie ich es sein muß. Sie bleiben hier und werden gerade diese Methoden, die Sie verabscheuen, anerkennen, ja, Sie werden sie gegebenenfalls selbst zur Anwendung bringen!«

Marcel Foreste stand hoch aufgerichtet, er überragte den kleinen General, als er jetzt beide Hände flach auf die Brust legte.

»Nicht, solange ich dieses Ehrenkleid des Soldaten trage!«

»Vergessen Sie nicht die Kriegsgesetze. Auch Ihre Verdienste können Sie nicht vor dem Gesetz schützen.«

»Mir bliebe immer noch ein letztes Mittel, Herr General.«

»Und das wäre?«

»Einer Welt den Rücken zu kehren, die mich zur Erniedrigung vor mir selbst zwingen will.«

»Nichts als Schwärmerei, damit können Sie keine Eroberungen machen. Ich verlange von Ihnen, daß Sie Ihre Pflicht tun, im Dienste Frankreichs.«

»Ihre Forderung spricht für mich, denn was ich tat, das tat ich im Dienste Frankreichs.«

»Ich wünsche nicht, daß diese Meinung auf andere Besatzungsoffiziere abfärbt. Es geht um eine große Sache, und ich kann Ihnen offen sagen, ich bin bei diesem Rennen etwas ins Hintertreffen geraten. Wir müssen alle Kräfte dransetzen, um rechtzeitig durchs Ziel zu gehen. Ich wünsche auf dem schnellsten Wege die autonome Pfalz, wenn das nicht auf diplomatischem Weg gelingt, dann muß es mit Gewalt erzwungen werden. Ich will nicht hoffen, daß auch diese Gewaltmethoden dann Ihre Mißbilligung finden, Capitaine Foreste.«

»Ich weiß nicht, welche Gewaltmethoden Sie im Auge haben.«

Der General lächelte, er stellte sich mit gespreizten Beinen vor den Schreibtisch und strich den Schnurrbart nach unten.

»Die schwarzen Raben Tirards, Capitaine Foreste.«

»Ich fürchte sehr für diesen Separatismus, ihm fehlt der Boden unter den Füßen, ihm fehlt das Volk.«

»Ha ha, das Volk! Ich besitze drei starke Faktoren in der Pfalz, ich weiß nur noch nicht, wie ich mit diesen Bällen spielen soll. Auf das 520 Dessin kommt es an. Die Bauern stehen hinter diesem Marquis d'Orbis.«

»Nur die sogenannten freien Bauern, und ich fürchte, auch sie werden vor der Schwelle des Verrats Halt machen.«

»Ich wiederhole Ihnen, es kommt auf das Dessin an. Jonglierkunst.«

»Die Jongleure, Herr General, scheinen mir gerade jetzt die gefährlichsten Gaukler.«

»Ich bin kein Artist, ich bin Politiker. Sie begreifen nicht, was auf dem Spiel steht, für mich und für Frankreich. Sie stehen hier und machen sentimentale Quertreibereien, ich stehe hier und mache Weltgeschichte.«

Marcel Foreste glaubte nicht an diese Weltgeschichte, er wußte, daß der Gouverneur nicht stark genug war, um seine ruhmsüchtigen Pläne zu verwirklichen. Dieser Mann, zappelig und unentschlossen, hochtrabend aus Unsicherheit und gewalttätig aus Nervenschwäche, war kein Eroberer. Ihm fehlte der Blitz des entschlossenen Tatenmenschen, er hatte Ohrenbläsereien nötig und brauchte die Meinungen anderer, um an ihnen seine eigene revidieren zu können.

Die beiden Männer schauten sich an, ihre Blicke waren scharf, das Mißtrauen lauerte zwischen ihnen, der General besaß die Macht, der Capitaine das Recht.

