Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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Am Tage vor dem geplanten Rheinübergang des russischen Korps Sacken, am 31. Dezember 1813, sollten überraschend und unter dem Schutz des dichten Nebels einige Regimenter des Kosakenkorps Karpow in der Nähe von Germersheim über den Rhein gehen, um auf vorgeschobene Abteilungen der abziehenden Armee Marmont zu stoßen und die Rheinübergänge Sackens und Langerons zu sichern.

Am Spätnachmittag dieses Tages kamen auf der badischen Seite drei Berittene rheinaufwärts. Voraus ritten der Husarenoberleutnant Bastian Berghaus vom Streifkorps des Prinzen Biron von Kurland und der Wachtmeister Peter Seffrin von den Garde-Volontärkosaken. Beide waren als Ortskundige vorübergehend dem Kosakenregiment Sementschenko attachiert. Ihnen folgte der russische Leutnant von Litinow vom gleichen Regiment. Er war als Sprachkundiger der Streife zugeteilt. Alle drei trugen Pelzmützen, Berghaus eine Tatarenpelzmütze mit Totenkopf, graue Russenmäntel und lange Überknöpfhosen aus russischem Tuch. An den Sätteln hingen bepackte Dachsranzen.

Sie sollten eine für den Übergang geeignete Stelle finden und das Gelände im Umkreis erkunden, eine schwere Aufgabe, denn der Rhein führte Eis.

Undurchdringlicher Nebel lagerte über dem Strom, über Altwässern und Niederung. Das Poltern der Eisschollen drang aus der grauen Nebelflut.

Oberleutnant Berghaus kannte den russischen Kameraden erst wenige Tage, sie waren einander fremd, Peter Seffrin aber war hier zu Hause, er stammte aus dem Dorfe Sandheim am Rhein, wo sein Vater Schulmeister war, wo auch seine Frau lebte, die Tochter vom Fischer Ringeis, wo seine Schwester lebte und sein unseliger Bruder, der es mit den Jakobinern hatte. Keine halbe Stunde von hier entfernt war seine Heimat, er kam aus Rußland und war mit den Kosaken hinter dem Napoleon her. Aber eine Stunde Zeit würde man schon finden, um zu Hause Umschau zu halten nach so vielen Jahren.

32 Die Reiter sprachen wenig, alle drei hatten die Gewißheit, daß eine große Aufgabe zu erfüllen war.

»Kamerad, Ihr kennt den Strom?« fragte der Russe.

»Ja, wir kennen ihn genau.«

»Wo sind wir, es ist wie im Nichts.«

Die Deutschen zügelten ihre Pferde, von Litinow kam an ihre Seite. Nebel dampfte über sie hinweg, sie standen auf einem alten Damm, nicht weit von hier war wegen der Überschwemmungsgefahren ein Durchstich gemacht worden. Die Pferde drängten zueinander, weiß strömte es aus ihren Nüstern.

Und ganz verhalten, kaum vernehmbar, sprach der Kosak: »Ich glaube, wir reiten in den Tod.«

Berghaus schaute ihn an, er sah das slawische Gesicht grau vor sich und von Nebeln verhängt.

»Man muß wissen, warum man reitet«, antwortete er.

Der Kosak erwiderte: »Für eine große Sache muß man reiten, dann ist der Tod nichts mehr. Wir reiten für Rußland.«

»Und für Deutschland.«

»Deutschland, ja, aber wo ist Deutschland?!«

»Hier ist Deutschland, Kamerad, und überm Rhein ist Deutschland, und das Land, durch das wir Wochen lang geritten sind, das alles ist Deutschland. Und hier drinnen ist Deutschland, hier!« Er schlug sich auf die Brust.

»Es muß sein, wie Ihr sagt, Kamerad.«

Sie ritten weiter. Manchmal wurden riesige Schatten sichtbar, die sich bedrohlich in den Himmel schoben. Das waren Pappeln, kahl und stumm und hager aufragend, Napoleons Lieblingsbäume, auch an seinen Heerstraßen gepflanzt, am Rhein aber schon seit Jahrtausenden beheimatet. Hier standen auch, niedriger sich in den Nebel drückend, Kolonien alter Kopfweiden, Erlen und Sumpfeichen und ganz unten krochen die braundürren Schilfwälder über die gefrorenen Altwässer. Es rauchte grau über ihren Schlaf hinweg.

