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An der Haustüre hielt Fuska an und berechnete laut:
»Die Entfernung vom Wurm bis hierher beträgt nach meiner Schätzung hundertzwanzigmal meine Körperlänge.«
In Max dämmerte mit Beschämung das Verständnis auf, warum Fuskas Art zu schreiten so eigentümlich gewesen war.
»Wenn ich gut achtgebe, wie tief ich jetzt abwärts steige, wird es nicht schwer sein, die genaue Richtung zu finden. Frisch ans Werk«, so schloß sie jetzt mit aufmunterndem Wink. Nun schritt man vorsichtig abwärts, bis Fuska bestimmte: »Hier an dieser Stelle beginnen wir den Schacht. Während ich mit der Hälfte von euch grabe, schafft ihr andern sofort das abgegrabene Erdreich weg.«
Max verstand genau, um was es sich handelte.
»Ihr hofft einen Gang zu bauen, der an einen bestimmten Punkt führen soll«, bemerkte er.
»Selbstverständlich, das tun wir«, so riefen alle durcheinander. Er aber, der siebenmal gescheite Vorwitz, sprach gelassen:
»Ihr habt wohl alle den Verstand verloren?«
Von Onkel Walter wußte er, welche Schwierigkeiten es zu überwinden kostete, bis der Gotthardtunnel gebaut war. Nach den verwickeltsten Berechnungen hatte man Jahre der Arbeit gebraucht, bis die Arbeiter, die an den entgegengesetzten Punkten die Bohrungen begonnen hatten, sich unter der Erde endlich begegneten und ein großes Freudenfest feiern konnten.
»Ha«, lachte er in sich hinein, »so etwas wollen Ameisen fertigbringen! Lächerlich.«
»Vorwärts, vorwärts«, stieß ihn Fuska derb an, daß er aus seinen Zweifeln jäh emporfuhr, »stehe nicht müßig! Wer immer grübelt und zögert, erreicht kein Ziel«, brummte sie, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte.
Welch mühsame Arbeit! Eine Stunde schon grub und schaufelte man, und noch war kein Ende abzusehen. Etwas boshaft, wie Max heute aufgelegt war, wendete er sich an Fuska: »Große Ingenieurin, ich möchte mir eine Bemerkung erlauben.«
»Nur keck heraus damit«, sagte sie, die Anrede gutmütig belächelnd.
»Mir will scheinen«, belehrte Max, »der Gang, den wir graben, führt mehr und mehr abwärts. Wir arbeiten ein Loch durch die Erdkugel!«
»Sprich nur weiter«, drängte lachend Fuska.
»Wenn wir das Leben haben, werden wir in ungefähr tausend Jahren in Amerika die Sonne wieder sehen!«
Fuska ließ ihn sprechen, da er fleißig dazu weiterschaffte und grub. Die Tatsachen, so dachte sie, werden es ja lehren, ob er recht behält. Mit sachlicher Ruhe wurde emsig gearbeitet, und man fühlte es bereits – die Erdschicht, die noch zu durchbrechen war, war nur mehr eine dünne Wand. Eine letzte Weisung noch gab die geistvolle Leiterin, und – ein Lichtstrahl drang durch die erlangte Öffnung. Alle sprangen und sangen mit fröhlichem »Hurra!« ins Freie. Da lag er, der Regenwurm, kaum einen Ameisenschritt entfernt, umgeben von den treuen Wächtern, die, ihrer Ablösung froh, vergnügt mitjubelten.
Max aber stand neuerdings überwältigt vor Staunen mit aufgesperrten Kieferzangen da und überlegte das Erlebnis! Kaum aus dem Gespinst geschlüpft, hatte er gesehen, welch umsichtige Hausfrauen und treue Wärterinnen die Ameisen sind. In langen Arbeitsstunden hatte er jetzt erfahren, welch kühne Schachtgräber sie sein können, und jetzt eben erlebte er den glänzenden Beweis ihrer Tiefbaukunst. Was war mehr zu bewundern, der Geist des großen Planes oder die Genauigkeit seiner Ausführung?
