Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

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8

Der Nebel war abgezogen, das Land lag klar in der Wintersonne, übergossen von Schnee und Rauhreif, glanzvoll bis zu den Bergen hinüber, fast friedlich in seinem festlichen Licht und der umfassenden Bläue des Himmels.

Der Husarenoberleutnant Bastian Berghaus, den linken Arm in der Binde, ritt nach Hause. Er ritt mit dem letzten Sickingen an der Spitze einer Sotnie Kosaken, die in Sandheim geblieben war und nun Befehl hatte, auf der Linie Dürkheim–Neustadt mit dem vorrückenden Korps zusammenzutreffen.

Die große Armee, zusammengeschrumpft und durch Strapazen entnervt, war auf dem Rückzug nach der Saar, die Division Lagrange mit dem 1. Kavalleriekorps Doumerc hatte am 2. Januar die Hardtlinie geräumt und war durch die Senke bei Neustadt in Richtung Kaiserslautern retiriert. Die pfälzische Rheinebene, mit Ausnahme der Festung Landau, war vom Feinde frei, die Truppen der Verbündeten überschwemmten das Land.

Bastian Berghaus sah die Berge im Glanz des winterlichen Tages, schon ritt die kleine Schar durch das Dorf Meckenheim, dessen verängstigte Bewohner zum Teil vor den Russen geflohen waren, denen ein bösartiger Ruf vorausging, der von Franzosen und Französlingen genährt worden war.

Trotz der schärfsten Befehle und Strafandrohungen war es bei den Russen, namentlich bei den Kalmücken und kirgisischen Reitern zu Ausschreitungen und Gewalttätigkeiten gegen die Einwohner des Landes gekommen.

Auch die Kosaken, an deren Spitze jetzt Bastian Berghaus dem Gebirge entgegenritt, hatten in der zweiten Nacht wiederum versucht, zu plündern und zu schänden. Die Folge war, daß drei Kalmücken an Bäume gebunden und totgepeitscht wurden, eine grauenhafte Strafe, die als abschreckendes Beispiel zu wirken hatte.

So kam es auch, daß die dezimierte Hundertschaft – über ein Dutzend waren von der Seuche befallen worden – mit gesenkten Köpfen über die weiten Felder ritt, in die sich jetzt schon lange Zungen von Weinbergen einschoben, das kahle, niedere Astwerk gebeugt vom Frost, schlafend im Übermaß des Lichtes.

Es war ein abenteuerlicher Reiterzug, der über die Feldwege dahintrabte, fremdländisch und dennoch im Verborgenen etwas von 97 dieser Landschaft beschattet, über die im Laufe der Jahrtausende die ruhelosen Angehörigen vieler Völker dahingezogen waren.

Sickingen, ohne Mantel, mit den Flößerstiefeln, dem grünen Rock und der alten Mütze mehr einem Sendboten verborgener Wälder, als einem Soldaten gleichend, ritt schweigsam neben dem Husaren. Zur Seite, abseits vom geschlossenen Haufen, ritt Barbara Ringeis, im schwarzen Fischermantel und mit einer Fischermütze, deren Krempe heruntergeklappt war und das halbe Gesicht verdeckte. Ein Bündel mit den notwendigsten Habseligkeiten hing rückwärts am Sattel.

Sie ritt mit Bastian Berghaus nach Deidesheim, dort wollte sie helfen, auf dem väterlichen Gut wieder Ordnung zu schaffen und die Spuren blutender Jahre zu tilgen.

Der Husar war schweigsam, der Schattenzug seiner Gedanken wurde größer und größer, je näher er an die Berge herankam und je dichter das Meer der Rebstöcke ihn umgab.

Ein Toter ritt durch die Weinberge. Ein Toter war aus Massengräbern auferstanden und kehrte als Lebender zurück. Der Tod war großzügiger gewesen, als seine Schächer.