Peter Seffrin streckte den Arm aus. »Dort liegt Germersheim, dort Sandheim, weiter aufwärts kommen wir nach den Leimersheimer Altwässern.«

Sie hielten wieder an. Berghaus zog eine Karte aus der Satteltasche und faltete sie auseinander. Es war eine von Napoleons Cassinikarten, wertvoll und begehrt wegen ihrer Genauigkeit. Östlicher Teil und Rheingrenze des Département du Mont-Tonnèrre.

33 »Woher wißt Ihr das alles so gut?«

Berghaus schaute den Russen eine Weile an, fast zögerte er, ohne zu wissen warum, mit der Antwort, dann sprach er still und mit merkwürdig bedrücktem Klang in der Stimme: »Weil wir hier daheim sind.«

»Oo!« entfuhr es dem Russen, »das ist gut, das ist ein glücklicher Stern.«

»So Gott will, ja.«

Sie ritten weiter, es mochte gegen fünf Uhr abends sein, die Nacht schmolz in den Nebel hinein, da sprach der Husarenoffizier: »Peter Seffrin, hier müßte die Fähre sein.«

Der deutsche Kosakenwachtmeister schaute seinen Oberleutnant besorgt an.

»Ja, hier müßte die Fähre sein. Aber ich fürchte, sie ist nicht mehr da.«

»Ihr kennt genau die Stelle?«

»Ganz genau, Herr Oberleutnant. Hier ist die zweite Dammkrümmung; und die Pappel dort kenne ich gut, sie stand schon, da war ich noch ein Kind. Wir haben schwachen Eisgang, Herr Oberleutnant, die Fähre ist eingebracht.«

Sie schauten sich kurz in die Augen.

»Wir müssen über den Rhein, Peter Seffrin.«

»Ein Boot ist nirgends zu finden, Herr Oberleutnant, oder wir müssen ins nächste Dorf. Aber wo hier ein Mensch ist, kann er ein Verräter sein. Ich will mit meinem Pferd über den Rhein schwimmen, hier ist die Stelle günstig wegen der Kiesbänke.«

»Es ist hart, Peter Seffrin.«

»Ich warte auf Euren Befehl, Herr Oberleutnant.«

Berghaus beriet sich kurz mit dem Kosakenoffizier und gab dann seine Ordre.

»Ihr durchschwimmt den Rhein und pirscht Euch durch den Auwald zum Hause Eures Schwiegervaters, des Fischers Ringeis, heran. Dort holt Ihr Informationen und kommt mit einem großen Boot zurück, auf dem wir dann alle drei übersetzen. Die Pferde müssen durch den Strom. Wir warten hier auf Eure Rückkehr, wenn Ihr in einer Stunde nicht zurück seid, kommen wir schwimmend hinüber.«

Berghaus gab seinem Wachtmeister die Hand. Peter Seffrin verließ den Damm und ritt langsam zwischen dem Weidengebüsch auf das nebelumhüllte Gewässer zu. Eine Weile noch schwebte er wie ein 34 ungeheurer Schatten aus der grauen Wand, dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Die Offiziere saßen ab und lauschten in die Stille hinein. Es war nichts zu hören, nur das treibende Eis grollte.

Einmal schrie ein Vogel.

Dann fiel ein Schuß.

»Habt Ihr gehört?«

»Ja.«

»Kein gutes Zeichen.«

»Wir müssen warten.«

Als die Stunde um war, voll Bangnis und voll Erwartung, brachen sie auf. Kein Wort sprachen sie, langsam und vorsichtig stiegen sie die Böschung hinab und zogen die Pferde hinter sich her.

