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Schon geraume Weile reisten Max und sein Adjutant auf dem Ärmel, als der Mann anhielt. Max sah zwischen den Bäumen künstliche Bienenwohnungen und erkannte, daß er sich im Besitztum des Bienenzüchters befand, der mit seinem Vater wohlbekannt war, und der ungefähr tausend Schritte von seinem Haus entfernt wohnte; für ein Kind eine kleine Entfernung, aber ein ungeheurer Weg für Ameisenbeinchen! Der Mann, auf dem Max reiste, beugte sich nieder und stülpte mit rascher Bewegung die Strohglocke über ein zu ihr passendes, walzenförmiges Unterteil. Jetzt war die neue Familie in einem kuppelförmigen Bienenhäuschen untergebracht, in dem sie sich sehr wohl befand, denn die fleißigen Arbeitsbienen machten sich sogleich an ihre Geschäfte. Max gab Großzang ein Zeichen und rief:
»Schleunig absteigen!«
Zunächst liefen die beiden am Ärmel empor, gegen die Schulter hin, um dann über den Rücken der Joppe den Abstieg zu nehmen. Der Mann hatte sich inzwischen die Drahtmaske abgenommen und beguckte sorgfältig seine Bienenvölker. Eines davon schien verdächtig unruhig. Er mußte, um nachzusehen, was da vorgehe, den Deckel heben. Die Bienen waren schlecht gelaunt und sehr erregt. So stürzte im Nu ein wütendes Heer aus dem Stocke auf den Mann los und hüllte ihn wie eine Wolke ein, brummend und summend sein Gesicht bedrohend. Schnell lief er davon; doch die zornigen Bienen verfolgten ihn und zerstachen ihm jämmerlich Gesicht und Hände. Endlich ließen sie von dem Gepeinigten ab, der sich fluchend an einem Grabenrand niederließ, den Kittel auszog und sich mit ihm das schmerzhaft anschwellende Gesicht rieb.
Das war alles so schnell vor sich gegangen, daß die beiden Reisenden todsicher auf unbekanntes Gebiet gestürzt wären, hätten sie nicht das unglaubliche Glück gehabt, in die Rocktasche zu fallen. Freilich war es trotzdem ein zweifelhaftes Vergnügen, denn Max und sein Adjutant befanden sich jetzt mitten in einem Gekrümmel von Tabakresten und Zigarrenstummeln. Um dem greulichen Gestank zu entgehen, blieb nichts anderes übrig, als in die Tabakspfeife zu flüchten, wo es durchaus nicht besser roch. Als der abgelegte Kittel im Grase still lag, befahl Max:
»Nur geschwind heraus! Wir ersticken hier!«
Nicht ohne Mühe fanden sie den Ausgang und liefen im Eiltrab davon, dem Graben entlang, an dessen Rand der Verletzte jammernd die Bienenstachel sich aus den Händen entfernte. Der arme, gehetzte Kaiser rannte mit seinem Adjutanten so schnell, als gelte es einen Wettlauf an ein bestimmtes Ziel. Es war aber die innere Unruhe über die Ungewißheit seiner Lage, die ihn so dahinjagte. Die Hoffnung, bei den befreundeten Bienen wieder anzukommen, war vernichtet. Vielleicht war er ihnen nahe, wer weiß es? Aber die Reise in der finstern Tasche und die Kreuz- und Quersprünge des zerstochenen Bienenvaters waren schuld, daß sie beide aus dem verlässigen Ortssinn der Insekten keinen Nutzen ziehen konnten. Sie rannten also aufs Geratewohl vorwärts, und Max hätte gern sein Kaiserreich, das er nicht besaß, hingegeben für ein sicheres Nachtquartier. Großzang hätte für einen Imbiß der bescheidensten Art seinen Grafentitel geopfert.
