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Der weise Mann und seine drei Söhne.

Ein weiser Mann hatte drei Söhne, die ebenfalls Kinder hatten. Als sich mit den Jahren ihre Familie sehr vermehrte und Uneinigkeiten unter ihnen entstanden, versammelte er sie und gab ihnen folgende Lehren: »Seid einig gegen jeden, der wider euch sein will, verachtet euch nicht untereinander, sonst verachten euch die Leute. Ihr gleicht einer Unzahl von Leuten, die einen Berg durchstechen wollten; ihre Arbeit ging schnell vorwärts, solange sie einig waren, und zuletzt blieb nur einer von ihnen übrig, der dieser Arbeit unterlag. Dieses ist das Bild der Einigkeit und der Uneinigkeit. Besonders aber hütet euch, Fremde gegen einige unter euch zu Hilfe zu rufen. Dieses würde euch den Untergang bereiten; denn jeder, durch dessen Hilfe ihr gesiegt haben werdet, wird seine Befehle den eurigen vorgezogen wissen wollen. Noch will ich euch sagen, daß ich Reichtümer besitze, die ich an einen Ort vergraben will, wo ihr sie zur Zeit der Not finden könnt.«

Hierauf verließen sie den Vater und zerstreuten sich. Einer aber unter ihnen lauerte seinem Vater auf, um zu sehen, wo er diese Schätze hin vergraben würde; und er bemerkte auch wirklich, daß er sie außerhalb der Stadt verbarg. Am folgenden Tage ganz früh begab sich der Sohn an den Ort, grub den Schatz aus, hob ihn und ging damit von dannen.

Als der Vater seinen letzten Augenblick herankommen sah, versammelte er seine Söhne und zeigte ihnen genau den Ort an, wo er seine Reichtümer verborgen hatte. Sowie er nun gestorben war, gingen sie hin, um sie auszugraben, und fanden einen unermeßlichen Schatz, den sie unter sich verteilten. Dasjenige nämlich, welches der eine Sohn früher genommen hatte, befand sich gleich unter der Oberfläche der Erde, und er ahnte nicht, daß sich unterwärts noch größere Schätze befinden würden.

Dieser eine nahm also sein Teil auch noch mit und legte es zu dem früher heimlich Genommenen. Kurz darauf heiratete er seine Nichte, mit der er einen Sohn zeugte, der sehr schön wurde. Bei herannahendem Alter begann er nun zu fürchten, daß dieser Sohn arm werden und daß überhaupt seine Betrügerei entdeckt werden möchte. Er rief ihn daher eines Tages zu sich und sagte zu ihm: »Mein Sohn, wisse, daß ich meine Brüder in meiner Jugend bei der Teilung des Vermögens meines Vaters schändlich betrogen habe. Mich freut es, dich so gut geraten zu sehen. Wenn du also in Not kommst und etwas brauchst, so bitte keinen von ihnen um etwas, noch sonst jemanden; denn ich habe dir in diesem Hause einen Schatz vergraben, den du aber nicht eher öffnen mußt, als bis du ihn zur höchsten Notdurft brauchst.«

Kurze Zeit darauf starb der Mann, und sein beträchtliches Vermögen fiel seinem Sohne zu. Dieser konnte es aber nicht erwarten, sondern, ohne es nötig zu haben, machte er sich auf und erbrach den Ort, wo der Schatz verborgen war. Aber wie groß war sein Erstaunen, als er nichts als einen leeren blendend weiß übertünchten Raum fand, in dessen Mitte von der Decke herab ein Strick hing.

