Roland Betsch
Ballade am Strom
Roland Betsch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4

Oberleutnant Berghaus trat vor die Tür des Fischerhauses. Wohin er schaute, Soldaten. Ein Heerlager. Pferde. Geruch von Tierleibern und nassen Uniformstücken. Bis über dieses Leben hinaus würde er den Geruch nicht vergessen. Einen sonderbaren Geruch hatte der Krieg. Er trat zu den Soldatenhaufen, er konnte nicht verstehen, was sie untereinander sprachen. Sie bevölkerten seinen Heimatboden und brachten eine verschlossene Fremdheit mit, sie schienen ihm wie Tiere in fremder Wildbahn. Mein Vater ist tot, sprach er in das Summen und Sausen hinein, ein kurzer Weg heute, der vom Leben zum Tod führte.

Wohin er schaute, Kosaken, unter ihnen viele Baschkiren und Kalmücken in Nationaltrachten, Kirgisen und Angehörige tatarischer Reitervölker, blaue Donkosaken und braune Kubankosaken mit weiten Beinkleidern, kurzen Russenstiefeln und hohen Lammfellmützen mit roten und gelben Kalpaks.

Der Übergang war geglückt, Nacht und Nebel waren gute Bundesgenossen.

Auf russischen Leinwandpontons und österreichischen Kähnen, hatten die dezimierten Regimenter den Uferwechsel vorgenommen.

Berghaus stand eine Weile in der eisigen Luft des Morgens, eine Flut von Gedanken jagte durch sein Hirn. Nicht weit von hier lebten Menschen in Drangsal und Not, die ihm nahe am Herzen lagen, für die er fortgezogen war. Für ihr Leben, für ihr Land und für ihre Heimat war er aufgebrochen und zu der russischen Legion gegangen.

Er überschaute das bunte Heerlager, mit weher Bangnis sah er das fremdländisch kriegerische Schauspiel.

Wieder überflutete eine fremde Rasse die Gefilde seiner Herkunft und seines Blutes. Das Völkerfieber kam in vielerlei Gestalt.

In ungeheuerlichem Wetterwechsel schäumte die Brandung fremder Völker gegen das ausgehöhlte und verhungerte Gestade seiner Geburt. Nach Westen strömten die schmutzigen Wogen der Romanen fluchtgetrieben zurück, aus dem Osten kam die slawische Flut, rettend zwar und beschützend, aber doch voll wilder und grauenhafter Fremdheit. ›Und dennoch leben wir‹, dachte der Offizier mit einem Gefühl dankbarer Kraft. ›Nicht nur von Fremdheit überfallen und geknechtet, nein, auch krank im eigenen Volk, voll Charakterschwäche und nationaler Schamlosigkeit, leben wir dennoch, weil das Gute zuletzt immer wieder aus dem Schutt hervorblüht.

45 Denn über allem Menschensinnen und Menschenwerk, über Verblendung, Machtgier und Brutalität, über allem, was menschlich war, stand übermenschlich die Kraft der Erde.

Nicht die Millionen Menschen der Kontinente vermöchten auch nur eine Handbreit Erde zu vernichten.

Und wer Zeit fände, um sich niederzubeugen und die Erde zu greifen, er hielte die Unsterblichkeit in Händen.‹

Oberleutnant Berghaus hüllte sich tiefer in den umgeworfenen Mantel, ihn fror, die Wunde schmerzte.

Er betrat das niedere Gastzimmer und traf dort, zum Aufbruch bereit, den Stab des Reiterkorps.

General Karpow in der blauen Uniform der Garde-Ural-Kosaken war mit einigen Offizieren über die Cassinikarte gebeugt, sie legten die Marschroute fest, der Weg sollte, unter Umgehung der vorgeschobenen Abteilungen Marmonts, nördlich nach Speyer und dann weiter bis zur Stelle führen, wo der Übergang des russischen Korps unter Sacken geplant war.

Oberleutnant Berghaus, den linken Arm notdürftig in einer Binde, meldete sich beim Kommandeur.

