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34

Nuber war ein Mensch, der den Schlaf zeitweilig vollkommen entbehren zu können schien. Die ganze Nacht hatte er sich tapfer an der Brandstätte betätigt, war erst gegen sieben Uhr früh nach Hause gekommen und brachte es dennoch fertig, noch weitere zehn Stunden zu arbeiten. Eine knappe Stunde Schlaf am Nachmittag genügte vollauf, um ihn wieder frisch und munter zu machen. Als Muratow und Nina ihn in den frühen Abendstunden in seiner Wohnung aufsuchten, merkte man ihm nichts von den Strapazen der Nacht und des darauffolgenden Tages an.

Liebenswürdig und höflich wie immer, wies er seinen beiden Gästen Plätze an und reichte ihnen in hübschen, zierlichen Tassen dampfenden Mokka.

»Wir wollen gleich zur Sache kommen«, sagte er, nachdem er sich behaglich in einen Sessel geworfen und eine seiner Zigaretten in Brand gesetzt hatte. »Ich glaube, daß ich Fräulein Nina eine Erklärung schuldig bin.«

»Ich habe lange über die Geschichte nachgedacht, Herr Nuber«, rief das Mädchen hastig. »Sie haben mir gestern das Leben gerettet. Darum – – – Nun, wenn diese Erklärung Ihnen unangenehm ist, unterlassen Sie sie!«

Nuber lächelte bedenklich und ein wenig bitter.

»Nein, Fräulein Nina«, sagte er bestimmt. »Bis gestern dachte ich, kein Mensch habe ein Recht, eine solche Erklärung von mir zu verlangen. Seit dem Augenblick aber, als Sie mir zuriefen, ich sei nicht Nuber, ist es mir klar geworden, daß Sie ein Recht darauf haben. Folglich ist es meine Pflicht!«

»Was heißt – Sie sind nicht Nuber?« erkundigte sich Muratow ratlos.

»Fräulein Nina hat sich nicht geirrt«, entgegnete Nuber ernst. »Es stimmt. Ich heiße nicht Nuber.«

Muratow lachte kurz auf.

»Das ist doch Unsinn! Ich kenne Sie doch wahrhaftig ...«

»Lassen Sie mich erzählen«, fiel ihm Nuber schnell ins Wort. »Dann urteilen Sie bitte, ob Sie mich wirklich so genau kennen!«

Muratow schwieg. Nuber drückte seine Zigarette aus und steckte sich sogleich eine neue an.

»Mein richtiger Name ist Günther Alfred zur Mühlen. Schon in jungen Jahren kam ich als Attaché der Gesandtschaft nach Kanada. Ich lebte ein sorgenfreies, genußreiches Leben, war überall geachtet und gern gesehen. Meine Heirat mit einem der liebreizendsten Mädchen aus einer einflußreichen Familie stand unmittelbar bevor. Da brach des Unglück herein.

Eines Morgens wurde ich aus dem Bett gerissen und auf der Stelle verhaftet. In der Gesandtschaft war eingebrochen worden, und wichtige Dokumente sowie eine große Summe Geldes waren verschwunden. Der Wächter aber lag tot, ermordet, neben dem geöffneten Kassenschrank.

Die Indizien sprachen gegen mich. Der Tresor war nicht erbrochen, sondern regelrecht mit einem Schlüssel geöffnet worden. Außer mir besaß aber einen solchen nur der Gesandte selbst. Und dieser war natürlich über allen Verdacht erhaben. Dazu kam noch der Umstand, daß sich in meinem Zimmer eines der gestohlenen Dokumente vorfand. Und zwar in einer Aktentasche, die ich tags zuvor im Zimmer des Gesandten einen Augenblick liegen ließ, als der Gesandte mich unter einem nichtigen Vorwand hinausschickte.

Heute bin ich davon überzeugt, daß der Gesandte selbst es war, der den Raub und den Mord beging und dann den Verdacht auf mich zu lenken wußte. Heute würde ich in einem ähnlichen Fall wohl auch imstande sein, meine Unschuld zu beweisen. Aber damals – Gott, ich war in solchen Dingen so unerfahren wie ein neugeborenes Kind!«

Nuber schwieg. Wie traumverloren und geistesabwesend saß er in seinem Sessel und starrte nachdenklich vor sich hin. Dann fuhr er etwas hastig in seiner Erzählung fort:

»Nun, ich wurde immer wieder von neuem verhört. Schließlich war ich mir darüber klar, daß nichts mehr mich vor der Verurteilung retten könnte. Da brach ich eines Nachts aus und floh in die Berge.

