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Beängstigt unterbrach der Professor seine Lektion, trat vom Steinpult zu Max herab und fragte besorgt:
»Wo fehlt es dir?«
»Au, au, mir ist so übel! Es tut mir überall weh, hier oben, dort unten, in den Beinen, am Kopf – au weh! au weh!«
Der Professor war ein tüchtiger Kinderarzt und begann sogleich eine gründliche Untersuchung.
»Verletzungen finde ich keine«, sagte er dann, »dein Körper ist tadellos gewachsen. Du hast Kopf, Brust, Hinterleib und sechs Beine. Hm, hm! Tut dir's hier weh? dort? da?« und dabei klopfte und horchte er an Brust und Kopf des Patienten.
»Jawohl, hier und dort und da tut's weh!« wimmerte Max.
»Merkwürdig! Dein Muskelsystem ist gut, und du kannst wie jede andere Ameise ein Gewicht ziehen, das dreißigmal schwerer ist als du selbst, während der Herr der Schöpfung, der Mensch, oft nicht soviel heben kann, als er selbst wiegt. Hier – was fühlst du hier?«
»O, es tut weh … unten, hinten, vorne – und oben auch!«
»Aber dein Blut fließt regelrecht durch die Adern, Magen und Darm arbeiten, wie sich's gehört, hm, hm! Atme mal recht tief! Auch die Atmung ist gut. Sind's vielleicht die Nerven'?«
»Ach ja, die Nerven sind's vielleicht, Herr Professor. Ich spürte einen Stoß in allen Nerven, als ich vorhin die abscheulichen Fremdwörter hörte.«
»Untersuchen wir also deine Nerven – Ich kann auch hier nichts Krankes finden! Die Nervenstränge sind in bestem Zustand, in den Nervenzentren liegen keine Störungen vor; du hast deren mehrere, und jedes arbeitet unabhängig vom andern. Würde man dich in zwei Stücke schneiden, könntest du einige Zeit in zwei getrennten Teilen leben. Untersuchen wir noch das Gehirn!«
Zerknirscht lispelte Max:
»Ich habe vielleicht recht wenig?«
»Nichts dergleichen, genug hast du. Wie bei jeder richtigen Ameise ist das Gehirn der zweihundertachtzigste Teil deines Körpers, das heißt, es hat ungefähr dasselbe Größenverhältnis wie bei den entwickelten Säugetieren. Daher unsere hohe Geisteskraft«, fügte der Professor belehrend bei.
Auf einmal wurde der Professor stutzig. Ganz sorgfältig betrachtete er mit seinen drei einfachen Augen den Hinterleib des Patienten und sagte:
»Sapperlot! Da ist doch was nicht in Ordnung!«
»Was ist's?« wollte Max erschrocken wissen.
»Dreh dich herum! Ein ganz merkwürdiger Fall! So etwas habe ich mein Lebtag nicht gesehen!«
Max fühlte, daß der Professor an etwas zerrte, und fragte kläglich, was er denn so Seltsames hätte.
»Wer weiß, ob es nicht ein Gewächs ist«, meinte der Professor.
»Ein Gewächs! Zu Hilfe! zu Hilfe!«
»Es ist biegsam, ein Gewebe, das ich nicht erklären kann.«
Alle Ameisen kamen jetzt neugierig näher heran, so daß Max mitten in einem Kreise stand, und alle riefen:
»Wie seltsam! Was mag das für ein weißes Zipfelchen sein?«
»Zipfelchen!« schrie Max, am ganzen Körper zitternd vor Aufregung.
Ein gräßlicher Gedanke durchfuhr blitzgeschwind sein Hirn. Wild blickte er um sich, stürzte sich auf einen Grashalm, der sich nebenan über eine Wasserpfütze neigte, kletterte an ihm empor und ließ sich, mit zwei Beinchen daran festgeklammert, frei über dem Wasser schweben. So konnte er sein Hinterteil im Spiegel betrachten. Es blieb kein Zweifel mehr.
Klar widerspiegelte das Wasser seinen Körper, und genau sah er am obern Ende seines Hinterleibes das weiße Fähnchen. Es hätte nicht viel gefehlt, so wäre er vor Schreck ins Wasser gefallen.
Mühsam zappelte er mit den Beinen, schwang sich wieder auf den Halm und kletterte zum Ufer hinab; er wollte seinem eigenen Bilde entfliehen.
Am Ufer erwarteten ihn erregt die andern Ameisen und sprachen durcheinander:
»Dieses weiße Ding ist verdächtig!«
»Diese Ameise gehört nicht zu unserer Familie.«
»Es ist eine Fremde!«
»Ein Eindringling!«
»Bringen wir sie um!«
»Reißen wir ihr den Kopf ab!«
Der arme Max aber war von seiner Entdeckung so erschüttert, daß er gar nicht daran dachte, sich zu wehren, obwohl er größer und stärker war als seine Gegner. Diese folgten ihrem Instinkt, und trotz der Lehren ihres weisen Professors umzingelten sie unsern Helden und wollten sich wie die Wilden mit aufgesperrten Kieferzangen auf ihn losstürzen.
»Da habe ich viel Erfolg erzielt mit meinem Unterricht!« sprach traurig der Professor und überschaute ungehalten den Tumult.