General Karpow, ein kleiner, gedrungener Mann mit einem kühnen und unternehmungslustigen Gesicht, wandte sich von der Karte ab und sprach in gutem Deutsch: »Ich weiß, was Ihr geleistet habt, Oberleutnant Berghaus. Ihr habt einem meiner wertvollsten Offiziere das Leben gerettet und gleichzeitig eine Erkundung durchgeführt, die militärisch für das Korps und die ganze Armee von Bedeutung ist. Nehmt den Dank durch mich, eures Vaterlandes und meines Vaterlandes.«

›Meines Vaterlandes‹, dachte Berghaus, als er die dargereichte Hand nahm, ›wo ist mein Vaterland?‹

»Danke, Exzellenz. Ich habe nur meine Pflicht getan«, sprach er und trat zur Seite.

»Ihr seid malade, Ihr bleibt hier mit einem Deckungsdetachement und erhaltet weitere Disposition.«

»Exzellenz, ich bin in dieser Gegend bekannt, sie ist meine Heimat, ich könnte bei diesem Nebel die Führung auch ohne Karte übernehmen.«

»Danke, ihr seid malade. Wir haben für die Kerntruppe einen zuverlässigen Mann.«

»Ich bedaure, daß ich in diesem Augenblick nicht im Dienst der Sache stehen darf. Ist der Mann zuverlässig?«

46 »Warum fragt Ihr?«

»Exzellenz, dieses Land hier ist krank und elend. Und wo Krankheit herrscht, dort siedelt sich Unrat an.«

»Was meint Ihr damit?«

»Meine Heimat, jetzt noch französisch und ein östliches Departement der Welschen, ist überschwemmt von fragwürdigen Existenzen. Verrat lauert in jedem Busch. Exzellenz, mein Arm hindert mich nicht – –«

General Karpow kam auf Berghaus zu, griff nach einem Knopf seines Waffenrocks und sprach eindringlich: »Der Mann, den ich meine, heißt Franz von Sickingen!«

Oberleutnant Berghaus war betroffen, er blieb eine Weile stumm und senkte im Nachdenken den Kopf.

»Ihr antwortet nicht, Oberleutnant Berghaus?«

»Exzellenz – meinen – den letzten Sickingen?!«

»Ihr kennt den Grafen?«

»Ich kenne seinen Namen. Sein Urahne war der letzte deutsche Ritter.«

»Das verstehe ich nicht, Oberleutnant Berghaus. Mir ist wichtig, ob der Mann zuverlässig ist.«

»Dieser Name, Exzellenz, duldet keinen ehrlosen Herzschlag.«

»Gut, das zu hören, freut mich.«

General Karpow wandte sich ab. Er wollte die Tür öffnen, da kam die Tochter des Fischers herein. Sie trug das rote Kopftuch und wollte scheu zur Seite gehen.

Der General stutzte und vertrat ihr den Weg.

»Ein schöner Anblick mitten im Krieg«, sprach er und rollte die Augen. Unverhüllt trat die Begierde in seine Züge. Berghaus sah, wie die junge Frau ausweichen wollte.

»Wer seid ihr, madame?« fragte der Russe.

»Ich bin – – die – – Tochter –« antwortete sie furchtsam und lehnte sich voll innerer Abwehr gegen die Tür.

Karpow wandte sich um, sein Gesicht war brutal entstellt. »Schöne Töchter gibt es am Rhein.«

Da trat Oberleutnant Berghaus mit entschlossenen Schritten in den Kreis der Offiziere, die zum Abmarsch rüsteten, und sprach, schwer ringend mit den Worten: »Bevor Euer Exzellenz aufbrechen, habe ich eine untertänige Bitte.«

»Sprecht, Ihr habt ein Recht zu bitten.«

47 General Karpow, im weißverschnürten Pelzmantel und schwarzen Kalpak, trat schweren Schrittes vor ihn hin. Berghaus machte mit dem rechten Arm eine weit ausholende Bewegung.

»Das Land ringsum ist meine Heimat; sie zu retten und sie vor Schmach zu schützen, bin ich ausgezogen und habe Weib und Freunde und Angehörige zurückgelassen. Dieses Land ist so oft geplündert und geschändet worden, daß zu plündern und zu schänden fast nichts mehr übrigbleibt.«

Er hielt inne, denn er fand nicht die Worte, um begreiflich zu machen, was ihn bedrückte.