Ich wäre verhungert – denn nie hätte ich mich zurückgewagt. Doch stieß ich am zweiten Tage auf eine Räuberbande. Es waren Tramps. Die gefährlichere Sorte, die sich nie ohne Schußwaffe blicken läßt. Diese Tramps nahmen sich meiner ziemlich liebevoll an. Was sie eben unter ›liebevoll ‹ verstanden ... Zu allererst schlugen sie mich windelweich. Das nannten sie – mir Unerschrockenheit und Selbstbewußtsein beibringen! Bis zum heutigen Tage ist mir der Zusammenhang zwischen Prügel und Selbstbewußtsein nicht ganz klar geworden.

Nachher prüften die Banditen meine Papiere und lasen in den Zeitungen über mein Verbrechen nach. Dann gaben sie mir noch ein paar Fußtritte zur Strafe für meine Dummheit, wie sie sagten ... Solche Papiere müßten vernichtet werden! Ich war aber damals viel zu sentimental, um die letzten Erinnerungszeichen an ein einstiges, glückliches Dasein zu vernichten. Ich trennte das Futter der hohen Schaftstiefel, die ich von den Banditen bekommen hatte, auf und nähte dort die Papiere ein. Diese Sentimentalität – so sehr ich sie heute verurteile – war es, die es mir später möglich machte, doch wieder Mensch zu werden.«

Nuber erhob sich, verschränkte die Arme auf dem Rücken und begann langsam auf und ab zu gehen. Er hatte den Kopf gesenkt, und seine Stimme klang gepreßt, als er weiter erzählte.

»Von nun an führte ich das Leben eines Banditen, eines Tramps. Ich wurde sogar so ehrgeizig, daß ich es in allem besser machen wollte als meine Kollegen. Vor keinem noch so gefährlichen Wagnis schreckte ich zurück. Was ich noch nicht konnte, lernte ich. Mit einem Eifer, der eines Besseren würdig gewesen wäre. Der eine der Banditen mußte mir das Boxen beibringen, der andere Jiu-Jitsu, der dritte Scharfschießen, der vierte Messerwerfen, Fechten und dergleichen mehr. Ich ließ nicht eher nach, als bis ich es meinen Lehrern gleich tat. Und nach zwei Jahren wählten die Banditen mich als den Rauhesten von allen zum Führer. Und gar bald war mein neuer Name ›Der grausame Fred‹ weit und breit in der Umgebung bekannt. Und wieder fahndeten die Behörden nach mir ...«

»Sie erzählen Märchen!« unterbrach Muratow den Sprecher mit einem ungläubigen Lächeln. »Sie haben uns zum besten! Sie, der peinlichste von uns Kriminalbeamten, wollen ein regelrechter Bandit gewesen sein? Es ist ja ganz undenkbar, daß ein Mensch sich derart verändern kann!«

»Sie vergessen, daß ich in ganz anderen Verhältnissen erzogen und aufgewachsen bin«, entgegnete Nuber und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Und dann – Sie müssen erst meine Geschichte zu Ende hören. Ich hatte nämlich gute Gründe zu einer so gründlichen Veränderung. Ah, ich sehe, Fräulein Nina hat mich bereits verstanden! Sie kennt einen Teil meiner Geschichte. Den Teil, den ich selbst bis jetzt nicht kannte. Nicht einmal ahnte. Leider! Aber – lassen Sie mich in meinem Bericht fortfahren!

In die Zeit, von der ich vorhin sprach, fiel ein Ereignis, das ich trotz seiner sofortigen unangenehmen Folgen vollständig vergessen hatte. Unser Leben war damals reich an Gefahren, Schmerzen und Entbehrungen. Da vergißt man leicht. Erst vor kurzem fiel mir dies Ereignis wieder ein. Es gibt uns nämlich den Schlüssel zu dem Entstehen der Bande der ›Unbarmherzigen‹. Darum erwähne ich es jetzt.