Der Husar mußte darüber nachsinnen. Eine Zeit also und ein Menschenregiment gebaren das räuberische Recht, mit dem Leben des einzelnen verräterisch zu spielen, nur um gemeinen Vorteil daraus zu ziehen. So sah es aus mit der gepriesenen französischen Freiheit, mit deren Winden noch so viele segelten, so daß der Bruder den Bruder, der Nachbar den Nachbarn verraten und verschachern durfte aus Eigennutz und niederen Instinkten.

Die Bosheit der Vielzuvielen verbarg sich teuflisch hinter einem heiligen Menschenbegriff. Die Niedrigkeit der Krämerseelen gewann gefährliche Rechte. Der Aufrechte lief Gefahr, zu vereinsamen. Die Freiheit wurde Karrengaul, sie mußte das Klappergefährt der Eitelkeiten, der Begierden und des Wuchers ziehen.

Eine fragwürdige Epoche ging zu Ende, ein Wind kam auf und wuchs zum Sturm. Die schlechte Luft zerstob im Odem reiner Gesinnung.

Über allen niedrigen Menschensüchten standen die Treue, das Opfer und die Bereitschaft für das Ganze.

Sein Verwalter Heinz war ein dunkler Zeitgenosse, das hatte er schon immer gewußt; ein Mann, dem der Wirbel von Westen den Charakter davongefegt hatte; ein Skrupelloser, der heute einer Sache anhing und morgen zum Verräter dieser Sache wurde. Ein Mann, 98 wie ihn der Präfekt Jeanbon, der Mainzer Schinkenandres sich gewünscht hatte, Spitzel und Angeber, Kriecher und Speichellecker, dabei feige und ohne Gewissen. War nicht sein Bruder, später in leitender Stellung bei der Unterpräfektur Speyer, war er nicht jener Lump gewesen und Volksrepräsentant, der Anno 1794 bei den wechselvollen Kämpfen zwischen Preußen und Franzmännern den Befehl gegeben hatte, Edesheim niederzubrennen, angeblich weil die Einwohner aus dem Hinterhalt auf die Franzosen geschossen hätten?

Er hatte wohl seine Rolle jetzt ausgespielt am Rhein, vielleicht war seine letzte Schandtat gewesen, eine amtliche Meldung über den Tod eines Husarenoffiziers zu verbreiten, in der Hoffnung, es werde dem Bruder Gutsverwalter in Deidesheim nunmehr nach dem Berufstod des alten Berghaus gelingen, den Besitz und die junge Frau an sich zu reißen. Und wenn der Husar, der Phantast, der törichte Deutsche dann wirklich noch einmal aus Rußland zurückkehrte, dann würde sich wohl unter dem Schutze von Paris ein Mittel finden, ihn als Hochverräter unauffällig zu beseitigen.

Es war anders gekommen, der Husar, der Phantast, der törichte Deutsche kehrte zurück, aber nicht, um gerichtet zu werden, sondern um zu richten.

»Was denkt Ihr, Husar?«

Er denke, daß es schändlich sei, in einer Zeit leben zu müssen, die dem Denunzianten ein williges Ohr leihe und den Charakterlumpen über den Aufrechten erhebe.

Ob er seinen Verwalter Heinz meine, den er gegen seinen Willen und gegen den Willen der Familie auf seinem Gut habe dulden müssen?

Ja, er denke an ihn und alle, die mit ihm auf gleicher Stufe stünden. Und an eine Machtherrschaft und fremdblütige Diktatur denke er, die bisher solche Verderbnis der Seele gezüchtet habe, während sie öffentlich das Wappenschild der Freiheit führe.