»Halten Sie mich nicht für nachgiebig, Capitaine Foreste, ich habe eine Sendung zu erfüllen, die in die Jahrhunderte weist. Es kommt nicht allzuoft vor, daß ein französischer General unter dem Schatten des deutschen Kaiserdomes steht und alle Gewalt in seiner Hand vereinigt.«

»Ich kenne die Geschichte Frankreichs zu gut, Herr General, um nicht zu wissen, daß ein einzelner Mann, wenn er die Gewalt besitzt, nicht nur Geschichte, sondern auch Schicksal machen kann.«

»Schicksal?! Was meinen Sie mit dem Schicksal? Welches Schicksal?«

»Das Schicksal Frankreichs.«

»Das Schicksal Frankreichs steht unter einem guten Stern.«

»Ich traue den Gestirnen nicht.«

»Gott ist mit Frankreich!«

»Gewesen!«

Der General fuhr auf, eine dunkle Bangnis faßte ihn.

»Gewesen?!«

521 »Gewesen! Er ist nicht mehr mit Frankreichs Methoden.«

»Ich bin in der Krypta gewesen bei den toten Kaisern, ich habe mich vom Tode Deutschlands überzeugen wollen.«

»Vielleicht fehlt dort noch ein Grabmonument, das von Bedeutung sein könnte für den Frieden Europas.«

»Ich verstehe Sie nicht, Sie sprechen in Rätseln. Sie regen mich auf, Sie wünschen meine Zweifelsüchtigkeit. Welches Grabmonument meinen Sie?«

»Nur ein Symbol, Herr General.«

»Symbole passen schlecht zwischen Kanonen und politische Staatsgeschäfte. Reden Sie!«

»Ein Grabmonument mit der Inschrift: Hier ruhen in Frieden Richelieu und sein unseliges Vermächtnis.«

»Das wäre nichts als Frevel im Angesicht des Göttlichen. Denn Gott will, daß Deutschland tot sei.«

»Ich habe größere Gesichte von ihm.«

»Gesichte, reden Sie nicht von Gesichten! Ich vermute, Sie glauben gar nicht an Gott. Gehen Sie in den Dom und knien Sie nieder, damit Ihnen die Erleuchtung kommt.«

»Ich bin Gott näher gewesen, als man es in Kathedralen sein kann.«

»Und wo, Capitaine Foreste?«

»Auf den Viertausendern der Alpen.«

Der General neigte den Kopf schief, er kniff ein Auge zusammen und überlegte, in rascher Folge jagten sich die Gedanken. Dieser Foreste war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, er hatte sonderbare verschrobene Ansichten, aber was er sagte, besaß verborgenen Sinn. Gab es denn prophetische Naturen unter seinen Besatzungsoffizieren?

»Sagen Sie mal ehrlich, Foreste, glauben Sie an einen Wiederaufstieg Deutschlands?«

»Ich glaube daran.«

»Woher kommt Ihnen dieser Glaube?«

»Weil ich weiß, daß aus der tiefsten Verzweiflung die höchste Kraft wachsen kann. Wir nährten die Kräfte Deutschlands, als wir es zur Verzweiflung trieben.«

»Was Sie sagen, klingt ungeheuerlich. Sie glauben also, daß Deutschland einmal wieder hier über den Rhein marschieren könnte, daß es wiederum ein Volk in Waffen – –?!«

522 »Warum sollte ich es nicht glauben!«

»Dann glauben Sie also an Wunder.«

»Wunder geschehen durch kleine Handbewegungen Gottes.«

»Lassen Sie Gott aus dem Spiel!«

»Ich war es nicht, der ihn zitiert hat.«

Der General stützte die Arme auf den Schreibtisch, er senkte den Kopf und zerbiß wütend die Barthaare. Wenn dies alles vorüber ist, nahm er sich vor, dann will ich irgendwohin gehen, wo es einsam ist, wo das Meer rauscht, wo es keine schwarzen Gedanken mehr gibt, wo ich ausruhen kann, keine Menschen um mich, keine Gaukler und keine Verräter, keine Hintermänner und Intriganten, keine Politiker und Denker und Dichter. Ausruhen! Nom du dieu, es war schwer, Weltgeschichte zu machen.