Unter allen Tramps meiner Bande befand sich ein einziger, der es annähernd mit mir an Kraft und Gewandtheit aufnehmen konnte. Er war aber noch nicht lange bei uns und, obwohl er gute Aussichten hatte, mich mal abzusetzen, schien ihn der stolze Titel ›Bandenführer‹ nicht zu reizen. Tag und Nacht sann er auf Flucht. Auch ich hatte ja anfangs nichts anderes getan, doch war es mir seitdem längst zur schmerzlichen Gewißheit geworden, daß ich unter freien, ehrlichen Menschen keinen Platz mehr hatte. Wie ein räudiges Tier würden sie mich hetzen und erst Ruhe geben, wenn ich hinter Schloß und Riegel saß.

Nun war aber Flucht bei uns fast gleichbedeutend mit Verrat. Wir mußten ja stets des Schlimmsten gewärtig sein, wenn es mal einem der Unsrigen, der alle Schlupfwinkel kannte, zu entkommen gelang. Als daher eines Nachts der vorhin erwähnte Mann tatsächlich die Flucht ergriff, setzte ich ihm unverzüglich nach. Vierundzwanzig Stunden darauf hatten wir den gänzlich Erschöpften glücklich erwischt. Unserem Brauch gemäß wurde er bis zur Bewußtlosigkeit verprügelt, dann aber tat ich ein Übriges und ließ ihm auf der Brust mit glühendem Eisen das Zeichen einer Schlange einbrennen.«

»Das Zeichen des Großen Unbarmherzigen!« rief Muratow überrascht. »Mit Kopf oder ohne Kopf?«

Nuber zuckte die Achseln.

»Wir kümmerten uns sehr wenig um das Künstlerische der Sache«, sagte er mit einem leisen Lächeln. »Es mag schon so ausgefallen sein, daß man nachher sagen konnte, die Schlange hätte keinen Kopf. Zur Unterscheidung von einer anderen Schlange nämlich.«

»Und diese andere Schlange, die Schlange mit Kopf haben Sie?«

»Ja. Das war die Rache des Mannes. Nennen wir ihn ruhig den Großen Unbarmherzigen. Allerdings wurde er dies erst viel später. Er brannte mir das Zeichen der Schlange ein halbes Jahr später auf. Er war nämlich noch einmal, und zwar mit zehn Gefährten geflohen. Diesmal gelang es mir nicht, ihn zu fassen. Wohl aber wurde ich zwei Wochen nach der geglückten Flucht bei einem meiner einsamen Streifzüge von den Flüchtigen erwischt. Da mußte denn meine Brust daran glauben! So, und jetzt komme ich zu dem wichtigsten Teil meiner Erzählung!

Einige Monate waren vergangen. Eines Tages, als ich im Gebirge herumkletterte, erblickte ich in einer einsamen Schlucht eine menschliche Gestalt. Es war ein Mann, der allem Anschein nach von einem Abhang abgestürzt war. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerschunden, die ganze untere Partie glatt weggerissen. Ich durchsuchte seine Taschen. Zu meiner ungeheuren Verblüffung fand ich in neuen amerikanischen Banknoten die Summe von rund 25 000 Dollar. Außerdem befand sich in der Brieftasche des Toten ein Reisepaß auf den Namen des Kriminalinspektors Herbert Nuber.

Eine Weile saß ich neben der Leiche und sann darüber nach, was ich wohl anfangen würde, wenn ich mich mit diesem Gelde unter freie Menschen wagen dürfte. Und dann durchzuckte mich plötzlich der Gedanke, daß sich mir ja hier die Möglichkeit dazu bot.

Wie im Fieberwahn handelte ich. Ich könnte Ihnen nicht beschreiben, wie alles zuging. Erst als ich nach endlos langer Zeit wieder sauber gewaschen, rasiert und gekämmt und tadellos gekleidet auf dem Dampfer der Hapag-Linie saß, kam mir die ganze Tragweite meiner Handlungsweise zum Bewußtsein. Vor allem auch die Gefahr, in der ich von nun an ständig schweben würde. Ein Zurück aber gab es nicht mehr.

Stundenlang grübelte ich. Endlich stand mein Entschluß unverrückbar fest. Ich hatte mir vorgenommen, die Rolle Nubers auch weiter zu spielen. Mehr als zu spielen! Ich wollte jener verstorbene Nuber werden! Und diesen Entschluß führte ich durch.

Ich stahl ihm alles! Ich stahl sein Gesicht, ich stahl seinen Charakter, sogar seine kleinen Gewohnheiten. Nicht einmal vor seiner Stellung machte ich halt. Obwohl ich genau wußte, daß dies für mich verhängnisvoll werden konnte.

