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Der neue Ankömmling war ein Insekt von der Familie der Grab- oder Mordwespen. Sie stelzte auf hohen Beinen daher, besonders das Hintere Paar war unglaublich lang. An den Außenrändern der Unterschenkel saßen so viel Stacheln und Zähne, daß sie wie Sägen aussahen.
Dieses kecke Tier war mir nichts, dir nichts in den hohen Kriegsgerichtshof hereingeplatzt und fing ohne Umstände an, einem nach dem andern mit seinem schrecklichen Stachel den Leib zu durchbohren. Zwischen Richtern und Verurteilten gab es jetzt nicht mehr den mindesten Unterschied.
In der Verwirrung, die entstanden war, konnten sich wohl einige Ameisen retten, indem sie sich kopfüber in den nächsten Gang des Hauses stürzten; aber mit einem fürchterlichen Satz war die Wespe schon auf Max losgesprungen:
»Soweit ist es mit mir gekommen!« seufzte schwerbedrückt der unglückliche Kaiser Butziwackel der Erste.
Sobald er aber die Wespe winseln hörte: »Au weh, wie hart bist du doch!« da wuchs schnell sein Mut. Er fühlte sich aufs beste geschützt in seinem guten Hanfpanzer. Erleichtert aufatmend flüsterte er:
»Gesegnet sei mein Hanfküraß!«
Die Wespe stand jetzt mit hochgezogenen Beinen und forschendem Blick vor ihm, betrachtete ihn mißtrauisch von allen Seiten und brummte unverständliche Worte. Dabei ließ sie ihren Stachel prüfend in der Scheide aus und ein gleiten, denn sie dachte nicht anders, als daß die feine Spitze desselben schon beschädigt sei.
Aber die Waffe war noch in bestem Zustande und besaß nicht eine einzige Scharte. Halb und halb begütigt über diese Entdeckung, halb zornig noch über Max, fragte sie ihn:
»Sage mir auf der Stelle, warum du so harthäutig bist!« –
Max hatte jetzt seinen ganzen Mut wieder gefunden und antwortete nicht ohne einen Anflug von Humor:
»Ei, so bin ich schon lange. Als ich noch zur Schule ging, meinte der Lehrer, ich hätte einen harten Kopf. Aber seit einiger Zeit habe ich eine harte Haut. Doch wer bist du?«
»Ich bin eine Mordwespe.«
»Heilige Zeit!«
»Jawohl, ich heiße Ammophila sabulosa, zu deutsch: Sandwespe. Aber man nennt uns Mörder, weil wir auf Fliegen, Spinnen, Raupen und Ameisen Jagd machen. Gott sei Lob und Dank, daß nicht alle so hart sind wie du!«
»Höre«, sagte Max entrüstet, »was Spinnen, Raupen, Fliegen betrifft, will ich nichts dagegen sagen; aber daß du Ameisen angreifst, ich sage dir, für eine anständige Wespe finde ich das eine Spitzbüberei. Oder weißt du nicht, daß wir verwandt sind?«
Er erinnerte sich nämlich, daß ihm die verstorbene Fuska einmal gesagt hatte, daß alle Wespen, Bienen, Hummeln zur gleichen Ordnung wie die Ameisen gehören und somit zum großen, ruhmreichen Volk der Immen und Hautflügler, das wunderbar stark und klug ist.
Es entstand nun eine Pause im Gespräch, während der die beiden Personen, die sich bisher in Verteidigungsstellung drohend gegenübergestanden waren, sich gegenseitig mit etwas mehr Höflichkeit betrachteten. Max zeigte eine aufrichtige Bewunderung in seinem Blicke, als er den schrecklichen Angreifer von allen Seiten besah, und er kam zu dem Schlußurteil:
»Ein Mörder mag sie sein, aber fein tritt sie auf. Sie muß aus guter Familie stammen.«
Die Wespe hatte wirklich ein prachtvolles Kleid von lebhaft gelber Farbe; sie war schlank, anmutig in ihren Bewegungen, höchst lebhaft und viel schöner als alle andern Wespen, die Max als Kind beobachtet hatte.