Ausruhen!

Er wankte fast, als er, kalt von Schweiß, auf den Capitaine zukam und mit veränderter Stimme fragte: »Wo ist denn also der Weg?«

»Verständigung, Herr General.«

»Verständigung?! Ich kann mir vorläufig darunter rein gar nichts vorstellen. Was ist das, Verständigung?«

»Etwas, das zur Zeit nicht möglich ist, vielleicht aber in künftigen Jahren.«

»Kann man sich mit einem geschlagenen Feind verständigen? Ich habe bisher angenommen, daß man ihm nur diktieren kann.«

»Das haben wir bis zur letzten Möglichkeit getan.«

»Noch nicht! Ich brauche meine Republik, und ich werde sie schaffen, oder die Pfalz soll in Schutt und Asche sinken. Es steht dem General im allgemeinen nicht an, in dieser Weise mit seinen Offizieren zu sprechen. Wenn ich Ihnen ungewöhnliche Freiheiten einräumte, so nur, weil mich die Beweggründe Ihres Handelns rein geschäftlich interessierten. Sie sprachen das Wort Verständigung, ich kann mir unter diesem Begriff, wie ich Ihnen schon sagte, nichts vorstellen. Ein Schlagwort vielleicht, eine Phrase für die Nervenschwachen. Ich aber habe – – starke – Nerven!«

Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, er fühlte die Lüge am eigenen Körper, das Band um den Kopf schraubte sich enger, er würde heute nacht wieder ein starkes Schlafmittel nehmen müssen.

Er bekam mit einemmal die sonderbare Anwandlung, er müßte den andern anhören; er täte gut, den Soldaten zu verabschieden und den Menschen sprechen zu lassen, neugierig geworden, was wohl der 523 Mensch ihm Bedeutungsvolles zu sagen haben könnte. Wäre es möglich, die nackte Gewalt zu beugen durch überzeugende Worte, die aus einer ganz anderen Welt kamen; könnte wirklich die Gnade größer sein als die Rachsucht; war das Wort Verständigung kein Frevel auf französischen Lippen?

Ein sonderbarer Schwärmer, dieser Marcel Foreste, der Teufel mochte seine Heldentaten an der Somme begreifen. Ein Mann, der in sein Gewissen verliebt war und mit seiner Menschenwürde die Politik zur Hure machte.

Verständigung, gab es ein tolleres Wort am heutigen Tage?

Er ließ sich in den Ledersessel fallen und atmete tief, es war manchmal verflucht schwer, tief zu atmen.

»Setzen Sie sich dort an meinen Schreibtisch, Capitaine Foreste. Nehmen Sie eine Zigarette?«

»Ich stehe vor meinem General!«

»Jetzt nicht mehr, der General schläft, der Mensch ist wach. Setzen Sie sich bitte, ich wünsche es. Erzählen Sie dem schlafenden General und dem wachen Menschen, was Sie bei allen Teufeln der Hölle unter Verständigung verstehen. Sie sollen mir keinen kosmopolitischen oder pazifistischen Vortrag halten, den wünscht auch der Mensch nicht in mir. Sie haben fünf Minuten Zeit, versuchen Sie, mir kurz zu erklären, mit welchen greifbaren Mitteln Sie eine Verständigung der beiden Völker glauben herbeiführen zu können.«

»Das vermag ich nicht, Herr General, es bedürfte langen Nachdenkens, es bedürfte der ernsthaften Arbeit und des guten Willens von Jahrzehnten.«

»Aber Sie müssen doch eine Vorstellung davon haben.«

Marcel Foreste saß am Schreibtisch, er lehnte den Kopf gegen den aufgestützten Arm, er dachte darüber nach und versuchte, seine nebelhaften Ideen zu beschwören. Er sprach die Gedanken aus, die ihm einfielen, nicht geordnet und systematisch aufgebaut, nicht wissenschaftlich und historisch erhärtet, aber immerhin Gedanken, die ihn beschäftigt hatten in manchen Nächten und immer dann, wenn er erkannte, wie der Haß den höheren Wert des Menschen zerstörte und der Machthunger den Adel des Aufrechten brandmarkte.