Soll ich Ihnen von diesen Gefahren erzählen? Soll ich Ihnen schildern, wie ich maskiert und verkleidet in dem Geburtsort Nubers einem seiner Freunde gegenüber saß und ihn über Gewohnheiten, Lebensweise, Vermögenslage, Verwandte und Freunde des Verunglückten aushorchte? Wie ich endlich im Besitz all dieser Kenntnisse, im Besitz einiger Photographien Nubers im Kriminalamt vorsprach, um meinen Dienst wieder anzutreten? Wie ich dann nächtelang zu Hause über kriminalistischer Fachliteratur saß, wie ich in ständiger Furcht vor Entdeckung die ersten mir übertragenen Aufgaben löste? Es würde zu weit führen! Genug, ich spielte keine Rolle, ich wuchs in diesen Nuber hinein. Ich lebte in ihm. Ich war einfach – er!

Und trotz alledem war ich mir immer dessen bewußt, daß an irgendeinem beliebigen Tage die Entdeckung des wahren Sachverhalts erfolgen konnte. Denn es gab im Leben Nubers einen Punkt, über den ich mir keine Klarheit verschaffen konnte. Nämlich über die Herkunft der 25 000 Dollar! Nuber war mir übereinstimmend als ein armer Schlucker, der in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte, geschildert worden. Er hatte nichts außer seinem Gehalt. Ich konnte nicht einmal herausbringen, woher er das Reisegeld nach Kanada genommen hatte, geschweige denn die 25 000 Dollar. Und irgend jemand mußte doch davon wissen. Solche Summen findet man nicht einfach auf der Straße.«

»Ich kann es Ihnen erklären«, sagte Nina leise.

Nuber nickte. Er schien nicht im geringsten verwundert. Muratow dagegen starrte das Mädchen völlig entgeistert an.

»Sie, Nina?« murmelte er verblüfft. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich war mit diesem Nuber verlobt«, antwortete sie kurz.

»Verlobt?« stotterte Muratow.

»Ja«, nickte das Mädchen. »Aber lassen Sie mich erzählen! Ich war damals noch ein ganz junges, dummes Ding. Inspektor Nuber verkehrte viel in unserem Hause, er war der Vertraute meines Vaters. Und dann hielt er um mich an. Mein Vater sagte in meinem Namen zu, und ich widersprach nicht. Das ist soweit alles. Nun hatte aber mein Vater einen Verwandten in Kanada. Eines Tages erfuhren wir von seinem Tode und von einer kleinen Erbschaft, die er uns hinterlassen hatte. Mein Vater sollte nach Kanada fahren, um das Geschäftliche an Ort und Stelle zu erledigen. Er überlegte es sich aber sehr, da er schon lange gesundheitlich nicht mehr so recht auf der Höhe war. Wie dem nun auch sei, nach einigem Hin und Her wurde beschlossen, daß statt seiner Inspektor Nuber fahren sollte. Er nahm sich einen Monat Urlaub, mein Vater rüstete ihn mit einer Generalvollmacht aus, und er verschwand. Spurlos. Wir hörten nie mehr etwas von ihm.

Nach Monaten erst erfuhren wir die ganze traurige Wahrheit. Auf dem Besitz unseres verstorbenen Verwandten waren Ölquellen entdeckt worden. Das Grundstück, das bis dahin einen Wert von höchstens 5000 Dollar hatte, war über Nacht zu einem Wertobjekt ersten Ranges geworden. Nuber hatte es um einen Spottpreis von 25 000 Dollar verschleudert und war mit dem Gelde auf und davon. Alle unsere Nachforschungen blieben ergebnislos. Wir suchten ja nur in Kanada! Eine einfache Anfrage bei den deutschen Behörden hätte genügt. Das sehe ich jetzt ein. Aber damals – es schien doch vollkommen ausgeschlossen, daß Nuber je nach Deutschland zurückkehren würde.

Nun, mein Vater starb bald darauf. Zum Teil mögen der Kummer und die Enttäuschung sein vorzeitiges Ende herbeigeführt haben. Und ich – ich geriet auf Abwege ... Ich stand ja gänzlich mittellos da und kannte das Leben nicht. Das ist meine Geschichte.«

Nina schwieg. Nuber runzelte die Stirn.