Der Husar stand am Strom, der mit einem Male grau lebendig, ein unheimlich bewegtes Band, zu ihm heraufglänzte. Er senkte den Kopf und schien ganz in sich versunken, als hinge er trüben Gedanken nach.

Plötzlich hob er den Arm und deutete in den flutenden Silberglanz.

»Wißt Ihr, was das ist, Kamerad, was hier glänzt und rauscht und in der Nacht vorüberwandert?«

»Das ist der Rhein.«

»Ich sage Euch, was Ihr hier seht, das ist Deutschlands Schicksal.«

»Immer wieder Deutschland?! Preußen, Sachsen, Baden, wo ist Deutschland zu Hause?«

»Ja, wo ist Deutschland zu Hause?«

Er stieg in den Sattel, Nebel umflutete Roß und Reiter, Rauhreif hing an den Nüstern.

Der Russe folgte, eng drängten sich die Pferdeleiber zusammen, Furcht brach aus den großen Augen, und plötzlich stieß das Pferd des Russen einen wiehernden Ruf aus.

Ein Schrei preßte sich wild aus des Tieres Brust. Der Schrei lief über das Wasser hin, durchbrach den Nebel, die Kälte und die einsame Nacht.

Der Schrei war ohne Fesseln, er überbrückte die irdischen Grenzen, er schlug bis an das Tor des großen Schöpfungsrätsels.

Da gab, kurz bevor sie sich anschickten, mit dem Tod auf Bruderschaft zu trinken, der Russe dem Deutschen die Hand.

»Wir wollen gute Kameraden sein immer und immer.«

»Was auch sich ereignen möge.«

35 »Wie Bruder zu Bruder, und Blut zu Blut.«

»Blut zu Blut.«

»Und wenn ich sterbe, ich sterbe für Rußland.«

»Wenn ich sterbe, sterbe ich für Deutschland!«

»Guter Kamerad in Not und Tod.«

»Und immer treu!«

»Immertreu!«

»Amen.«

Sie trieben, ungeheuerliches Geschehen, die zitternden Pferde in den Strom, die Kälte des verendenden Jahres blies sie an, es stieg aus dem Wasser wie Nadel und Dolch, die Pferde schwammen, schon kämpften sie in der Strömung, Luft preßte sich aus den gequälten Lungen, der Strom war ohne Mitleid, mit ungeheurer Kraft stieß er gegen die Leiber der Tiere.

Eisige Hände griffen aus der Tiefe, wieder rief eine Kreatur aus der unverstandenen Qual heraus, der Russe trieb in dem Eisgeschiebe, schon hatten sie die Mitte des Stromes erreicht, sie sahen einander mit dem Element ringen, versinkend im Dampf und Qualm des Nebels, nur noch Schatten in den Netzmaschen des Todes.

Schon steuerten sie dem pfälzischen Ufer zu, lichtlos schwarz stießen Baumgruppen durch die milchige Wand, der Kosakenoffizier holte wieder auf, nun schwammen beide Pferde fast Seite an Seite, das letzte Viertel war noch zu nehmen.

Da brüllte ein Schuß aus der Öde der winterlichen Nebelnacht.

Im gleichen Augenblick fühlte der Leutnant von Litinow, wie sein Pferd, grauenhaft zusammenzuckend, unter ihm versank. Noch gelang es ihm, aus den Bügeln zu kommen, dann trieb er im Strom.

»Zu Ende –« rief er, »Rußland – – Rußland!«

Er fühlte noch, wie die Kälte des Wassers ihm das Herz verkrampfte, treibende Eisschollen kreisten ihn knisternd ein.

›Wie Bruder und Bruder, Blut und Blut!‹ dachte blitzschnell der Husar, glitt vom Rücken des Pferdes und schwamm dem Kameraden zu Hilfe. Nacht und Nebel hatten ihn verschluckt, Oberleutnant Berghaus, dem der Frost mit zäher Kraft ans Leben griff, suchte die tote, graue, strömende Fläche ab, schon glaubte er selber zu versinken, da stieß ein Arm wie aus einem Grabe heraus, Berghaus griff zu, der Körper des Russen tauchte auf, ein Kopf mit schreckhaft geöffnetem Mund und geweiteten Augen kam hoch, Gott wollte es, daß die Glieder starr und schlaff waren, so gelang es Berghaus, den Russen ans 36 Ufer zu bringen. Als er ihn mit dem letzten kläglichen Rest von Kraft den Damm hinauftrug, fiel ein zweiter Schuß.