»Manchmal kommt ein großer Sturm auf«, sprach Sickingen und machte mit dem Arm eine weit ausholende Bewegung, »der fegt alles davon, was zu leicht ist und seiner brausenden Stärke nicht standhält. Wollt Ihr einen Schluck aus der Flasche?«

»Danke.«

»Mein Narrenschicksal hat mich auf den Schnaps gebracht. Hat mich je einer betrunken gesehen? Bin ich der Lumpengraf, wie sie mich nannten, nachdem sie mir alles gestohlen hatten? Ich will dem 99 Napoleon noch vor die mythische Stirn treten und ihm sagen, daß er ein Räuber ist an meinem Besitz, ein Gaukler und Seelenfänger, der sein Genie mißbraucht hat, weil es von seiner Ruhmsucht und von seiner menschlichen Begierde überwuchert wurde.«

»Es ist wohl so, daß der Mensch, weil allzumenschlich, an einer gewissen Größe des Geistes scheitert. Das Genie ist nicht von dieser Welt, der überragende Geist wird vom Körper gestürzt, der ganz seltene Mensch gräbt sich selber sein Grab.«

»Vielleicht ist dieser Korse nötig gewesen, um eine Wende der Geschichte heraufzubeschwören. Wir leben in dieser Wende, nur wissen wir es nicht. Es bedarf der Magie einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, um die Trägheit der Geschichte zu überwinden.«

»Es mag so sein, daß sich erst den Nachfahren das Übermaß einer Zeit offenbart. Uns selbst bewegt zu sehr das eigene Leben, die Herkunft und Heimat, das Wohl und Wehe der Eltern, der Kinder, der Freunde und all jener Menschen, die uns nahestehen. Seht mich an, Graf, ich bin voll Unrast, weil ich drüben die Häuser von Deidesheim sehe, den Kirchturm und dahinter die Berge und Wälder, die ein Stück meines Lebens ausmachen. Glaubt Ihr, es kommt einmal eine Zeit, daß dieses Land ruhig atmen kann durch ein Jahrhundert hindurch?«

»Wenn einmal alle gleichen Zungen eines Geistes sind!«

Sie ritten gegen Mittag in Deidesheim ein. Die Stadt schien ausgestorben, keine Menschenseele war in den Gassen zu sehen, das Hufgeklapper schallte dröhnend auf dem Pflaster, die fremden Gesellen schauten mit düsteren Mienen an den Häuserfronten hinaus, der kalte Hauch der Fremdheit blies fröstelnd über das wirre Dächermeer der Stadt.

Vor dem Rathaus fanden sie in wilder Unordnung die letzten Spuren der abgerückten Franzosen. Ein Gerümpel von Bagagestücken, schadhaften Wagen und Zeltmaterial, Schutt und Kehricht lagen verstreut und durcheinandergeworfen im Schnee, dazwischen sah man Uniformstücke, unbrauchbare Gewehre, Strohhaufen, Sattelzeug und Geschirrmaterial, verkohlte Reste eines Feuers und die Trümmer einer Feldküche.

Inmitten dieser Trostlosigkeit stand, das einzige lebende Wesen, ein gesatteltes Pferd mit müde hängendem Kopf, den toten Schauplatz fast verklärend durch die Melancholie seiner hoffnungslosen Geste.

Das Pferd hob nicht einmal den Kopf, als die Kosaken einrückten, es stand da wie ein Rest vom Leben, seine Verkommenheit und 100 Schändung durch Menschenhand war ungeheuerlich, es verhungerte und erfror im Stehen, schon war es auf dem trostvollen Weg, hinüberzuschlafen.

»Das Pferd in meine Stallung!« rief Berghaus und ließ absitzen.

Der letzte Sickingen griff das Pferd beim Zügel, es wandte ihm den Kopf zu, ein Blick voller Schwärze und verhängter Trauer traf ihn.

Barbara Ringeis streichelte den letzten Nachzügler, der es aufgegeben hatte, noch weiter um sein Leben zu kämpfen. Die beiden ritten die alte Stadtmauer entlang und hielten am Festungsgraben, dort, wo das Weingut Berghaus mit seinen stattlichen Gebäuden und Stallungen lag.

Der Husar, nach sechzehn Monaten in die Heimat zurückgekehrt, wandte sich ab vom Soldatenhaufen.