Die zwei Wanderer waren bereits ein gut Stück Weges dahingezogen, als Großzang, seinen Kaiser betrachtend, plötzlich erschrocken ausrief:
»Majestät! Die Krone!«
Max betastete eilig sein Haupt. Die Krone, die kaiserliche Krone, sie war nicht mehr da! – Ach Gott! die lag in der Joppentasche, bei den Stummeln und der Tabakspfeife, als klägliches Beispiel, wie man aus den höchsten Ehren dieser Welt jäh in den Staub stürzen könne. Das war für unsern Helden ein harter Schlag! Er blieb erst stumm stehen, dann übermannte ihn der Schmerz; er fiel zur Erde und brach in Wehklagen aus:
»Teuerster Adjutant! Es ist unnütz, noch weiterzugehen. Wohin? Wozu? Es ist gescheiter, wir erwarten hier den Tod – alle beide.« Ohne auf Großzang zu hören, der ihn trösten wollte, murmelte er:
»O Mutter, meine liebe, gute Mutter!«
Der Gedanke an die Mutter hatte ihn noch jedesmal gestärkt, so auch diesmal. Als er den Blick erhob, bemerkte er ein schönes Insekt, das auf ihn zuflog. Dieses Insekt sollte er doch kennen! Es erinnerte ihn an sein teures Haus, seine liebe Familie. War es doch auch in jenem Haus geboren wie er selbst.
»Frau Holzwespe!« rief Max ihm zu.
»Ei«, sprach die Holzwespe erfreut, »bist du es denn wirklich, lieber Freund?«
Es war richtig jener stahlblau leuchtende Hautflügler, der damals als Larve für sich und Max den Weg durch den metallenen Türbeschlag gebohrt hatte.
»Ja, ich bin es! O liebe Holzwespe, wenn du wüßtest, welcher Trost, welche Freude es für mich ist, dich zu sehen!«
»Für mich keine geringere!« sagte das Insekt artig und setzte sich neben die zwei Ameisen. »Niemals vergesse ich dir den Dienst, den du mir erwiesen hast! Du hast mich aus der Gefahr gerettet, von jener Menschenfrau zerdrückt zu werden! – Aber wie kommst du denn hierher?«
»Ach, das Unglück hat mich so verfolgt, daß ich nicht mehr weiß, wo ich mein müdes Haupt hinlegen soll!«
»O du Ärmster!«
Die Holzwespe dachte ein wenig nach, dann sagte sie:
»Warte! Vielleicht kann ich dir eine Wohnung verraten, wo du, wenn mich nicht alles täuscht, gut aufgehoben wärst. – Siehst du die Eiche dort?«
»Jawohl, ich sehe sie!«
»Also gut! Als ich vorhin auf ihren Zweigen saß, hörte ich in ihrem Innern ein schwaches Geräusch, wie wenn jemand drinnen Holz zersägte. Du weißt, in solchen Dingen habe ich ein wenig Erfahrung. Irre ich nicht, so handelt es sich um ein Insekt, das seine letzte Verwandlung erreicht hat und jetzt versucht, herauszukommen. Willst du, daß wir zusammen die Wohnung besichtigen?«
»Ja, natürlich!« willigte Max freudig ein.
So gingen sie zusammen zur Eiche, und nachdem Max der Holzwespe seinen Adjutanten vorgestellt hatte, sprach er zu ihm:
»Teurer Adjutant, diese zarte Freundin beißt sogar Eisen durch; ich habe es selbst gesehen!«
Jedoch Großzang war nicht einmal so arg verwundert darüber, wie es Max erwartet hatte. Er hatte selbst so gewaltigen Hunger, um sogar in Eisen zu beißen, und sagte kühl:
»Ich glaub's gern!«
Die Holzwespe stieg an der Eiche empor, gefolgt von den beiden Ameisen. An einer gewissen Stelle hielt sie inne:
»Hört ihr's?« fragte sie hinhorchend.
Man vernahm ein ganz leises Geräusch aus dem Innern des Baumes.