Oberleutnant Berghaus fühlte einen schwachen Schlag am Oberarm, es wurde plötzlich warm an dieser Stelle, und dann beobachtete er deutlich, wie er mit seiner Last umsank, er wollte sich noch wehren, aber er sank wie in eine Höhle hinein. Noch einmal raffte er sich auf, eisig verkrampft und von einem fürchterlichen Zittern befallen, noch einmal stand er frei und steil in der Flut des Nebels. In diesem Aufbäumen, in diesem Kampf der Kräfte sah er eine Gestalt auf sich zukommen, eine Frau im wehenden Kleid, deutlich erkannte er, daß sie ein rotes Kopftuch trug, dieses Rot schien ihm die einzige Farbe in der grauen Öde.

»Frau, habt Ihr geschossen?« Seine Stimme hatte allen Klang verloren.

»Bei Gott nicht, Herr! Sagt mir, ob Ihr von den Russen kommt?«

»Wer seid Ihr?«

»Barbara Seffrin. Mein Mann ist bei den Kosaken, wißt Ihr etwas von – –?«

»Seffrin, richtig – – Seffrin!«

»Ihr blutet, Herr.«

»Schaut – – nach meinem – – Pferd!«

Er wollte sich niederbeugen zu dem Russen, da schlug es wie schwarze Tücher über ihm zusammen.

»Frau«, lallte er, »tut, was – – Eure Pflicht ist, mehr kann hier nicht mehr getan werden.«

Im Fallen fing sie ihn auf und ließ ihn sanft zur Erde gleiten.

Wenige Sekunden nur schaute sie ihn an, Nässe lief aus seinen Kleidern, unter dem Mantel sah sie den schwarzen Husarenrock mit der gelben Verschnürung und den roten Aufschlägen. Die Pelzmütze hatte weißen Behang.

Der Kosakenoffizier regte sich, er richtete sich auf und sah die Frau.

Was er sprach, verstand sie nicht, denn es war eine fremde Sprache. Er streckte die Hand nach ihr aus, sein Gesicht war schwarz von Frost und Starre.

Sie lief davon, um Hilfe zu holen.

»Der Rhein!« sprach er feierlich und dann sah er das Pferd des Deutschen im Nebel auftauchen. – –

Als der Oberleutnant Berghaus die Augen aufschlug, fand er sich 37 im Bett liegend in einem kleinen Zimmer mit dürftigen Einrichtungsgegenständen.

Ein Wachslicht brannte, beim trüben Schein erkannte er einen Schrank, eine Truhe, einen Tisch und zwei Holzstühle. Auf einem der Stühle lagen seine Uniformstücke, an der Tür hingen sein Mantel und der Degen. Auf dem Tisch lagen zwei Reiterpistolen.

Das alles sah Oberleutnant Berghaus mit eindringlicher Schärfe.

Er besann sich grüblerisch und voll Anstrengung, was sich denn ereignet hätte, da fühlte er, daß sein linker Arm bandagiert war.

Er richtete sich hoch im Bett. Welch eine fremde und rätselhafte Umgebung, ein Traum vielleicht. Oder das elende Nervenfieber, an dem Tausende schon zugrunde gegangen waren.

Durst, Durst, war kein Wasser da? Doch, vorm Bett auf einem niederen Holzmöbel stand ein Krug mit Wasser. Er trank voll Gier und mit einem dankbaren Wohlbehagen. Er fror nicht mehr, nein, die Kälte war ganz von ihm gewichen, kein Frost mehr, kein Eis, kein grauer Tod. Mit einem Male wurden Vorhänge fortgezogen, die Erinnerung stieg wie aus einer Gruft, er wußte alles, was sich ereignet hatte.