»Ich selber habe wohl eine Vorstellung dessen, was ich unter Verständigung meine, nur weiß ich nicht, ob die Kraft meiner Formulierung ausreicht, sie Menschen mit vererbten Vorurteilen begreiflich zu machen; denn ihre Merkmale sind in allem das Gegenteil dessen, 524 was bisher zwischen diesen beiden Völkern geschehen ist. Die Verständigung liegt nicht im Fordern, sondern im Verzichten. Sie liegt nicht im Ehrgeiz, sondern in der Demut. Nicht in politischen Zeitströmungen, aber im Zeitlosen des Herzschlages. Sie liegt im Begräbnis des Hasses und in der Auferstehung der Liebe. Solange der falsche Haß nicht tot ist, kann die echte Liebe nicht leben. Sie wächst nicht aus den Konferenzen, sondern aus dem Volke selbst. Sie liegt in der wahren Erkenntnis der Grenzen, der völkischen sowohl als auch der geistigen. Die Verständigung liegt in der freimütigen Anerkennung der nationalen Vorzüge und Eigentümlichkeiten, je verschiedener und abgegrenzter sie sind, um so besser, denn gerade die Intensität verschiedener Pole bedingt ihre Anziehungskraft. Die Politik schafft Verständigung auf Sicht, aber der Wettkampf der Herzen und Geister vermag eine Ewigkeit zu bauen. Sie liegt auch in der Forderung, daß Volkstum und Staat nicht verschiedene Wege gehen. Man muß dem Gegensatz französisch–deutsch die tragische Geste nehmen, auf daß er nicht mehr zum Schicksal beider Völker werde; denn es ist ungeheuerlich, wenn die festgewurzelte Konstruktion eines jahrhundertealten Gegensatzes, den keine Vernunft zu analysieren vermag, zum Völkerschicksal freventlich hinaufwächst. Verständigung heißt nicht ausruhen, nicht einschlafen und alle Schranken niederreißen. Im bedeutsamen Wettkampf und Spiel der Kräfte sollen die Nationen einander schätzen, ohne aufeinander neidisch zu werden. Sie sollen mehr Menschen und weniger Kaufleute sein. Eine Verständigung verlangt eine Umstellung aller Gedanken, sie verlangt die Abrüstung der toten Idee und die Aufrüstung des lebendigen Herzens. Nur über den Bankerott einer verderblichen Politik hinweg kann der Traum einer Völkerverständigung Wirklichkeit werden. Wenn ich ein Philosoph oder Historiker wäre, könnte ich vielleicht über jeden Gedanken, den ich aussprach, eine seitenlange Abhandlung schreiben, die Argumente würden Bände füllen. Ich bin aber nur ein Mensch und ein Soldat, der sein Vaterland glühend liebt und der dennoch Ehrfurcht hat vor allen Geschöpfen, die mit mir und neben mir leben.

Aber ich verirre mich in die unsoldatischen Bezirke des Gefühls; es gibt Dinge, die man nicht aussprechen kann, weil sie zu groß sind, als daß die Kraft der Sprache sie zu bannen vermöchte. Auf die Lippen gebracht, verlieren sie schon ihren göttlichen Schmelz. Raum, Rätsel, Welt, Gott – – groß ist, was unaussprechlich ist.«

Marcel Foreste erhob sich vom Stuhl, er war fern in diesem 525 Augenblick, den General, der vor ihm in dem schweren Ledersessel saß, sah er wie durch einen Schleier.