»Wir müssen etwas warten«, sagte sie weiter, »aber es dauert sicher nicht mehr lange. Der Freund da drinnen arbeitet wie rasend.«
Richtig, gleich darauf, unmittelbar vor Max, öffnete sich ein winziges Löchlein, und es erschien ein drollig lebhaftes Köpfchen, das sich nach allen Seiten hin bewegte und zugleich große Freude und großes Staunen ausdrückte.
Man hörte ein süßes, feines Gesumse, das lautete:
»Endlich atme ich dich, du gesegnete Luft!«
Aus dem Löchlein kamen jetzt zwei reizende Pfötchen hervor, die sich fest am Rande anklammerten, und nach und nach erschien ein prächtiges Insekt mit Flügeln und einer herrlich metallisch violetten Färbung.
»Eine Biene!« rief Max, der eine Flut von Fragen in Bereitschaft hatte. Doch das Insekt breitete mit Wonne die Flügel aus, streckte und putzte die Beinchen, wiegte den Kopf hin und her, machte sodann eine artige Verbeugung, flog fort und rief:
»Wie wunderschön ist das Leben!«
»Sie hat recht«, sagte die Holzwespe zu Max, der über diese rasche Flucht ein wenig beleidigt dastand; »glaube mir, Lieber, für ein Geschöpf, das so lange im Finstern eingeschlossen war, das als Larve nur in einer einzigen Hoffnung lebte, für den einzigen Zweck arbeitete, endlich als vollkommenes Insekt an das Licht zu kommen, ist dieser Augenblick, wenn er endlich da ist, zu wichtig, als daß man sich mit neugierigen Leuten ins Plaudern einließe. Ich kann das sagen, ich habe es selbst erlebt.«
»Ich kann es begreifen«, sagte Max beschwichtigt.
Aber die Gleichgültigkeit Großzangs der erstaunlichen Nagekunst seiner Wespenfreundin gegenüber konnte er noch nicht verwinden. Es drängte ihn daher, seinem stumpfsinnigen Adjutanten den Vorgang näher zu beschreiben:
»Verstehst du denn auch: diese Dame hat Eisen, richtiges Eisen zernagt, um aus ihrem Gefängnis auszubrechen!«
»Ach ja«, sagte Großzang gelangweilt. »Meinst du denn, ich sei taub? Übrigens, um ein solches Meisterstück auszuführen, kommt es nur auf den Zustand an, in dem sich einer gerade befindet!«
»Wie meinst du das?«
»Nun, ich zum Beispiel, ich würde gegenwärtig Eisen nicht nur zernagen, sondern sogar aufessen.«
Max betrachtete ihn kopfschüttelnd und hätte ihm gern einiges erwidert, wenn nicht im selben Augenblicke aus dem Löchlein ein zweites Köpfchen hervorgeschaut hätte, dem ersten gleich in jeder Hinsicht.
Mit süßem Gesumme sprach das Bienchen:
»Gelobtes Land, endlich sehe ich dich!«
Und wie seine Schwester breitete es die Flügel aus, machte eine Verneigung und flog davon, ohne daß Max nur ein Wort mit ihm hätte sprechen können. Da verlor er die Geduld und sagte entschlossen:
»So, nun ist die Reihe an mir; ich trete jetzt in das Haus ein.«
Wie bestürzt blieb er aber stehen, als er drinnen immer noch wütend bohren und sägen hörte. Nicht lange, so erschien abermals ein zartes Köpfchen und rief:
»Endlich!«
»Endlich möchte ich doch auch wissen«, unterbrach sofort unwillig Max die begonnene frohe Rede, und griff fest zu. »Jetzt habe ich es satt mit der unanständigen Eile. Endlich! Wer bist du? Wie heißt du? Woher kommst du? Was willst du tun? Wohin gehst du? Ich sage dir, wenn du mir nicht Rede stehst, so lasse ich dich nicht fliegen, und du kannst zusehen, wie du deine Geschäfte ohne Kopf besorgst!«