»Weiter, weiter! Eure Bitte!«

»Exzellenz, auch die russischen Soldaten sind nur Menschen, der Krieg ist hart, – – ich sage es nicht für mich, – – aber ich wünschte aus tiefstem Herzen, daß meine Heimat geschont werde.«

General Karpow lächelte und machte eine abwehrende Handbewegung.

»Eure Gefühle in Ehren, – wir sind Russen!«

»Der Ausdruck Plünderung, Exzellenz, ist unheilvoller Bestandteil des Wortschatzes meiner Heimat.«

»Der Russe plündert nicht!«

»Das Wort Schändung – –«

»Der Russe schändet nicht!!«

Wieder lächelte er boshaft, dann schritt er auf die junge Frau zu und schaute ihr unverhüllt ins Gesicht. Dicht trat er vor sie hin, Berghaus sah, wie die Frau am ganzen Körper bebte.

Der Russe griff nach ihrer Hand.

»Ihr seid schön, madame, ich wünschte nur, daß ich es weniger eilig hätte.«

Sie entzog ihm ihre Hand und ging langsam durch den Raum nach der hinteren Tür.

Der General schaute ihr nach.

»Messieurs, zum Aufbruch!« befahl er rauh.

Im Morgennebel ritten sie davon, die berühmten Regimenter vom Kosakenkorps Karpow II –

Eine Sotnie Kosaken mit kleinen Steppenpferden blieb zurück.

Sie lagerten im Fischerschuppen, wo sie sich ein prasselndes Feuer angezündet hatten. Dort hockten sie beisammen, sprachen von ihrer Heimat und tranken Branntwein mit schwarzem Tee vermischt.

Harte Soldaten, die dem Tod in allen Gassen begegneten und 48 weder Blut, noch Kälte scheuten, war auch ihnen nicht gelungen, jenes Unbegreifliche zu töten, das in jeder Menschenbrust nistet und die Wunderaugen öffnet, wenn das blutige Handwerk des Tages zu Ende ist. Ihre Herkunft, der Kreislauf ihres Lebens, ihr rätselvolles Schicksal und alle Regungen des Herzens nahmen Besitz von ihnen und streiften das Kainszeichen des Unfriedens von ihren Stirnen, so daß sie vergaßen, warum sie endlose Meilen durch Tod und Hunger und Kälte geritten waren. Ihr Wunsch war, von dem zu träumen, was sie mit den Augen nicht mehr sehen und mit den Händen nicht mehr greifen konnten.

Da saßen sie um die Glut und sangen:

»Sag' der Mutter: Dein Sohn im Dienste stand
Bei dem Chane der Krim, dem Tatarenland,
Hat durch den Dienst gewonnen eine Königsmaid,
Eine Totengrube auf kahler Haid'!«

Bastian Berghaus ging in den Nebel hinaus, er kam zum Schuppen und schaute durch die schmutzigen Scheiben ins Innere des Raumes. Er sah die Gestalten im Hexenspiel des Feuers, eine seltsame Eintracht und Geborgenheit in einem Land, wo die Toten nichts mehr galten.

Der Tod hatte seine Bedeutung verloren, er konnte sich nicht mehr brüsten mit seiner ungeheuerlichen Größe, er war nur noch mittelmäßig und abgeschmackt. Wer war der Tod? Er kam und ging, er nahm und fraß, er war immer zur Stelle, es lohnte sich nicht, viel Wesens aus ihm zu machen.

Da saßen sie auf einem Haufen und lebten, vielleicht saßen sie morgen wieder beisammen, dann lebte einer von ihnen nicht mehr. Er lag irgendwo im Schnee, starr und wie gefrorene Erde. Er war geboren worden und aufgewachsen. Er hatte eine Mutter gehabt, nun war er tot.

Berghaus ging weiter, gedämpft wanderte das fremde Lied hinter ihm her. Es trieb ihn, in den Sattel zu steigen, und die zwanzig Kilometer durch den Winternebel nach Deidesheim hinüberzureiten. Aber zwischen ihm und den Seinen stand der Feind, niemand wußte in diesem Augenblick, wo die vorgeschobenen Abteilungen Marmonts lagen. Deserteure aus den Reihen der Konskribierten und der alten Nationalgarde meldeten, die Division Lagrange mit dem 1. Kavalleriekorps 49 Doumerc hätte die Linie vom Hardtgebirge zu halten, bis der Rückzug der Hauptarmee nach Kaiserslautern und Saarbrücken gesichert wäre.

