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4. Eine Ameisenmutter.

Schon wendete sich die Pflegerin Max wieder zu und sagte freundlich:

»Komme mit mir!«

Folgsam stieg Max von seiner großen Trommel herunter und bemerkte, wie gut er auf seinen Hinterbeinchen aufrecht stehen und gehen konnte. Wahrscheinlich waren ihm außer seinem Gedächtnis und seinem Verstande noch mehr menschliche Eigenschaften verblieben, und das konnte immerhin ein starker Trost für ihn sein in mancher Bitternis.

So folgte er mit neuem Mute Fuska. Warum stieß er nur plötzlich einen jubelnden Freudenschrei aus? Was war geschehen? O Jubel! Er war nicht blind! Nein, er konnte sehen, großer Gott, wie gut konnte er sehen!

In den weiten Saal, in den Fuska ihn eintreten ließ, drang von oben durch eine winzige Öffnung ein Lichtstrahl herein. Befand er sich vielleicht im Wohnzimmer oder gar im Speisesaal des Ameisenhauses? Aber wie eigenartig neu war sein Schauen! Er hatte einen viel übersichtlicheren Blick bekommen für alles, was ihn umgab. Ohne Kopf und Augen zu wenden, übersah er, was über ihm, vor ihm, hinter ihm und seitwärts geschah. Der Saal glich einer Grotte, die von Säulen gestützt wurde. Wände, Boden, alles war sauber geglättet und regelmäßig angeordnet. Rechts und links waren Ameisen emsig beschäftigt, und einige schauten ihn wohlwollend und freundlich an, lächelten auch wohl über seine staunende Miene. Alles dies konnte er sozusagen mit einem einzigen Blick beobachten.

»Worüber bist du froh erregt?« fragte ihn Fuska.

»O wie glücklich bin ich«, rief Max freudestrahlend, »ich habe ja die besten Augen der Welt! Aber wie geht es wohl zu, daß ich so verschiedenes zu gleicher Zeit sehen kann? Ich bewege weder Kopf noch Augen und trotzdem –«

»Das kannst du ja auch gar nicht«, fiel Fuska belehrend ein. »Weißt du, liebes Ameislein, weil wir unsere Augen nicht bewegen können, hat uns die Natur anders geholfen. Unsere Augen sind so gebaut, daß wir durch ihre Form und Stellung ein weites Gesichtsfeld haben. Ja, ja, alle Geschöpfe sind von der großen Mutter Natur so ausgestattet, daß zu ihrem Leben und Wirken alles bereit ist, was sie zu ihrem Dasein brauchen. Wir Ameisen haben zwei zusammengesetzte Augen.«

»Zusammengesetzte Augen! – Kann man sie auch auseinandernehmen?«

Fuska erklärte mit unerschöpflicher Geduld:

»Die Oberfläche der beiden Augen, die links und rechts an unserem Kopfe liegen, ist aus kleinen sechseckigen Feldern zusammengesetzt. Jedes dieser Sechsecke zeigt nach oben eine Wölbung wie ein Brennglas, und jedes Feld ist ein vollkommenes Auge. Begreifst du nun, daß wir deshalb in jedem Augenblick nach allen Richtungen schauen können?«

Max ging voll Neugier auf seine mütterliche Lehrerin zu, schaute ihr in die Augen und rief:

»Das sieht ja aus wie ein feines Netz!«

»Ganz richtig, unser Auge, aus vielen kleinen sechseckigen Augen zusammengesetzt, heißt darum auch Netzauge; Gelehrte nennen es Facettenauge. Doch sollst du dich über die Menge der Felder in meinem Auge nicht zu sehr wundern. Wir haben nicht viele, nicht einmal hundert.«

»Wie, das heißt wenig?«

»Im Vergleiche zu andern Insekten wohl. Solche Insekten, die in der Luft leben, würden mit hundert kaum zufrieden sein. Fliegenaugen haben etwa viertausend solcher Facettenfelder.«

»Viertausend!«

»Libellen haben mehr als zwölftausend.«

Es ist kein Wunder, daß Max mit seiner Vorstellungskraft Fuskas Belehrung kaum mehr folgen konnte, als sie noch weiter erzählte:

»Ein Insekt gibt es, das heißt Dolchwespe. Die Augen dieser Dolchwespe sind genau genommen fünfundzwanzigtausend Äuglein. – Gelt, da staunst du?«

Max fand tatsächlich keine Worte, um sein Erstaunen auszudrücken. »Wenn diese Dolchwespe kurzsichtig würde«, dachte er, »dann bräuchte sie alle Brillen der Welt für sich allein.« Fuska würde seinen witzigen Gedanken doch nicht verstehen; er verschwieg ihn mit halbem Bedauern und fragte weiter:

»Wie viele Augen habe ich also?«

»Komm her, ich zähle sie. – Eins, zwei, drei … So jetzt. – Das eine von deinen beiden zusammengesetzten Augen hat sechzig Felder.«

»Da hätte ich im ganzen hundertzwanzig Augen?«

»Nein, du zählst deine einfachen Augen nicht mit.«

»Ich habe auch noch einfache zu den zusammengesetzten? Genügen die hundertzwanzig nicht?«

»Keineswegs; mit den hundertzwanzig bist du wohl imstande, mit einem Blick alles ringsum wahrzunehmen, aber die nächsten Gegenstände kannst du mit ihnen nicht klar unterscheiden. Wenn du mich ansiehst, tust du es mit den einfachen Augen.«

Man denke sich, mit welchem Forscherblick jetzt Max Fuska aufs neue betrachtete. Richtig, auf Fuskas Scheitel entdeckte er im Dreieck gestellt drei helle, sanfte Äuglein, die in Perlmutterglanz leuchteten.

»Rechnet man alles in allem«, zählte Max tief aufatmend, »so besitzen wir hundertdreiundzwanzig Augen.«

»Es ist so, ganz richtig!«

»Nun muß ich mich ein paar Minuten verschnaufen, ich kann es ja kaum glauben. Sollte man so etwas für möglich halten! Erst glaubte ich, ich sei blind, und nun entdecke ich an mir mehr als hundert Augen!«

Die Sache gab Max gehörig zu denken. Still wiederholte er für sich:

»Hundertdreiundzwanzig Augen! Hätte ich sie auch als Kind gehabt, so hätte ich mit hundertdreiundzwanzig in meine Bücher gucken müssen.«

Wie er noch schaudernd bei solch ungeheuerlichem Bilde verweilte, hörte er ein Schreien im Saal:

»Obacht! Hallo! Platz gemacht!«

Eine geflügelte Ameise kroch herein, gefolgt von einigen Gefährten. Mühselig und erschöpft bewegte sie sich vorwärts, von den Gefährten beinahe getragen und geschoben. Bei jedem ihrer Schritte hinterließ sie ein ovales Kügelchen, das vom Gefolge sorgfältig mit dem Munde aufgehoben wurde.

»Das ist ein schöner Skandal«, entfuhr es Max, der kaum hinzusehen wagte.

»Wo ist ein Skandal?« fragte Fuska verwundert.

»Hm«, meinte Max, »ich finde das, was ich sehe, gerade nicht sehr anständig.«

Fuska wies ihn unwillig zurecht und sprach:

»Ach, so reden die Leute immer, wenn sie eine Sache nicht verstehen! Diese geflügelte Ameise, von der du wer weiß was für unpassende Dinge zu sehen vermeinst, ist ein braves Ameisenweibchen, das hereingeführt wird, um uns seine Eierchen zu schenken.«

Da schämte sich Max seiner voreiligen Anschuldigung und fragte dafür um so wißbegieriger:

»Was machen die Ameisen mit den Eierchen?«

»Sie befeuchten sie mit der Zunge, damit sie wachsen und gedeihen, und dann werden sie in ihre Stube gebracht.«

»Das ist ja sehr nett. Bin ich auch so zu euch gekommen?«

»Nein, das Ei, in dem du stecktest, fanden zwei unserer Schwestern auf einem bemoosten Stein in der Nähe unseres Hauses; sie brachten es uns heim.«

»Aha«, dachte Max, »das waren die vermeintlichen Totengräber!«

Aber er hütete sich, seine Geschichte zu erzählen. Wer hätte sie ihm geglaubt!?

»Komme, damit ich dir zeige, wie wir Eier und Kinderchen pflegen«, sprach Fuska und zog Max mit sich fort, bis sie in einem Saal anlangten, der vermutlich die Kinderstube vorstellte. Wie gelbliches Korn lagen hier Eier aufgehäuft. Fuska wies darauf hin und sagte:

»Sieh hier, der erste Zustand in unserer Entwicklung.«

»Wie ist das zu meinen?«

»Insekten kommen als Eier zur Welt. Das lebendige Eichen krümmt sich nach und nach, wird durchscheinend und verwandelt sich in eine Larve

»Eine Larve«, rief Max, »wie spaßig! So spielen die Ameisen erst Fastnacht, bevor sie richtige Tierchen werden? Als ich mich einmal maskierte, setzte ich eine Larve vors Gesicht, um mich unkenntlich zu machen.«

Fuska verstand nicht alles, was er redete, aber sie erklärte ihm liebenswürdig:

»Gewiß, im Larvenzustand ist unsere eigentliche Lebensform zunächst vollständig vermummt. Wir liegen als hilflose Würmchen auf der Erde; aber dann, wenn wir die Verhüllung ablegen … Doch das sollst du jetzt alles selbst sehen; komm!«


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