Er ritt auf den freien Platz, wo der steinerne Brunnen schweigsam und verschneit stand. Er schaute sich im Kreise um, seltsam angeweht von der Verlassenheit und vom Schlaf der Häuser und Gassen, erschüttert vom versteinerten Antlitz einer Menschensiedlung, die Anfang und Fortgang und Ende seines Lebens bedeutete. Sein Blick wurde umflort, als er hinübersah nach der Mauer, wo das eigene Haus schattenhaft hochwuchs und in ihm das Gefühl einer unbekannten Furcht weckte, er wußte selbst nicht, aus welchem Grunde; vielleicht aber, weil man ihn dort für tot hielt, während er nun hier im Sattel saß und selbst die trübe Vorstellung hatte, in einer toten Stadt zu weilen, ein Gestorbener zwischen gestorbenen Mauern und Häuserfronten.

Gewiß waren Menschen hier, aber sie hielten sich verborgen, sie hatten kein Vertrauen zum Soldatentuch, es war seit Jahrhunderten immer schief gegangen, wenn Heerhaufen eingerückt waren. Nein, bei Gott, nichts Gutes war zu erwarten von Soldaten und Söldnern.

Gewiß waren Menschen in der Stadt, aber sie hatten sich verkrochen, in Keller und Speicher und geheime Kammern. Vielleicht auch spähten sie, von Angst zitternd befallen, hinter Läden und Dachluken, aus Ritzen und Winkeln hervor, sahen die fremden Soldaten mit weiten Hosen und Lammfellmützen; sahen fremde Reiter auf unruhigen Pferden und wußten nicht, was von ihnen zu erwarten wäre.

Vielleicht auch sahen sie einen einzelnen hier auf dem freien Platz stehen, einen Husaren, merkwürdig nachdenklich und mit traurigen Augen, ein wenig müde und in dieser Stunde alles andere als ein Reiteroffizier. Ja, vielleicht sahen sie ihn im Sattel sitzen und 101 erkannten ihn nicht, wußten nicht, daß er Freund war und Bastian Berghaus hieß, wohnend in dieser geliebten Stadt mit all ihren Erinnerungen und Köstlichkeiten. Sie wußten nicht, daß er in diesem Augenblick, da er sich anschickte, die wenigen Schritte bis nach Hause zu gehen, zitterte und bebte, wie immer ein Mensch in Unruhe kommt, wenn er unmittelbar vor einem großen Augenblick steht.

»Juliane«, sprach er leise vor sich hin, »wie ein Gewicht lastet auf mir die Freude, daß ich dich bald in die Arme schließen werde; du, um die ich mich all die Tage und Nächte gebangt habe; du, die ich wie ein Heiligtum gehütet habe vor allen Schändlichkeiten einer verpesteten Zeit.

Du, die rein und makellos bleiben muß; denn aus deinen Nachkommen sollen Menschen entstehen, Steinen vergleichbar zum Bau des großen Hauses, das wir Deutschland nennen. Mächtig anwachsen muß die Legion derer, die frei sind vom zwiespältigen Geist und die nicht mehr wie gesprungene Glocken schwingen zwischen Ost und West. Ein Jahrhundert ist nicht mehr denn ein Wimperschlag, gilt es die Geburt eines Volkes, das hinter dem Gestrüpp einer politischen Zerrissenheit schon verborgen atmet und die Augen nach dem neuen Gestirn der Freiheit wendet.«

Der Husar Bastian Berghaus, der zuerst beabsichtigt hatte, hoch zu Pferd auf den Gutshof zu reiten, wurde mit einem Male demütig. Er stieg aus dem Sattel, nahm das Pferd beim Zügel und ging mit ihm nach der Mauer hinüber, kam vor das große Tor des Gutshauses und öffnete.

Und betrat das Heim wie eine Kirche.

Mit dem Pferd schritt er in den Hof und schaute sich um, sah rechts das Herrschaftsgebäude, von kahlen Weinreben umrankt, und links die Stallungen, die Schuppen, Scheunen und Lagerräume. Es sah alles ein wenig gottverlassen aus, die Höfe waren leer, die Tore verschlossen, schmutzig lag Schnee umher, Wasserrinnsale liefen, es tropfte melancholisch von den Dächern.