Zwanzig Kilometer, überlegte Berghaus, und ich kann durch mein Tor in meinen Hof reiten und sie alle wiedersehen, die ich vor Monden verlassen habe. Nur den Vater nicht, der Vater war weit fort, kein Weg führte zu ihm.

Plötzlich fiel ihm ein, daß man ihn für tot hielt. Er lebte nicht mehr, er stand ja schon außerhalb, vielleicht hatten sie ihn schon halb vergessen.

Sein Verwalter Heinz, dieser Französling, der schon mehrmals eine unglückselige Rolle gespielt hatte, dieser sonderbündlerische Querkopf hatte die Nachricht vom Tode des »hitzköpfigen Phantasten«, der das Heil vom rechten Rheinufer und von den Russen kommen sah, verbreitet aus Gründen, die allzu durchsichtig waren.

Die Unterpräfektur Speyer war längst in alle Winde zerstoben, Kulturschänder, die einen Speyerer Dom abreißen und eine Madonnenfigur in eine Büste Napoleons verwandeln wollten, gehörten bereits der Lächerlichkeit der Geschichte an, das Regiment des Mainzer Schinkenandres war zu Ende. Oberleutnant Berghaus fuhr sich über die Stirn.

Törichte Gedanken, er mußte warten, es hieß obendrein gegen den Befehl handeln, fort also mit allen Grübeleien, fort mit dem Gefühl. Das Gefühl war ein Feind dieser harten Zeit.

Das Leben war hart, Gottes Gesetze waren hart, wer leben wollte, mußte sich wehren, nur dem Unverzagten schenkte sich das Leben. Hart sein war die beste Religion.

Oberleutnant Berghaus kam auf den alten Rheindamm, und dann drang er auf einem verschneiten Pfad in den Auwald ein.

Der Nebel hing krank und blind über der verlassenen Landschaft, das Eis der Altwässer schimmerte fahl, irgendwo im Raumlosen riefen die Raben.

Zwischen alten Kopfweiden, an denen triefend Schnee und Nässe klebten, blieb er stehen, die Todesstimmung nahm ihn schmerzlich gefangen, es war, als hauchte ein Jahrtausend sein Leben aus.

Draußen, über dem Gewölk der kahlen Silberweiden, jenseits des braunen Schilfgewoges, strömte der Rhein, und es klang wie fernes Orgeln, was in die Stille herüberdrang. Das waren aber die Eisschollen, die im ungestümen Drang ihrer Talfahrt gegeneinander 50 stießen, sich in den Gegenströmungen stauten und mit dumpfem Getön dahintrieben.

Berghaus wollte zwischen den Weiden hindurch nach dem freien Strom gehen, da sah er im Schilf, nebelumflossen und grau umschattet, eine Gestalt auftauchen. Er hatte kaum Zeit, die Erscheinung mit den Augen zu fassen, da bellte ein Schuß in die gefrorene Stille, die Gestalt sank in sich zusammen, das dürre Schilf raschelte, als ob ein Tier auf der Flucht wäre.

Berghaus griff nach der Pistole und horchte in die Lautlosigkeit hinein.

Kein Geräusch mehr, nur fern schrien die Raben.

Er fand einen Mann im Schilf, Blut floß aus den Kleidern, in der verkrampften Hand hielt er die Pistole. Berghaus beugte sich nieder, da schlug der Sterbende die Augen auf.

»Wer hat auf Euch geschossen?«

Der Mensch, naß und klebrig, mit beschmutzten Kleidern, richtete sich mühsam auf, mit dem rechten Arm stützte er den Oberkörper.

»Ich – – selbst – habe – – mich getötet!«

»Ihr selbst?«

»Ja, ich selbst. Jetzt – ist es endlich aus. Oh, was für ein Leben ist das gewesen!«

»Warum habt Ihr Euch erschossen?«

»Kamerad, wer du auch bist, Freund oder Feind, hör mich, was ich dir sage. Es gibt keine Rettung mehr für dieses Land; denn – weißt du – – wenn seine Menschen selber nicht mehr wissen, wo sie hingehören, dann ist – kein Stern mehr für uns.«

»Was habt Ihr getan, welche Sinnlosigkeit!«

»Sinnlos, ja. Wir liegen zwischen den Völkern, hüben und drüben verlassen, – vogelfreies Land. Vogelfrei, – wir reden deutsch und reden französisch – – wir haben keinen ruhigen Schlaf seit Jahrhunderten.«

Er stöhnte, Blut rann aus seinem Mund.