»Welche Taille!« dachte der entthronte Kaiser.
»Jetzt verstehe ich erst, warum man scherzte, Mütterchen habe eine Wespentaille!«
Da war er beim Gedanken an die Mutter den Tränen bereits wieder nahe, und zu gleicher Zeit fühlte er im Herzen den unwiderstehlichen Wunsch, sein Mütterlein wieder zu sehen, und um dieses Gedankens willen, den diesmal die Wespe angeregt hatte, schenkte er dem schönen Tier seine Liebe. Auch die Wespe schien jetzt besänftigt und unterbrach die Pause:
»Schau, schau, da sind wir also verwandt? Dann reiche mir das Bein, damit wir Frieden schließen.«
Weil Max ein wenig unschlüssig dastand, fuhr sie lebhaft fort:
»Na, na, bist du vielleicht noch empört über meine Jagd auf Ameisen? Wenn ich nicht irre, wäret ihr bei meiner Ankunft damit beschäftigt, euch recht brüderlich gegenseitig den Garaus zu machen. Mir scheint, daß Mord unter Geschwistern ein ruchloseres Geschäft ist als unter weitläufigen Verwandten!«
Gegen diese Rede ließ sich wirklich nichts einwenden, darum entgegnete Max sanft und mild:
»Ja, ja, du hast recht. Durch dich wurde ich aus den Zangen meiner Ameisenbrüder errettet, wenn du das auch nicht beabsichtigt hattest. Aber trotzdem darfst du doch nicht vergessen, daß wir Ameisen unter den Hautflüglern das stärkste, das klügste und das, das, das – – –«
Max fand keine Zeit mehr, ein drittes lobendes Eigenschaftswort für sein Volk zu finden, denn die Wespe ließ den Redner plötzlich mit einer unerwarteten und raschen Bewegung im Stich, um über eine ansehnlich große Raupe herzufallen, welche das Unglück hatte, in der Nähe vorbeizukriechen. Es war das Werk eines Augenblicks. Die Wespe ließ ihren Stachel aus der Scheide gleiten und versetzte die Raupe mit ein paar Stichen in einen Zustand, der es ihr unmöglich machte, ihren Spaziergang fortzusetzen.
»Hast du sie totgestochen?« schrie Max und lief herbei.
Die Wespe schüttelte den Kopf und murmelte auf geheimnisvolle Art:
»Was glaubst du wohl? Ich bin doch nicht so einfältig!«
Dann setzte sie sich vergnüglich singend rittlings auf ihr Opfer, ergriff es mit ihren Zangen und begann den Körper, der zehnmal schwerer war als sie selbst, gegen einen kleinen, sandigen Graben zu schleifen, an dessen Abhang sich ein rundes Loch befand, mit Kieselsteinchen, Hälmchen und Erdkügelchen wohl bedeckt und versteckt. Max war erstaunt, ein so vornehmes Insekt zugleich so stark, so kühn und geistesgegenwärtig zu finden; er folgte der Wespe Schritt für Schritt, bis er ganz nahe am Grabenrande war. Hier sah er, wie sie sich mitsamt der Raupe vollends hinunterstürzte, immer rittlings auf ihr sitzend.
Auf dem Grunde des Grabens angelangt, ließ die Wespe ihre Beute los, schüttelte sich den Staub von den Flügeln und kehrte sich zu Max, der noch oben am Grabenrand stand. Er hatte gefürchtet, daß die Wespe drunten vom Gewicht ihres Opfers erdrückt werden könnte.
»Hast du dir wehe getan?« fragte er sie.
»Nicht die Spur«, antwortete lachend die Wespe.
