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Das war eine traurige Lage. Diese arme Larve hatte mehr als ein Jahr gearbeitet, um sich für die Stunde ihrer Verwandlung einen Ausweg zu verschaffen; und jetzt, wo es gerade am schönsten geworden wäre, war sie vor eine Metallwand geraten.
»Was tun?« fragte der ängstlich zuschauende Max mit Herzklopfen. Die Wespenlarve aber schüttelte mit aller Seelenkraft ihren Ärger ab, nahm sich fest zusammen und rief sich selber Mut zu:
»Nur nicht nachlassen, nicht verzagen! Ich muß durchkommen; ich fühle, daß ich keine Zeit zu verlieren habe.«
»Wirst du umkehren? Einen neuen Weg suchen?«
»Umkehren? Was fällt dir ein! Ich nage das Metall durch«, so sprach sie in stolzem Trotz.
Max schaute recht verblüfft darein. Sein Staunen wurde immer größer, als er auch schon ein Geräusch hörte, wie wenn eine Feile rasch und gleichmäßig über Metall raspelte. Wahrhaftig, die Larve durchbohrte das Eisen! Wenn unser Freund gewußt hätte, daß berühmte Naturforscher beobachteten, wie diese Insekten drei Zentimeter dicke Bleiwände durchlöcherten, hätte er sich nicht so maßlos gewundert.
»Diese Holzwespe kann noch mehr als meine Freundin, die Gallwespe«, rief Max; »dieser Leistung gegenüber bedeuten die Holzkugeln nicht viel. Lieber Freund«, scherzte er, »du könntest wirklich mit dem Kopf die dicksten Mauern einrennen, ohne dir den Schädel zu zertrümmern.«
»Spaß beiseite«, erwiderte fast außer Atem die abgearbeitete Larve, »für mich handelt es sich jetzt um Leben oder Tod. Hier sterben, im Dunkeln, in dem Augenblick, der mich frei in den Lüften finden sollte, das will mir nicht in den Sinn!«
»Willst du deine Verwandlung hier abwarten?«
»Ja, ich habe dazu Ruhe nötig; denn in kurzer Zeit bin ich Puppe, um aus ihr schön und vollkommen zu erstehen.
Aber der Durchgang ist offen, willst du nicht ins Haus eintreten?« Sie wies mit artiger Bewegung an das Löchlein, das ihr das Tor zum Leben bedeutete.
Max dankte mit innigen Worten:
»Wenn ich dir irgendwie einmal nützlich sein kann«, sagte er, »so soll mir das eine Freude sein!«
»Danke, gönne mir jetzt Ruhe!«
Max kroch durch die Öffnung im Beschlag und lief an der inneren Türseite hinab, bis er sich auf der Diele des Hauses befand. Sobald er den Fußboden erreicht hatte, fing er vor Befriedigung zu tanzen an und sang dazu:
»Ich bin daheim, ganz nahe bei lieb Mütterlein!«
Wie trieb ihn die Sehnsucht, sie wiederzusehen! Er rannte in der Finsternis nach allen Enden herum, um die Türe zum Zimmer zu suchen. Ein Hindernis im Wege hemmte seinen Lauf. Es lag da ein Apfelbutzen, der durch irgendeine Unachtsamkeit am Boden liegengeblieben war. Mit seinen Beinen hätte Max leicht darüber wegkommen können, aber wer mit dem Vorbeilaufen nicht einverstanden war, das war der Magen. Der brummte so heftig, als wollte er das Baßgeigenkonzert wiederholen, das seit dem schönen Frühstück bei den guten Hummeln verstummt war. So machte sich denn das hungrige Ameislein ohne viel Federlesens ans Essen, wobei alte, schöne Erinnerungen erwachten. Mit innigem Wohlbehagen sprach er kauend vor sich hin:
»Äpfel waren immer meine Leibspeise, aber erst jetzt weiß ich, daß sogar der Butzen noch ganz vorzüglich schmeckt.«
Geraume Weile speiste er und ließ sich's wohl sein; hatte er doch seit frühem Morgen nichts mehr gegessen, und nachdem er den Versuchungen der Muskatellertraube so männlich widerstanden hatte, war ihm der Genuß, besonders nach den Gemütsaufregungen im finstern Wespengang, schon recht zu gönnen. Zu all dem brauchte er jetzt keine Angst mehr auszustehen, die Richtung zu verlieren; deshalb entschloß er sich, sich mit Seelenruhe die ganze Nacht dem süßen Apfelbutzen zu widmen. Bei Tage wollte er dann die Zimmer besuchen.
Endlich brach ein schwacher Lichtschein durch den herzförmigen Ausschnitt des geschlossenen Fensterladens, und beim Klappern eines nahenden Trittes ließ Max geschwind die Reste seiner Mahlzeit im Stiche. Franziska, das Zimmermädchen, kam, um wie an jedem Morgen die Fenster zu öffnen. Da hörte Max ein eigenartiges Geräusch und gleich dazu einen Schreckensschrei. Was war denn geschehen? Das konnte keiner erraten. Durch ein Löchlein im Türbeschlag war ein großes Insekt herausgeflogen. Sein Körper glänzte wie aus blauem Stahl, es hatte rötliche Schenkel, gelbe Flügel und ungebrochene Fühler, die nach vorne gerichtet waren und sich mit der Spitze ein wenig in die Höhe bogen.
Franziska hatte bei dieser überraschenden Erscheinung einen Schrei ausgestoßen. Jetzt ergriff sie den Wischlappen, den sie an die Schürze gesteckt hatte, und machte mit diesem eine unbarmherzige Jagd auf den seltenen Eindringling, der in Todesangst einen Ausweg suchte. Max erkannte sofort seine neu ausgeschlüpfte Holzwespe und hörte sie verzweifelt rufen:
»O Ameise, hilf mir doch!«
Sofort wußte Max, was zu tun war. Er kletterte wie der Blitz über Franziskas Schuh empor bis zum Strumpf, drang mit dem Kopf zwischen zwei Maschen hindurch und zwickte, so kräftig er nur konnte, Franziska gerade in dem Augenblick in die Haut, als sie mit dem Staubtuch das arme Insekt erschlagen wollte. Sie stieß einen lauten Schrei aus und ließ das Tuch fallen. Indessen flog das geängstigte Tier zum Fenster hinaus und rief:
»Ameise, du hast mir das schöne Leben gerettet! Nie werde ich dich vergessen!«
Max hatte sich rasch auf den Boden fallen lassen und lief eiligst davon. Franziska aber juckte heftig an ihrem Bein und rief:
»Diese verwünschten Flöhe!«