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Der Falke und die Heuschrecke.

»Wisse,« hub er an, »daß ein Falke und eine Heuschrecke ihre Nester nahe beieinander hatten. Die Heuschrecke sehnte sich nach der Freundschaft des Falken. Darum näherte sie sich ihm eines Tages und sprach: »O Herr und Fürst der Vögel, ich bin ganz entzückt über deine Nähe und fühle mich veredelt durch deine Nachbarschaft.« Der Falke dankte ihr für diese Gesinnungen und verstattete ihr, ihn öfter zu besuchen, woraus bald eine nähere Freundschaft entstand. Da sprach eines Tages die Heuschrecke zu ihm: »Wie kommt es doch, daß ich dich stets so einsam und zurückgezogen sehe? Nie bemerke ich einen Freund von deiner Art bei dir, aus den du in den Tagen der Trübsal bauen und mit dem du dich bei langer Weile unterhalten könntest; denn das Sprichwort sagt: Der Mensch erhält seine Ruhe und seine Kraft nur durch einen Genossen, der noch mehr als er selbst das Bedürfnis der Freundschaft fühlt. Aus einem solchen Verhältnisse bloß entsteht Freude, und auf einen solchen Freund bloß kann man in Trübsal bauen. Da ich nun selbst zu schwach bin, um für dich das zu sein, was du berechtigt bist zu erwarten, und ich doch dein Wohl wünsche, so überlaß es mir, daß ich dir einen Vogel aussuche, der dir an Gestalt und an Kraft gleichkomme.« – »Das will ich dir gern gestatten,« erwiderte der Falke, »und ich werde mich hierin ganz auf dich verlassen.« Hierauf suchte die Heuschrecke unter einer Unzahl von Vögeln einen aus, der ihr an Gestalt und Wesen dem Falken gleich zu sein schien, und zwar den Geier. Sie schloß mit ihm Bekanntschaft und wies ihn an den Falken, um mit diesem Freundschaft zu halten. Einst traf es sich, daß dieser krank wurde, während welcher Zeit der Geier den Falken pflegte, bis er wieder genas. Als aber nach kurzer Zeit ein Rückfall eintrat und der Falke wieder Pflege bedurfte, brachte die Heuschrecke einen Adler mit, der sie beide auffraß. Dies geschah, weil die Heuschrecke keine Kenntnis von dem Wesen und Charakter der Tiere hatte. »Du aber, lieber Freund,« fuhr der Kaufmann fort, »hast durch List mir zu helfen gesucht; doch keine List hilft gegen das Geschick, und die Vorherbestimmung überwältigt alle Vorsichtsmaßregeln. – Wie schön und richtig ist daher, was der Dichter sagt:

»Oft entgeht der Blinde dem Graben, in welchen der stolze Sehende hineinfällt.

Oft unterliegt der Listige und Weise einem ausgesprochenen Worte, wovon der Tor ohne Schaden davonkommt.

Oft ist der Rechtgläubige und Fromme in seinem Lebensunterhalt beschränkt, während der Ungläubige und Gottlose in Fülle und Überfluß ist.

Was nützt da dem Listigen seine List, da dieses alles Fügung des Geschicks ist.«

Doch diese Geschichte ist nichts gegen die von dem Könige und der Frau des Kammerherrn.

 


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