Das Geklapper der Pferdehufe lief die Mauerfronten entlang, übermäßig laut zerschnitt der harte Klang die brütende Stille.

Berghaus ließ den Zügel fallen und wollte durch das kleine Tor in den zweiten Hofraum gehen, der an den Stadtgraben grenzte, da kam ihm der erste Mensch entgegen.

Kein anderer als sein alter Kellermeister Tulle. Ja, da stand er jetzt, mit dem runden und nackten Gesicht, mit den dünnen Strähnenhaaren 102 und den etwas zu kleinen Augen; da stand er, immer noch wohlbeleibt trotz der Not der Zeit, und es verschlug ihm die Worte, als er den jungen Herrn sah.

»Herr Bastian, Ihr lebt?! Hat sich das Grab geöffnet?!«

Er streckte ihm beide Hände entgegen, die Augen, vom Wein ein wenig gerötet, wurden naß, der Kellermeister schluckte vor Rührung und wollte die Hand des Soldaten nicht mehr loslassen.

»Ihr seid verwundet? Herr Bastian?« – »Nicht von Bedeutung, ein Streifschuß. Wie geht es meiner Frau?«

»Der gnädigen Frau geht es gut, aber sie ist sehr still und einsam geworden, seit – – seit – –«

»Seit meinem Tod, sprecht es nur aus.«

»Ja, seit – – Eurem – – Tod – gnädiger Herr. Ein Irrtum also, eine unselige Geschichte, oder ich träume am hellen Tag.«

»Eine Schurkerei, sonst nichts«, fiel ihm Berghaus in die Rede. »Davon später. Wo ist meine Frau?«

»Oben, Herr Bastian, wir haben Feuer in den hinteren Zimmern, es ist sonst sehr still hier, wir haben viel erlebt, die Zeiten waren schwer, die Franzmänner haben uns noch bös zugesetzt, ich muß Euch das alles erzählen.«

»Ja, das müßt Ihr, Tulle. Bringt mein Pferd in den Stall. Sind schon Russen hier gewesen?«

»Noch nicht, der Himmel schütze uns vor ihnen, sie sollen schlimmer als die Franzmänner sein.«

»Keine Angst, Tulle, der Krieg ist bald zu Ende.«

»Daran können wir nicht mehr glauben. Gestern sind die Franzosen abgerückt, o Herr Bastian, und die Seuche! Die Seuche ist der schlimmste Feind, aus allen Häusern holt sie ihre Opfer. Geht hinauf, ich will Euer Pferd versorgen. Was wird die gnädige Frau sagen, wenn sie Euch sieht!«

»Wer ist auf dem Gut noch anwesend?«

»Fast niemand mehr, wir sind recht arm geworden unter französischer Freiheit und französischen Versprechungen. Wir haben noch vier Kühe und zwei gute Pferde im Stall. Eine Magd haben wir noch und einen jungen Knecht, er war bei den Konskribierten, ist aber desertiert und vorm Weihnachtsfest wieder zurückgekommen. Dann bin ich da mit meiner Frau, unser Sohn ist bei den Badischen. Dann ist noch der Verwalter da, Ihr wißt ja, der Heinz, seine Frau starb am Typhus, eine Tochter ist mit einem französischen Forstbeamten nach 103 Frankreich hinein und der Sohn liegt in der Festung Landau. Kraut und Rüben, Herr Bastian, Teufel und Beelzebub, aber der 13er Wein ist geraten, es ist auch ein Versteck für ihn gefunden. Wir haben noch volle Fässer, Herr Bastian, Gott steh uns bei.«

»Dann ist noch nicht alles verloren.«

Der Husar wollte ins Haus gehen, da sah er den Sickingen und Barbara durch das große Tor kommen, sie zogen die Pferde hinter sich her.

»Ich habe den Grafen Sickingen mitgebracht, er ist nicht zum erstenmal in unserm Haus. Die Frau ist Barbara, die Tochter vom Fischer bei Sandheim.«

Tulle wackelte auf den Grafen zu, sein Gesicht war überglänzt von Freude.