»Wir sind das einsamste Land, weil wir zwischen den Völkern liegen.«

»Warum habt Ihr Euch selber das Leben genommen?«

»Das will mir nicht über die Lippen, und doch muß ich's euch sagen, ich darf es nicht mit hinübernehmen, es wiegt viel zu schwer.«

Er sank zurück ins Schilf, Berghaus, der nur den rechten Arm gebrauchen konnte, warf den Mantel ab, rollte ihn zusammen und legte 51 ihn unter den Kopf des schwer Verwundeten. Er schaute ihn an und sah den Tod im grauen Gesicht und in den trüben Augen stehen.

»Wer seid Ihr, Kamerad?«

»Robert Seffrin ans Sandheim.«

»Robert Seffrin?! Euer Bruder – –!«

»Nichts von meinem Bruder. Hört mir mal zu, ich habe nicht mehr lange Zeit. Ich habe zu Hause eine Frau, der Fischer Ringeis soll ihr Bescheid sagen, daß ich nicht mehr lebe. Ich habe eine Schwester, ihr Mann ist unter dem Adler nach Rußland und nicht mehr gekommen. Sie hat fliehen müssen, weil sie eine kleine Streife vom Russengeneral Wittgenstein, zwölf Jäger von der 5. russischen Division, die beim Fort Louis über den Rhein sind, hinter die französischen Linien geführt hat. Ich habe sie selbst an die Franzmänner verraten.«

»Ihr selbst, die eigene Schwester?«

»Ja, weil ich zu den – – Franzosenköpfen gehöre. Ich habe mir immer eingebildet, von den Jakobinern müßte das Heil kommen, vom Freiheitsbaum und vom großen Kaiser Napoleon.«

Er reckte den Hals und bog den Kopf nach hinten.

»Ich habe das geglaubt, und – – ich glaube es jetzt noch, wo ich vor dem Ewigen stehe. Ich muß doch auch – – – für meinen Glauben sterben.«

»Warum habt Ihr Euch selber – –?!«

»Hört mir nur noch eine Weile zu. Weil Ihr gerade von meinem Bruder sprecht. Ich habe einen Bruder gehabt.«

Wieder hob er den Kopf, die Augen öffneten sich groß, er rang nach Worten.

»Gehabt! Versteht Ihr, einen Bruder gehabt!! Er war älter als ich und hat früher schon unterm Condé gefochten, zuletzt ist er zu den Russen und war beim Regiment Sementschenko.«

»Euer Bruder ist hier mit dem Regiment Sementschenko über den Rhein!«

»Ja, das ist er. Sein Schicksal und mein Schicksal und das Schicksal des ganzen Landes, sie haben ihn hier an diese Stelle geführt, wo wir Heckenschützen uns eingebildet haben, wir könnten das Unheil aufhalten.«

»Welches Unheil, Mann?«

»– – das mit den Russen – – legt mich – hier etwas höher, – – seid barmherzig – –«

52 »Mann, Ihr habt nicht mehr lang zu leben, sagt mir, was Euch bedrückt.«

Bastian Berghaus schob seinen Arm unter den Kopf des Sterbenden, die Kälte kroch über das Schilf, es fiel naß und erschauernd von den kahlen Bäumen.

»Ihr habt recht, es geht zu Ende, aber ich will noch einmal – – seid barmherzig, helft mir, ich will mich aufrichten, ganz aufrichten – –!«

Mit ungeheurer Anstrengung raffte er sich hoch, der Husar griff ihn fest und richtete ihn auf.

Gegen Berghaus wie gegen einen Baum gestützt, stand Robert Seffrin aufrecht da, die Augen vom Schleier des Todes verhängt.