Teufel, was für Geräusche waren das?!

Er lauschte auf dumpfes, rhythmisches Trampeln und Schlagen und Rauschen.

Was für Geräusche? Wie von Pferdehufen!

Wo war sein Pferd?

Wo war der Kosakenleutnant Litinow vom Regiment Sementschenko?

Ertrunken im Rhein?! Nein, er hatte ihn gerettet, natürlich, er hatte ihn doch ans Ufer gebracht, auf den Damm hinaufgetragen, und dann – –

Höllensatan, was für ein Getrappel?

Wie von Pferdehufen!

Richtig, jemand hatte geschossen, aus dem Hinterhalt, aus Nebel und Pflanzenwildnis heraus.

O Heimat, du zerrissene, geschundene Heimat, du Wirrsal von Gut und Böse, du Land ohne Geborgenheit, schwimmend im Blut und in der Schande seit Jahrhunderten.

Richtig, jemand hatte geschossen. Wer denn, ein Deutscher, ein Spanier, ein Wallone, ein Zigeuner, ein Mischling aus Schmach und Gesinnungslumperei, ein Phantast, ha ha ha – – vielleicht einer vom 38 kommenden burgundischen Reich, oder ein Speckreiter von der Hackmesserseite?!

Verrucht und verflucht, immer stärker wurde das Trappeln und Rumoren und Stampfen. Wie von Pferdehufen! War nicht eine junge Frau auf dem Rheindamm gewesen? Eine Frau mit einem roten Kopftuch, mit schwarzen Haaren und einem dunklen Menschenblick?!

Das Geräusch hörte nicht auf, es wurde stärker und stärker, es schwoll an und klang, als ob Steine durcheinanderrollten.

Nein, es war wie von Pferdehufen!

Husarenoberleutnant Bastian Berghaus von den schwarzen schlesischen Nationalhusaren, jetzt beim Streifkorps des Prinzen Biron von Kurland, sah das flackernde Licht, er sah das kleine Fenster, er sah seinen dunkelgrünen russischen Mantel an der Tür hängen.

Langsam, wie einem Ruf folgend, verließ er das Bett, warf mit der Rechten den Mantel um seine Schultern, löschte das Wachslicht und trat ans Fenster.

Ein grauer Nebelmorgen leuchtete gespenstisch durch die Scheiben.

Er schaute in das milchige Grau und erschrak.

Er stand mit weiten Augen, nicht achtend der Kälte, die bösartig im Raum lag und an ihm hochkroch. Seine Blicke waren auf das bewegte Schauspiel gebannt, das unten vorüberrollte.

Soldaten, Soldaten!

Kosaken! Kosaken!

In Kolonnen und Trupps ritten sie unten vorbei, auf unruhigen Pferden drängten sie vorwärts. Er kannte sie, an den Mänteln, an den Tuchpantalons, an Tschakos und Pelzmützen, an den farbigen Federn und am Haarstutz.

Das Regiment Sementschenko.

Und jetzt Offiziere und Mannschaften vom Regiment Grekow und ukrainische Kosaken mit langen Lanzen mit gelbrotem Wimpel.

Sie trugen teils enge weiße Überknöpfhosen, teils weite blaue Kosakenpantalons mit roten Streifen, hohe Reiterstiefel und weißes Lederzeug. Die Pelzmützen hatten roten Aufschlag und blauen Kalpak.

Berghaus stand unbeweglich und wie von einer Erstarrung befallen.

Kein Zweifel, das Kosakenkorps Karpow II setzte im Schutze des Nebels über den Rhein.

39 Leutnant von Litinow und Oberleutnant Berghaus hatten ihren Auftrag erfüllt.

Wo aber war der Leutnant von Litinow?

Guter Kamerad in Not und Tod. Wie Bruder zu Bruder, wie Blut zu Blut.

Das Kosakenkorps Karpow.

Berghaus griff sich an die Brust. Die Russen waren in seiner Heimat. Nicht weit von hier lebten seine junge Frau, sein Vater und viele andere, die ihm teuer waren. Gott mochte wissen, ob sie noch alle am Leben waren!