»Diese Rutschpartie war der leichtere Teil meiner Arbeit. Schwerer ist's, die Raupe in das Haus hineinzutragen!«
Dabei wies sie auf ihren Hauseingang, der an der Seite des Abhanges zu sehen war. Max stieg vorsichtig hinab, und mit schlecht versteckter Gönnermiene sprach er:
»Ich werde dir helfen.«
Aber die Wespe lehnte mit einer würdevollen Bewegung ab.
»Bah!« sagte sie spöttisch, »wir sind an andere Strapazen gewöhnt und haben es nicht nötig, daß das stärkste und intelligenteste Volk der Hautflügler sich für uns bemühe.«
Max kämpfte bei diesen Worten gegen seinen schwer getroffenen Hochmut.
»Es wäre mir übrigens lieb«, fügte die Wespe hinzu, »wenn du auf das Raupenwürmlein ein bißchen aufpaßtest, während ich im Haus erst nachsehen muß, ob alles zu seinem Empfang bereit ist.«
»O, hast du vielleicht Angst, daß es entwische?«
»Das nicht, aber du sollst achtgeben, daß sich niemand der Raupe nähert. Kann ich mich auf dich verlassen?«
»Aber natürlich!«
Mit fröhlichem Gesumse schlüpfte die Wespe in ihre Höhle hinein, und Max blieb als Wachtposten bei der Raupe stehen.
Kaum war die Wespe verschwunden, als sich eine kleine, graue Fliege auf den Körper der Schmetterlingsraupe niederließ, wie angepappt darauf sitzen blieb und eifrig mit einer Arbeit beschäftigt war, für die Max keine Erklärung fand. Er schrie:
»Mach, daß du weiter fliegst! Dieser Wurm gehört nicht dir!« Die Fliege flog darauf hohnlachend davon und zischelte boshaft:
»Wenn auch nicht mir, so gehört er doch meinen Kindern!«
Als die Wespe gleich darauf wieder erschien, sagte Max, die Raupe forschend betrachtend:
»Es fehlt kein Härchen an ihr! Sage mir nur, liebe Wespe, ißt du sie denn ganz allein auf?«
»Aufessen! Gott, wie kommst du auf diesen Gedanken?«
»Ja, warum hast du sie denn ermordet?«
»Ich habe sie doch gar nicht ermordet! Sie ist nur gelähmt. Verstehst du nicht, wenn sie tot wäre, und ich müßte sie in mein Haus nehmen, würde sie in kurzer Zeit in Fäulnis übergehen, was sehr gesundheitsschädlich wäre.«
»Du behältst sie im Hause? Was machst du nur mit einer gelähmten Raupe?«
»Ach, sie ist doch für meine Kinder!«
»O«, rief Max bestürzt, »dasselbe hat ja vorhin die graue Fliege auch gesagt!«
Die Wespe fuhr mit einem Sprung zurück und schrie voll Zorn:
»Die graue Fliege sagst du? Ach, das Gesindel! Eine graue Fliege hat sich am Ende wohl gar auf meine Raupe gesetzt? Antworte sofort!«
»Aber … ja«, stammelte Max, der nicht verstand, wie man sich wegen einer solchen Kleinigkeit so aufregen konnte. – »Einen einzigen Augenblick nur ist sie auf der Raupe gesessen, ich jagte sie ja gleich weg!«
»Ach, diese Diebin, das hat sie mir angetan!« so heulte jetzt die Wespe und untersuchte dabei die Raupe. »Da haben wir's schon! Da sind ihre Spuren! Und ich hatte mich so geplagt! Meine Arbeit war nun für das Lumpengesindel! Miserables Schmarotzerpack! Ah, sie hoffte am Ende noch, daß ich die Raupe im eigenen Hause beschütze! Haha, der schönen Augen ihrer Kinder zuliebe! O, die Elende!«
Die Wespe war jetzt derart gereizt, daß Max sich nicht getraute, noch etwas zu sagen. Er duckte sich in seinen Hanfküraß zusammen und murmelte:
»Alle Wetter! Wenn sie jetzt mit mir Streit anfinge, dann wäre ich verloren, auch wenn ich mich in einen Zwetschgenkern verkröche!«