»Ein guter Wind hat mich zu Euch geweht, Kellermeister, haben die Gallischen noch was in Euren Fässern gelassen oder klingt es hohl in allen Faßbäuchen?«

Er lachte schallend, und es war, als wollte dieses Lachen den Schlaf aus allen Winkeln jagen.

»Ein Zimmer für den Grafen und ein Zimmer für die Fischerfrau«, rief Berghaus, »macht was ihr wollt, aber laßt mich jetzt allein.«

Durch die breite Holztür ging er ins Innere des Hauses. Kälte hauchte ihn an, kein Geräusch drang aus den verschlossenen Räumen, es war dämmerig, denn die Fensterläden waren geschlossen, die Holzstiege knarrte, als er langsam nach oben stieg.

Er ging über den oberen Flur und kam vor die Tür des Wohnzimmers.

Er öffnete langsam und trat ein, die Klinke noch in der rechten Hand, blieb er stehen und freute sich der Wärme, die ihm entgegenschlug.

Eine junge Frau erhob sich vom Stuhl und stand nun aufrecht am Tisch, das Antlitz ihm forschend zugewandt. Das Unbegreifliche der Erscheinung fand bewegten Ausdruck in den Zügen des anmutigen Gesichtes, Schreck wechselte mit Erstaunen, Zweifel mit Beglückung, Taumel mit Erschütterung.

Bastian Berghaus schloß langsam die Tür, der Arm war noch nach hinten gebogen, er war wie in einem Traum, ein Klingen hub an, er wußte nicht, woher es kam. Der Raum war ganz erfüllt von Brausen und Getön, als er nun auf die Frau zuschritt und den Arm um sie schlang.

104 »Juliane!« sprach er, sonst nichts, das Übermaß des Augenblickes überwältigte ihn. Er wurde schwach, der Mensch, der von Schlachtfeldern zurückkam, der über Barrikaden von Toten geritten war, ein rauher Soldat, des Königs Husar.

Sie konnte nichts tun, als den Kopf an seiner Brust bergen, sie weinte, ihr Körper wurde erschüttert von diesem Weinen, das sich Bahn brach wie ein wilder Strom, der keiner Dämme mehr achtet.

»Ich habe auf dich gewartet, Bastian.«

»Auf einen Toten?!«

»Ich habe nie an deinen Tod geglaubt.«

»Du hast nicht daran geglaubt?«

»Nein, es hätte mir ein Zeichen werden müssen.«

»Man glaubt an Zeichen und Wunder in schweren Zeiten. Sie erzählen am Rhein, die toten Kaiser seien aufgewacht und mit Rüstung und Schwert gegen den Korsen gezogen.«

»Und in Lautern habe Napoleon in Barbarossas Bett geschlafen; sie glauben nicht an seinen Niedergang, er ist bei vielen im Volk immer noch ein überirdischer Held, die Nationalgarde ist noch nicht von ihm abgefallen.«

»Sie meinen den heroischen Menschen, aber nicht sein Volk. Das Große schafft Bewunderung und Furcht. Vielleicht wird sein Genie die Zeiten überdauern, nicht aber sein Machthunger und seine menschliche Schande.«

»Bastian, du trägst den Arm in der Binde. Kommst du aus dem Reitergefecht bei Mutterstadt?«

»Ich komme vom Rhein. Einer, der meine Sprache spricht, hat auf mich geschossen, als ich einem Kosakenoffizier im Strom das Leben rettete. Ich will dir das erzählen, Juliane.«

»Du hast einem russischen Offizier das Leben gerettet?!«

»Er wäre im Rhein ertrunken.«

»Sonderbar! Sind die Russen hier?«

»Ich bin mit einer Hundertschaft gekommen. Ein Deckungsdetachement vom Rheinübergang Karpows.«

Als sie beisammen am Tisch saßen, wurde Juliane bedrückt, denn nun kam ihr die Aufgabe zu, ihm Schweres mitzuteilen: nämlich daß der Vater nicht mehr lebte.