Kosaken, grau im Nebel, umhüllt von Kälte und Frost, Pferde, voll Unruhe und dumpfer Bangnis, alles grau im Nebel, im angstvollen Morgen, Kolonnen, Stampfen, endloser Zug, eine Schlange, Soldaten, Soldaten!

Troß und Bagagewagen, aus Rohrgeflecht mit Zeltstoff rund überzogen und mit Troikabespannung.

Kalmücken-Regiment. Oberst Kutainikow.

Es waren auch einzelne Husarenoffiziere dabei, gelbe Husaren mit weißer Verschnürung, gelben Dolmans mit weißem Pelzbesatz und blaue Husaren mit gelber Verschnürung, roten Dolmans und schwarzem Pelzbesatz. Ihre Tschakos trugen hohe weiße Federn, die Fangschnüre glänzten gelb.

Oberleutnant Berghaus vergaß die Kälte, er konnte kein Auge wenden, denn immer mehr Russen quollen aus dem grauen Schlund der Rheinwälder, das Pferdewiehern bebte in der Luft, die Wagen rumpelten über den gefrorenen Fahrweg.

›Napoleon‹, dachte Oberleutnant Berghaus, ›was alles hat ein einzelnes Hirn ins Rollen gebracht, was hat ein einziger Mensch zwischen Genie und Wahn zu tragen und zu verantworten! Kann denn wirklich ein Einzelner, geboren aus Mutterleib, aufgewachsen nach natürlichen Gesetzen wie Millionen andere Menschen, kann er wirklich Völker in Bewegung setzen, kann ein solcher Menschentumult von ihm aufgerufen werden, kann er soviel Blut und Tod und Schrecknis auf sein Gewissen nehmen!‹

Kosaken, Kosaken.

Berghaus schloß die Augen, er suchte nach einer Brücke, um nicht mehr jenseits zu stehen, um zu den neuen Ereignissen zu gelangen, die den Schauplatz so phantastisch verändert hatten, seit er in Nacht und Nebel das Bewußtsein verloren hatte. Die Kälte ließ ihn 40 erschauern, er beschloß, sich anzukleiden, um sich beim Kommando zu melden.

Als er, halb taumelnd, ins Zimmer zurückging, wurde die Tür geöffnet.

Im Dämmerlicht des aufbrechenden Morgens stand ein Mann.

»Ihr steht hier in der Kälte, Herr Oberleutnant?!«

»Ich friere nicht.«

»Aber Ihr seid am Tod vorbeigegangen.«

»Nicht zum ersten und auch nicht zum letztenmal. Wer seid Ihr? Wo bin ich?«

»Im Haus eines Fischers am Rhein. Wir haben ein kleines Gasthaus dabei. Ich will Euch behilflich sein beim Ankleiden. Ihr solltet vorsichtig sein, das Wundfieber.« –

»Ta ta ta! Wie heißt Ihr?«

»Mathias Ringeis.«

»Ihr seid mir dunkel bekannt, doch erzählt, was geschehen ist, ich habe Eile.«

»Ihr werdet Euch gedulden müssen. Wir haben ein Feuer unten im Ofen, Ihr sollt Euch ankleiden und dann will ich Euch alles erzählen. Ich muß Euch schon einmal gesehen haben!«

Oberleutnant Berghaus ging wiederum ans Fenster und schaute in die fahle Morgendämmerung.

»Mathias Ringeis, Ihr wißt, was hier vor sich geht?!«

»Nicht viel zu begreifen, Herr Oberleutnant. Die Russen sind über den Rhein gekommen, Ihr selbst habt ihnen den Übergang gezeigt.«

»Wo ist der Kosakenoffizier von Litinow?«

»Im Dienst, Herr Oberleutnant. Er ist schon zweimal hier in diesem Zimmer gewesen.«

»Einen Herzschlag länger und er lebte nicht mehr.«

»Ich will Euch beim Ankleiden – –«

»Wo ist mein Pferd, Fischer Ringeis?«

»Euer Pferd steht wohlversorgt im Stall.«

»Danke. Und wo ist mein Wachtmeister Peter Seffrin?«

Der Fischer Mathias Ringeis fuhr zusammen und kam mit vorgebeugtem Kopf näher.