Er breitete die Arme, das zerrinnende Leben sickerte aus den nassen Kleidern. Der Schnee war rot vom Blut. »Das Land hier – – weit, weit – – und dort der Rhein, und hinten die Berge – das ist unser Land!! Seht, so wie es jetzt ist, so grau und eisig und voll Nebel und Tod und Kahlheit, so ist seine ewige Sendung.«

»Euer Bruder – –!«

Robert Seffrin schien zu wachsen, der Schmerz entstellte sein Gesicht, er stieß beide Arme wie Lanzen in die Luft, er schrie wie ein Tier in den trübseligen Morgen hinein, der Schrei flüchtete über Schilf und Bäume, er verhallte lange nicht, in der Ferne noch war er wimmernd zu hören.

Seffrin wandte den Kopf und schaute Berghaus an, noch einmal wurden die Augen groß, das Entsetzen weitete sie übermäßig, sie brannten wie Lichter.

»Meinen Bruder«, hauchte er, »meinen Bruder habe ich erschossen. Ich habe es nicht gewußt – – beim letzten Herzschlag will ich's schwören, ich habe es nicht gewußt. Er liegt drüben auf dem äußeren Damm.«

Er sank in sich zusammen.

Bastian Berghaus sah den verlöschenden Blick, eine düstere Ahnung stieg ihm auf.

Während er den Mann ins Schilf gleiten ließ, sprach er mit klangloser Stimme: »Dann seid Ihr es auch gewesen, der auf mich und den russischen Offizier geschossen hat, als wir durch den Rhein schwammen. Der Verband, den ich trage – –«

Sinnlos, noch weiter zu sprechen, der Mann konnte nicht mehr hören, er konnte auch nicht mehr antworten.

53 Er war tot. –

Berghaus nahm drei Kosaken und den Fischer Ringeis, sie suchten den äußeren Damm ab.

Unter einer Pappel fanden sie einen toten Soldaten, er trug die Uniform eines russischen Kosakenwachtmeisters. Ein Kopfschuß hatte ihn getötet.

Er lag auf dem Rücken und schaute mit weit geöffneten, blauen Augen in den wehenden Nebel.

Mathias Ringeis beugte sich nieder, hob den Kopf des Toten hoch und schaute in das leblose Gesicht.

»Ja, das ist Peter Seffrin«, sprach er und wurde bleich vor Erschütterung.

»Sein Bruder hat ihn getötet!« sprach Oberleutnant Berghaus. »Er liegt drüben im Schilf. Er hat sich erschossen.«

Der Fischer nahm die Mütze ab.

»Gott sei seiner Seele gnädig, er war ein Franzosenkopf.«

Als der Husar die junge Frau mit dem roten Kopftuch im Nebel auftauchen sah, ging er ihr entgegen, sie kam mit schweren Schritten und gesenktem Haupt, als ahnte sie, was sich ereignet hatte.

»Seid stark«, sprach er, »Euer Mann ist nach Hause gekommen.«

Sie schrie nicht auf, als sie ihn im Schnee liegen sah, sie weinte auch nicht, was wären Tränen gewesen, einfache Tränen.

Sie kauerte sich nieder bei dem Toten, sie hob seinen Kopf hoch und fuhr prüfend über die Kälte des Antlitzes und über die Starre der Augen, die sich nicht mehr schließen ließen und eine ungeheure Ferne in sich hineintranken.

Sie weinte nicht, sie schaute auf den Strom hinaus, sie fahndete nach Gott in dem treibenden Gewässer, in den grauen Schluchten des Nebels, im Abgrund der Zeit, die voll Brausen war in der Stille und voll Getön im einsamen Vorübergleiten. –

Sie trugen die toten Brüder aus dem Dickicht der Rheinwälder und legten sie auf einen kleinen Bauernwagen.

»Bringt sie heim«, sprach Berghaus und ließ zwei Kosakenpferde einspannen.

Die Kosaken schwangen sich in die Sättel und dann fuhren sie nach Sandheim, eine halbe Wegstunde entfernt; die junge Frau und der Fischer Ringeis gingen zu Fuß hinterher und zeigten den Fremden den Weg durch die schlafende Stromniederung.

Da lagen sie beide, Brüder auch im Tod, der alle Schuld tilgte mit 54 der weichen Schattenhand. Da fuhren sie heimwärts, und waren ohne Groll, denn schon schickten sie sich an, in die Erde zurückzutauchen, aus der sie gekommen waren.

Und die Erde stand über allen Richtern.

Auch dem unselig Verirrten schlug das Herz der Erde.

 


 << zurück weiter >>