»Was ich dir auch sagen muß, Bastian, denke daran, daß du wieder da bist, und daß nun alles gut wird. Es ist traurig, was ich dir zu sagen habe. Dein Vater – –«

105 Er fuhr mit der Hand abwehrend durch die Luft.

»Ich weiß es, Juliane, und es ist gut, daß dir erspart geblieben ist, mir seinen Tod mitzuteilen. Wo ist unser Verwalter Heinz?«

»Du wirst ihn früh genug sehen. Er ist plötzlich ein Franzosenfresser geworden.«

»Ich habe ein Wort mit ihm zu reden.«

»Sein Bruder in Speyer hat uns bös zugesetzt, die Zinsen und Abgaben und Lasten waren nicht mehr zu tragen, kein halbes Jahr mehr und man hätte uns den Hof genommen. Sprich jetzt nicht davon.«

»Ein abgekartetes Spiel unter dem Schutz von Paris. Das ist jetzt vorbei, der demokratische Traum der Patrioten ist ausgeträumt, wer nicht will, wird bei uns nicht mehr als Franzose sterben. Die westliche Gloriole ist erloschen, der ›Optimismus auf Befehl‹ gehört der Vergangenheit an. Wer flau und mit seiner Gesinnung nicht im klaren ist, der wird hinweggefegt. Mischvolk ist gewesen! Wenn Gott mir gut gesinnt ist, dann werde ich auch Abrechnung halten mit diesem Bruder Welsch in Speyer, der die eigene Scholle ans Messer geliefert hat.«

»Der Kommissar Heinz in Speyer lebt nicht mehr. Als sie die Unterpräfektur zum Teufel jagten, hat ihn ein Student erschossen.«

»Er hat die Nachricht von meinem Tod gefälscht, er nimmt ein großes Register mit in die Hölle. Es steht schlecht auf dem Gut, aber wenn wir arbeiten, dann kann's nicht fehlgehen. Der Krieg wird nicht mehr lange dauern, dann können wir die Arme rühren. Ich habe eine Frau mitgebracht vom Rhein, sie soll vorläufig hierbleiben und helfen, denn wir brauchen Hilfe. Was tot ist, soll wieder lebendig werden, was stillesteht, mußt sich wieder bewegen. Kannst du dich an den letzten Sickingen erinnern?«

»Meinst du den Lumpengrafen?«

»So nennen ihn die Lumpen, du wirst ihn anders kennenlernen. Er ist mit mir geritten, und ich habe mir schon gedacht, er könnte am Ende hier auf dem Gut bleiben, wenn ich den Heinz zum Teufel gejagt habe, und wenn ich selbst weiter nach Frankreich hinein muß.«

»Du willst – – schon wieder fort?!«

»Ich kann nicht über mich bestimmen.«

»Du warst – beim Freikorps!«

»Der einzelne gilt nichts!«

Juliane Berghaus erhob sich und blieb, mit dem Rücken gegen den 106 Tisch gelehnt, stehen. Ihr Blick ging nach oben, es war, als stiege ein Bild aus der Erinnerung auf, das ihr Unruhe bereitete.

»Wieviel Not des Herzens man ertragen muß, nur um zu leben. Die Russen sind im Land, werden wir Schweres durchmachen müssen?«

»Die verbündeten Armeen drängen nach Paris, die Pfalz wird kein Kriegsschauplatz sein.«

»Aber Etappe? Der Russe glaubt sich in Feindesland.«

»Wir werden uns zu helfen wissen.«

»Sie erzählen von russischen Übergriffen. Ist es wahr, daß die Russen Barbaren sind, daß sie faules Fleisch essen und mit Peitschen schlagen?«

»Soldaten, Juliane. Sei ohne Sorge.«

»Und die Offiziere?«

Berghaus griff nach der Pistole, die Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Wenn einer es wagte, dich wider deinen Willen nur mit dem Finger zu berühren, er würde keine Stunde länger leben, Juliane. Mein Haus ist unantastbar.«

»Dann ist alles gut, Bastian.«

»Und jetzt muß ich nach meinen Kosaken schauen.«

 


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