»Peter Seffrin?!«

»Ihr kennt ihn?«

»Er ist der Mann meiner Tochter.«

»Eurer Tochter, sagt Ihr?!«

41 »Meiner Tochter, ja; die Euch am Rhein gefunden hat.«

Berghaus fuhr sich über die Stirn, er zog den Mantel enger um die Schultern und dachte angestrengt nach.

»Ist Peter Seffrin heimgekommen, Herr Oberleutnant?«

»Ja,« sprach Berghaus zögernd, »ich glaube, er ist heimgekommen.«

Er wandte sich dem Fenster zu, sein Blick war verhängt von Trauer.

»Kommt mal her und schaut hinaus! Seht Ihr den breitschultrigen Russen auf dem Rappen? Dort, bei den Offizieren?«

»Ich sehe, Herr Oberleutnant.«

»Das ist der Kommandeur von acht Kosakenregimentern, der Generalmajor von Karpow.«

»Gott steh uns allen bei! Acht Kosakenregimenter!«

Berghaus trat vor den Fischer hin, schaute ihn scharf an und sprach: »Mann, habt Ihr Furcht?«

»Die Furcht habe ich verlernt und vergessen. Wer in diesem Land lebt, hat keine Furcht mehr.«

»Wißt Ihr, wer ich bin?«

»Mir ist, ich müßte Euch kennen. Gewiß seid Ihr einer vom preußischen ersten Korps.«

»Ich bin ein Pfälzer, hat Euch Litinow das nicht gesagt?«

»Ein Pfälzer?! Gebt mir Eure Hand! Wo habe ich dieses Gesicht gesehen?«

»Bastian Berghaus. Mein Schicksal ist Eures.«

Der Fischer taumelte zurück, sein Gesicht verklärte sich, er breitete die von Arbeit gekrümmten Arme.

»Bastian Berghaus, drüben von Deidesheim?! Oh, Gottes Wunder, Ihr kommt mit den Russen?!«

Plötzlich ließ er die Arme sinken, die Schatten des Zweifels liefen über seine faltige Stirn, er ging zum Tisch, zündete die Kerze an und leuchtete dem Offizier ins Gesicht.

»Bastian Berghaus?! Nicht möglich, Herr, treibt kein böses Spiel mit mir!«

»Warum ein böses Spiel?«

»Bastian Berghaus ist tot!«

»Tot?!«

»Bastian Berghaus, Oberleutnant bei den schlesischen Husaren ist tot! Das weiß ich, das weiß jeder hier, im Gäu und drüben an der Hardt.«

»Tot, sagt Ihr! Das wissen alle?!«

42 »Ja, auch die gnädige Frau weiß es, so wahr mir Gott helfe, ich lüge nicht! Er ist heimlich fort von hier, gegen Napoleon. Er war zuerst Husar bei der russischen Legion, dann ist er zum Freikorps Lützow und dann ist er als schlesischer Nationalhusar gefallen.«

»Als schlesischer Nationalhusar, sagt Ihr?«

»Ja, Herr Oberleutnant.«

»Kennt Ihr die Uniformierungen, Fischer Ringeis?«

»Das will ich wohl meinen.«

»Dann schaut Euch um in diesem Zimmer!«

Ringeis begriff zuerst nicht, dann aber sah er den schwarzen Waffenrock und den schwarzen Dolman mit den gelben Verschnürungen und roten Aufschlägen. Er sah auch den weißen Behang am Pelztschako, den Totenkopf und die neue schwarzweiße Kokarde.