»Wie ich mich mit euch freue!« sagte er bewegt zu den Gefährten; »ich hätte nie geglaubt, daß ihr dermaßen geschickt seid.«
»Manchmal«, redete ihn Fuska an und blickte ihm wie Gedanken lesend in die Augen, »manchmal ist das Mißtrauen in anderer Leute Können nur ein versteckter und unfruchtbarer Hochmut. Weil man sich selber zu etwas unfähig fühlt, denkt man, andere werden auch nichts können!«
Dabei räusperte sie sich mit auffallender Langsamkeit, während Max sich mit den Vorderbeinchen verlegen hinter den Fühlern kratzte, denn Fuska sah ihn ein wenig von der Seite an, als ob er ein auf der Tat ertappter Schelm wäre. Aber sie war doch zum Umarmen lieb und gut.
»Na, na«, fuhr sie freundlich fort, »zweifle nur nicht an dir selbst. Heute bist du noch jung, aber in zwei, drei Tagen hast du dieselbe Ausdauer und Berechnungskunst wie wir alle, und du wirst gewiß eine Ameise werden, die unserer Familie würdig ist!«
Da die Sonne sich bereits zum Untergang neigte, beeilten sich die Ameisen, den Regenwurm, der im Nu in den neugegrabenen Gang gezogen war, zu bergen. Der Eingang wurde gleich mit Blättchen, Erdkrumen und Hälmchen fest verbaut. Aus Vorsicht vor nächtlichen Einbrechern und andern Überraschungen schlossen sie sorgfältig das neue Tor zur Wohnung. Die Schlange aber lag in einer Kammer des Hauses wohlgeborgen.
Wie sie ausgestreckt dalag, erinnerte sich Max jener Schulaufgabe, die von der Klugheit der Ameisen handelte. Es war die Fabel von der sorglosen Grille und der fleißigen Ameise, die er gelernt hatte und als Aufsatz niederschreiben sollte. Darum urteilte er jetzt nach dem Gelernten und sagte in frohlockendem Tone: »Ein prachtvoller Wintervorrat! Das gibt einen herrlichen Sonntagsbraten!«
»Vorrat für den Winter?« Fuska sah Max verwundert dazu an.
»Gelt«, erwiderte Max stolz auf sein Wissen, »gelt, du meinst, ich weiß es nicht, wie fleißig wir im Sommer arbeiten, damit wir auch im Winter etwas Gutes zu essen haben, wenn wir wegen der Kälte nicht ausgehen können.«
Da lachten alle Umstehenden aus vollem Halse.
»Nein, wie er töricht plaudert«, riefen sie, »wer wird denn im Winter essen?«
»Nicht essen? – Den ganzen Winter nichts essen?«
»Im Winter schlafen wir doch!«
»Liebe Fuska, höre doch, was sie sagen!«
»Freilich«, bestätigte sie schmunzelnd über sein enttäuschtes Gesicht, »was sollten wir den ganzen unfreundlichen, kalten Winter über Besseres tun?«
»Da schlafen wir immerfort, einen einzigen, guten, langen Schlaf?«
»Ja, so ist es, Lieber.«
»Wie können denn nur die Menschen«, so dachte jetzt Max, »ihren Kindern solche Geschichten erzählen von Tieren, die sie gar nicht ordentlich kennen!« Er war ganz müde vom Denken und den vielen neuen Eindrücken und fragte nun gähnend:
»Und jetzt? Heute gehen wir gewiß recht bald schlafen?«
»Was denkst du? Nachts verrichten wir unsere Hausarbeit!«
»Immer arbeiten!« brummte Max. »Aber der lange Schlaf im Winter ist nicht übel. Was hat man doch als Kind für eine Schererei, sich abends auszuziehen, ins Bett zu legen, dann wieder alle Morgen aufstehen, anziehen, waschen, kämmen und so fort, bis abends dieselbe Leier wieder beginnt, und alle Tage so weiter, ein ewiges Einerlei!«
Dies sagte er aber nur still zu sich selber.