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11. Eine Ameise, der das Latein Leibweh macht.

Max war wieder in das Innere des Hauses zurückgekommen. Bald sollte er erfahren, daß Ameisen nicht an Verdauungsbeschwerden leiden.

Drunten arbeiteten die Gefährten immer noch glättend, befestigend und erweiternd an dem neu gegrabenen Gang. Als drei dieser Fleißigen unsere Ankömmlinge bemerkten, eilten sie auf diese zu und begannen:

»Wir haben Hunger, wollt ihr uns zu essen geben?«

»Du hast für viere gegessen«, wendete sich Fuska zu Max, »sättige die drei!«

Ehe Max begriff, was sie wohl meinte, hielt eine Arbeiterin ihren Mund an den seinen und saugte ihm eine gehörige Portion vom genossenen Sirup aus dem Leibe.

Er konnte nur ganz einfältig dabei stillhalten.

»Aber das sind dumme Witze!« rief er, als sie fertig war.

Fuska erklärte: »In deinem Kröpfchen hast du einen Teil deiner genossenen Nahrung aufgespeichert. Das ist dein Vorratskämmerchen, aus dem du Larven und hungrige Arbeitsschwestern speisen kannst, wenn diese letzten vor Eifer keine Zeit finden, selber Nahrung zu suchen.«

»Ach«, dachte Max, »bei den Menschen ist das nicht so einfach! Diejenigen Leute, die so viele Zeit, Mühe und Geld anwenden, sich alle Tage toll und voll zu essen, würden sich bedanken, wenn hungrige Leute sie um solche Unterstützung anriefen. Fleißige Ameisen finden also Kameraden, die ihnen das Essen in den Mund stecken, während es genug fleißige Menschen gibt, die manchmal weder Arbeit noch Essen finden, selbst wenn sie mit der Laterne danach suchten! Alle Ameisen haben, so sehe ich, einen unwiderstehlichen Trieb zur Arbeit, was man von den meisten Menschen gewiß nicht behaupten kann!«

Seine Erlebnisse gaben Max einen großen, schönen Begriff von dem weisen, hilfsbereiten, brüderlichen Zusammenleben des Ameisenvolkes, das er als Kind so oberflächlich beachtet hatte. Als er zum ersten Male das Ameisenhaus betrat, hatte er sich mit seinem Verstande den kleinen Insekten hoch überlegen gedünkt. Jetzt aber begriff er, daß die Menschen ihnen kaum etwas voraushatten. Nicht einmal den Honig! Der Zuckersaft, den er verspeist hatte, war ja herrlich!

In einem einzigen Tage hatte er eine neue Welt entdeckt, von der er sich nie hätte träumen lassen.

Leider gibt es aber neben dem Guten auch Schlimmes in jeder Welt.

Das erlebte Max schon am nächsten Morgen, als Fuska zu ihm sprach:

»Heute ist schönes Wetter; da wird die Schule im Freien gehalten. Gehe mit den jungen Ameisen jetzt hinaus.«

Bei diesen Worten verging Max alle Begeisterung. Schlechtgelaunt, verstimmt und ohne Lust schlich er hinaus hinter den andern her. Unter einem großen, schattigen Kürbisblatt hielt man an. Dort stand schon mit ernsten Mienen eine alte, würdevolle Ameise auf einem Kieselsteinchen. Dieses sollte jedenfalls den Tisch des Lehrers bedeuten.

Die Ameislein wisperten und flüsterten sich zu, daß dies die älteste Ameise der Stadt sei, die schon viel von der Welt gesehen und erlebt habe und unendlich viel wisse.

»Meine lieben Ameisen«, so begann der Professor, »es wird euch gut tun, wenn ihr kleinen, vor kurzem geborenen Leute etwas von der Geschichte und der Lebensweise des Ameisenvolkes erfährt.«

Hier räusperte sich der Professor und fuhr fort:

»Wir gehören zur vornehmsten Ordnung der Insekten, zu jener der Hautflügler; diese darf sich rühmen, daß ihr zwei Insektenfamilien angehören, die durch Klugheit, Fleiß und geordnetes Zusammenleben vor andern sich auszeichnen: die Ameisen und die Bienen. Tausenderlei Sippen gibt es bei uns, über die ganze Welt sind wir verbreitet, von der kleinen, arbeitsfrohen braunen Ameise angefangen bis zur riesig großen, räuberischen Eciton, die in kleinen Kolonnen den Wald durchziehen, um Ameisennester zu plündern, die ihnen besonders gefallen. Von der häuslichen, rührigen gelben Schwester bis zur frechen südamerikanischen Raubameise, die des Nachts in die Wohnungen der Menschen einbricht und ihnen das Brot stiehlt. Wir leben in geordneten Volksstaaten. Jeder arbeitet, jeder hat dieselben Pflichten, dieselben Rechte, einer achtet und liebt den andern, und alle sind Brüder einer Familie.« Max sah die Sache ins Breite gehen, und weil er meinte, in der Ameisenschule gälten dieselben Zeichen wie bei den Menschenkindern, hob er schlau sein rechtes Vorderbeinchen in die Höhe, um eilig hinausgehen zu dürfen. Allein der Professor schien ihn nicht zu verstehen.

Er fuhr, ohne Max zu beachten, in seiner Rede fort:

»Ich bin eine alte Ameise, und nach vielen und ernsten Erfahrungen glaube ich, daß in weiten, fernen Tagen unser Volk einer leuchtenden, sonnigen Zukunft entgegengeht. Heute sind wir ja noch durch falsche Überlieferungen, irrige Meinungen und kleinliche Selbstsucht in viele Stämme geschieden und zu gegenseitigem Kampf und Krieg verdammt. Wir kennen heute noch nicht einmal die edle Freude der Gastfreundschaft, und jede fremde Ameise, die unserem Herde in Zutrauen naht, wird von uns grausam ermordet. Allein wer weiß es, ob nicht doch der Tag ersteht, an dem alle Ameisen der Erde ihre Irrtümer einsehen und ihren gegenseitigen Nutzen richtiger erkennen. Sie werden dann ihre sinnlose Feindschaft begraben und alle ihre Kräfte vereinigend das erste Volk der Insekten werden! Dann werden alle Rassen und Stämme von der Mutilla europea bis zur Oecodoma cephalotes –«

»Au, au, o weh, o weh!«

Die fremden Namen der Mutilla und der noch schlimmere cephalotes waren Max so auf die Nerven gegangen, daß er sich vor grimmigem Leibweh nach allen Seiten wand.


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