»Mein Freund«, sprach dieser General hinter dem Schleier hervor, nicht ohne leisen Spott in der Stimme, »das klingt ganz wie deutsche Romantik, Sie leben in einer ganz anderen Welt, und in dieser Welt hat der Franzose heute keinen Lebensraum. Sie haben vergessen, warum Sie hier am Rhein sind, Sie haben auch diesen Strom vergessen.«

Der kleine General erhob sich, ein zynisch wollüstiger Zug kam in sein Gesicht.

»Capitaine Marcel Foreste, damit Sie diesen Rhein und seine Bedeutung für Frankreich nicht vergessen, werde ich veranlassen, daß Sie mehr in seiner Nähe sind. Ich werde Sie nach Germersheim versetzen lassen, es ist nicht gut, wenn Sie in den Wäldern sitzen. Berge und Wälder machen nachdenklich und schwermütig, am Rhein wird Ihnen wohler zumute sein. Sie kommen, und das soll Ihre Strafe sein, an den Rhein, aber nicht als Träumer, sondern als Wächter.«

»Meine Strafe?!« Marcel Foreste machte einige Schritte, was für eine Strafe denn, er trat auf den General zu.

»Sie haben einem deutschen Gefangenen zur Freiheit verholfen, und einen meiner Gendarmen zu Boden geschlagen.«

»Ich wollte Frankreichs Ansehen retten!«

Der General kniff die Augen zusammen.

»Ist da am Ende noch ein anderer Grund gewesen?«

Marcel Foreste schwieg. Er schloß die Augen und sah die Frau in der elenden Dachkammer, deutlich stand sie vor seinem inneren Gesicht und schaute ihn an.

»Sie schweigen. Auf Ihre Offiziersehre, Marcel Foreste, antworten Sie: War noch ein anderer Grund?«

»Der Deutsche ist mein Freund.«

»Ihr Freund? Klingt das nicht eine Kleinigkeit überspannt?«

»Mein einziger, Herr General. Ich verdanke ihm außerdem, daß ich noch lebe, und daß ich für Frankreich gegen ihn kämpfen durfte. Er hat mir vor Jahren einmal das Leben gerettet.«

»Ich will nicht fragen, wie das zugegangen ist, aber auch dieser Umstand gab Ihnen nicht das Recht, im strafbaren Sinn zu handeln.«

»Ich war mir keiner strafbaren Handlung bewußt.«

»Sie haben einen Gefangenen – –«

526 »Auf ordnungsmäßigem Weg über den Kreisdelegierten.«

»Sie haben einen Gendarmen – –«

»Nicht den Gendarmen, sondern den unwürdigen Vertreter meiner Nation.«

»Sie können gehen, Capitaine Marcel Foreste, ich liebe keine Spitzfindigkeiten, danken Sie Gott, daß ich milde gestimmt bin.«

Der Capitaine nahm eine militärische Haltung an und wollte das Zimmer verlassen.

»Einen Augenblick, ich habe noch eine Frage. Angenommen, der Deutsche wäre nicht Ihr sogenannter bester Freund gewesen; angenommen auch, Sie hätten ihm nichts zu verdanken: hätten Sie in diesem Falle anders gehandelt?«

»Nein, Herr General!«

Der General wurde eisig, er preßte die Lippen zusammen, sein Blick traf hart und gefährlich den Untergebenen.

Dann brüllte er, mit den Füßen stampfend, hinaus: »Ich habe meine Pflicht zu erfüllen, Capitaine Foreste, sind Sie gekommen, mich wankelmütig zu machen? Wenn Sie die Geschichte Frankreichs so gut kennen wollen, dann sollten Sie wissen, daß man einen General Ronville zur Zeit des vierzehnten Ludwig in die Bastille geworfen hat, weil er die Pfälzer schonen wollte. Ich warne Sie, im Wiederholungsfalle müßte ich Sie wegen Gefährdung der Sicherheit und des Ansehens der Besatzungsarmee vor ein Kriegsgericht stellen. Sie sind verabschiedet.«