 

Achthundertundvierundneunzigste Nacht

Senkrecht unter dem Stricke bemerkte er noch zehn aufeinandergestellte Ziegel und einen Zettel, auf dem folgende Worte standen: »Der Tod ist unausbleiblich. Dir bleibt in deiner Lage nichts übrig, als dich zu erhängen. Bitte daher keinen von meinen Brüdern um etwas, noch irgend jemanden andern, sondern stoße die Ziegel mit deinem Fuße voneinander, damit dir keine Möglichkeit zur Rettung übrig bleibt. Da wirst du Ruhe haben vor den Spöttereien der Feinde, der Neider und von der Bitterkeit der Armut.« Es ist nicht möglich, die Empfindungen zu beschreiben, die sich des jungen Mannes bemächtigten. »Ach,« rief er aus, »welchen schlechten Schatz hast du mir hier aufbewahrt!«

Voll Verzweiflung ging er nun aus und verschwendete sein Vermögen mit seinen Freunden in der Hoffnung, daß sie sich dereinst auch als solche bewähren würden. So vergeudete er denn seine Reichtümer so leichtsinniger Weise, daß ihm nach kurzer Zeit nichts mehr davon übrig blieb.

Nach vielen kummervollen Augenblicken hatte er schon zwei Tage lang nichts genossen; da verkaufte er seinen Schal, der ihm als Turban diente, für zwei Drachmen und kaufte dafür Brot und Milch, welches beides er hinsetzte, um noch etwas anderes einzukaufen. Als er zurückkehrte, fand er indes, daß ein Hund sein Brot gefressen und die Milch umgestoßen habe. Ganz voll Verzweiflung ging er nun auf die Straße hinaus, indem er sich fortwährend das Gesicht zerschlug, hier begegnete er einem seiner besten Freunde und entschloß sich, demselben seinen Zustand zu offenbaren.

»Wie,« rief jener aus; »schämst du dich nicht, so töricht zu sprechen? Wie kannst du vorgeben, dein unermeßliches Vermögen vertan zu haben? Wie kannst du noch die Lüge hinzufügen und behaupten, ein Hund sei auf den Rand gestiegen, habe dein Brot gefressen und deine Milch umgestoßen?« Er endigte zuletzt damit, daß er ihn noch derb tadelte. Dieses konnte der Jüngling nicht ertragen. Er ging nach Hause voll Verzweiflung im Herzen und vermochte nur die Worte hervorzubringen: »Ach, wie wahr hat mein Vater geredet!« hierauf ging er in das Kabinett, stieg auf die Ziegel, band sich den Strick um den Hals und schob die Ziegel mit den Füßen fort. Sie rollten voneinander, der Strick riß, und aus der Decke stürzten eine Menge von Kostbarkeiten auf ihn herab. Er suchte weiter nach und entdeckte einen Reichtum, der alle seine Erwartungen weit übertraf. Nun merkte er erst, daß sein Vater ihn durch dieses Mittel habe klug machen wollen.

Als er nach und nach seine verkauften Güter und Ländereien wieder an sich gebracht hatte, kehrten seine Freunde wieder zu ihm zurück, die er gut aufnahm und köstlich bewirtete.

Eines Tages erzählte er ihnen, daß, als sein Vater noch gelebt hätte, Heuschrecken in sein Haus gedrungen wären und einen bedeutenden Vorrat von Brot aufgegessen hätten. »Als wir das sahen,« fuhr er fort, »legten wir an die nämliche Stelle ein Granitstück von der Breite und Länge einer Elle; allein die Heuschrecken, die den Geruch des Brotes noch wahrnahmen, zernagten das Granitstück des Brotgeruchs wegen.« Da sagte ihm jener selbe Freund, der ihn vorher Lügen gestraft hatte, als er ihm sein Unglück mit dem Brote und der Milch erzählt hatte: »Darüber darfst du dich nicht wundern, die Mäuse tun täglich mehr als das.« – »Nun habe ich genug,« rief der nun klüger gewordene junge Mann aus, »verlaßt mich; denn als ich arm war, glaubte man mir nicht, daß der Hund mein Brot gefressen und meine Milch vergossen hätte, und heute, nun ich wieder reich bin, glaubt man mir, daß Heuschrecken ein Granitstück von der Länge und Breite einer Elle zernagen konnten.« Da fühlten sie sich beschämt, verließen ihn, und der junge Mann genoß bis ins späteste Alter in Ruhe sein Vermögen.

Doch wo bleibt diese Geschichte neben derjenigen von dem Könige, welcher in ein Bildnis verliebt war?

 


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