»Welches Regiment, Fischer Ringeis, stellt Ihr fest?«

»Das – schlesische – Nationalhusarenregiment.«

»Nur zwei Schwadronen stark. Wir können keine überflüssigen Toten gebrauchen. Wer sagte Euch, daß ich tot sei?«

»Die Nachricht ist vom Kommissar Heinz gekommen, der bei der Unterpräfektur in Speyer gewesen ist.«

»Kommissar Heinz?! Ein dunkler Mitmensch. Er ist der Bruder meines Gutsverwalters.«

Wieder fuhr der Fischer erschrocken zurück, seine Brauen zogen sich zusammen, mit stechenden Augen forschte er im Gesicht des Offiziers, er konnte nicht begreifen, was hier geschah, daß ein Toter lebte.

»Ihr redet, Herr, als ob die Meldung von Eurem Tod –?!«

»Erfunden sei! Bastian Berghaus steht hier vor Euch! Die Toten schauen anders aus.«

Der Fischer wich in zitternder Scheu einen Schritt zurück. »Sie stehen auf in Nacht und Nebel.«

»Sagt rasch, wie es meinen Angehörigen in Deidesheim ergeht!«

»Gott helfe mir, gnädiger Herr – – ich weiß es nicht!«

»Gebt Antwort, Mann! Ich bin über Totenfelder geritten, ich habe die Kraft, vieles zu tragen, redet die Wahrheit!«

Der Fischer senkte den Kopf, graue Haarsträhnen fielen über Schläfen und Stirn.

»Herr Oberleutnant – – die gnädige Frau lebt, noch nicht lange, da bin ich in Deidesheim gewesen. Aber der gnädige Herr, – – Euer Vater – –!«

Bastian Berghaus war unheimlich gefaßt, er stand aufrecht, der

43 Kopf war nach hinten geworfen, er starrte nach der Decke und preßte den Mund zusammen.

Ein Gespensterheer von Bildern jagte an ihm vorüber.

Eine Weile schloß er die Augen und atmete tief.

»Ankleiden, Mathias Ringeis!«

Als sie das Zimmer verlassen wollten, kam der Kosakenoffizier von Litinow.

Der Fischer verschwand eilig durch die Tür.

Der Kosak eilte auf Berghaus zu und umarmte ihn.

»Kamerad«, sprach er und küßte ihn auf die Wangen.

»Es ist alles gut«, antwortete Berghaus.

»Nur ein Wimperschlag trennte mich vom Tod.«

»Aber Ihr lebt!«

»Das danke ich Euch.«

»Keine Worte.«

»Mein Leben für das Eure, Kamerad.«

Sie schauten sich an, das Antlitz frei und ohne Maske. Berghaus sah das runde, fast olivenfarbig getönte Antlitz mit den kreisenden Rädern der dunklen Augen. Das glatte schwarze Haar schimmerte stahlig, die etwas breite Nase beherrschte die Strenge und Anmut des Gesichtes. Von Litinow trug die grüne Uniform der Sementschenkokosaken mit roten Aufschlägen, weißer Schärpe und grünroter Säbeltasche. Er öffnete jetzt den hohen Kragen und zeigte Berghaus eine goldene Kette mit einem Amulett, das er unter dem Waffenrock trug. Es war eine große Münze aus mattem Gold, die Vorderseite trug in der Mitte das russische Georgskreuz und um dieses Kreuz stand im Kreis ein russischer Spruch. Von Litinow deutete auf den Spruch.

»Was hier steht heißt: Wider allen Tod und alle Teufel.«

Er schob das Amulett zurück und knöpfte den Kragen zu.

»Ich muß auf Streife. Wir wollen versuchen, mit unsern Reitern dem General Marmont in den Rücken zu kommen. Ihr bleibt vorläufig hier. Wir sehen uns bald.«

Wieder umarmte er den deutschen Husaren und wollte das Zimmer verlassen, da kam er noch einmal zurück und blieb hart vor Berghaus stehen.

»Das Amulett ist das Letzte, was mir die Heimat gelassen hat. Ich habe keine Eltern, ich habe keine Frau und kein Kind. Ich habe nur das große Rußland – – und Euch!«

Er ging, ohne sich noch einmal umzuwenden. 44

 


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