Der Capitaine ging. Im Vorzimmer stand ein Mann in der Uniform der französischen Forstbeamten. Der Mann war der Delegierte des französischen Forstausschusses, der Oberkommissar für die beschlagnahmten pfälzischen Staatsforsten, monsieur Martin. Er wurde noch einmal vorstellig wegen der anberaumten Versteigerung von 50 000 Festmeter Nutzholz aus den pfälzischen Wäldern. An dieser Versteigerung nahmen auch pfälzische Sägewerke teil. Monsieur Martin wollte dem Gouverneur den neuen Plan betreffs Ausbeutung der pfälzischen Staatswaldungen unterbreiten, nämlich den Verkauf größerer Mengen stehenden Holzes im Umfang von etwa 450 000 Festmeter, alles hochwertige Hölzer erster Bodenklasse, darunter etwa 87 000 Festmeter Eichen, 275 000 Festmeter Kiefern, 63 000 Festmeter Buchen und 14 000 Festmeter sonstige Holzarten.

Monsieur Martin stand herrschsüchtig da, als der Capitaine an ihm vorüberschritt, ihn plagten keine schwarzen Gedanken, er war ein 527 Vertreter des siegreichen Frankreichs am Rhein, sein Amt war, einen Wald Vogelfrei zu Kapital zu machen.

Es war der 25. September 1923.

Am 24. September bereits war die Aufgabe des passiven Widerstandes in Berlin beschlossen worden, offiziell bekanntgegeben wurde diese Niederlage eines ohnmächtigen und zuschanden getretenen Volkes erst am 28. September. Es stand aber rechtlich und gesetzlich nichts mehr im Wege, daß deutsche Sägewerkbesitzer sich an der Holzversteigerung beteiligten. Zu gleicher Zeit saßen viele hundert Forstbeamte hinter Kerkermauern. Sie waren in schmutzige Höhlen gestopft, krank und elend und verkommen durch die Barbarei ihrer Bedrücker. Der Ekel fraß sich bis ins Blut hinein, sie waren nichts mehr als das Heer der namenlosen Dulder. Aus ihren Qualen, aus ihrem Schmutz und aus ihrem stillen Heldentum wuchs eine sonderbare Flamme. Diese Flamme war noch unsichtbar, verborgen und wundersam verkappt, wer aber Augen hatte, der sah sie voll unbeschreiblicher Feierlichkeit zum Himmel lodern.

In einer engen Kellerzelle in Landau saß der Forstmeister Christoph Aust. Er versuchte, das Blut zu stillen, das ihm übers Gesicht lief. Ein Marokkaner hatte ihm den Schlüsselbund ins Gesicht geschlagen, als er sich über den Schmutz im Eßnapf beschwert hatte. Christoph Aust, der Mann mit dem Blut der Haingeraidemenschen, trat vor das brettervernagelte Fenster und starrte in den dünnen Lichtpfeil, der durch einen Spalt in seine Höhle hereinschnellte. Es war das Licht einer Straßenlaterne. Er hörte auch Schritte auf dem Pflaster, Autos fuhren vorüber. Hinter ihm lagen Menschen auf Pritschen und versuchten zu schlafen. Ein fürchterlicher Gestank lag giftgeschwollen im Raum. Die Ruhr hockte wie ein Gespenst in finsteren Winkeln, manchmal liefen Ratten aus Löchern.

Nicht weit von hier las im großen Saal eines bekannten Hotels ein junger Franzose aus den Werken des großen französischen Dichters und Denkers Maurice Barrès, jenes eitel Ruhmsüchtigen, der das linke Rheinufer durch die Magie seines Geistes für Frankreich gewinnen wollte. Sein großer Tag konnte nicht mehr weit sein.

Er wußte nichts von den kleinen Handbewegungen Gottes, von denen der Capitaine Marcel Foreste gesprochen hatte.

Manchmal, wenn Christoph Aust in der Höhle schlief, sah er seine Wälder.

Er ging sinnend und staunend zwischen den uralten Stämmen dahin. 528

 


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