»Also das war er ...« murmelte er nachdenklich. »Ein Schuft, ein Mensch, der das Vertrauen anderer mißbrauchte!« Plötzlich wurde sein Gesicht hart und feindlich, »Und ich kann nicht einmal zum Teil wiedergutmachen, was mein anderes Ich verschuldet hat. Jahrelang habe ich das Geld aufbewahrt. Für den Fall, daß einmal jemand kam, der es von mir zurückfordern konnte. Und jetzt habe ich es nicht mehr. Durch das Verschulden eines niederträchtigen Bankiers habe ich alles, alles verloren, Fräulein Nina!«

»Ich weiß«, sagte das Mädchen tonlos. »Aber Sie können nichts dafür. Sie wollten das Beste ...«

»Das wollte ich!« sagte Nuber bestimmt. Dann wandte er sich langsam Muratow zu und blickte ihm voll in die Augen. »Nun wissen Sie, wen Sie vor sich haben, Kollege. Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Die Pflicht gebietet eine Anzeige«, erklärte der andere bedächtig.

»Wenn Sie das tun, Muratow«, rief Nina heftig, und Zorn flammte in ihren Augen auf, »wenn Sie das tun, ist zwischen uns alles aus!«

»Was ist zwischen uns aus«, erkundigte sich Muratow hinterlistig, und um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.

Nina war rot geworden.

»Nichts!« stieß sie feindselig hervor.

»Sie machen sich der Beamtenbestechung schuldig!« sagte Muratow mit tödlichem Ernst. Dann, zu Nuber gewandt, fuhr er fort: »Ich werde keine Anzeige erstatten, Kollege! Ich will nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes gehen. Was ist denn der eigentliche Sinn einer Bestrafung? Soll es Rache des Staates sein? Sogar die Paragraphenmenschen behaupten, die Strafe solle zur Besserung oder zur Vernichtung dienen, je nachdem, ob im gegebenen Fall berechtigte Hoffnung auf eine Besserung des Verbrechers vorhanden ist oder nicht. Nun sehe ich aber wahrhaftig nicht ein, was an Ihnen das Zuchthaus bessern soll. Sie haben diese Besserung durch eigene Energie und eisernes Wollen längst erreicht. Darum, Nuber, werde ich Sie nicht anzeigen!«

»Danke!« sagte der andere einfach. »Übrigens, Muratow, ich bin auch Ihnen eine Erklärung schuldig.«

»Wieso?«

»Sie glaubten doch eine Zeitlang auch, daß ich der Große Unbarmherzige sei?«

»Das stimmt!« nickte Muratow. »Die Stimme des Großen Unbarmherzigen klang der Ihren verblüffend ähnlich. Dazu kam noch das merkwürdige Zusammentreffen mit der vergossenen Tinte ...«

»Da ist doch nichts Merkwürdiges dabei«, entgegnete Nuber lächelnd. »Natürlich war ich es, dem Sie die Tinte über die Finger schütteten und dessen Stimme Sie erkannten.«

»Dann ... dann ...« stammelte Muratow verwirrt.

»Nein, ich bin nicht der Große Unbarmherzige«, fiel ihm Nuber ins Wort. »Ich spielte damals nur vorübergehend seine Rolle, um Sie aus der Klemme zu retten. Ich hatte nämlich Ihr Gespräch mit von Gorny belauscht. Nun kannte ich dieses Früchtchen aber wahrhaftig schon zur Genüge. Mir schwante nichts Gutes. Daher nützte ich die erlangten Kenntnisse aus, kam genau so wie Sie bis in den Hof und verbarg mich dort. Ich zählte die eintretenden Gestalten. Die zwölfte und letzte machte ich nieder und nahm ihr die Maskierungsstücke ab. Leider kam der Kerl etwas zu früh zu sich, was für Sie recht unliebsame Folgen haben konnte. Da mußte ich denn eingreifen.«

»So war das!« rief Muratow lachend. »Aber warten Sie mal – ich verstehe nicht, warum Sie dann dem zum Tode verurteilten Verbrecher nicht beistanden. Sie konnten ihn doch mit genau demselben Kniff ebenfalls retten!«

»Natürlich konnte ich das«, bestätigte Nuber ernst. »Aber Sie verkennen die Sachlage. Was ich tat, war nämlich ein großes Wagnis. Ich wußte doch damals gar nicht, ob nicht etwa der Große Unbarmherzige tatsächlich anwesend war. In diesem Fall waren Sie und ich verloren. Rettungslos! Es ist ein Unterschied, lieber Muratow, ob man sein Leben aufs Spiel setzt, um einen Kollegen herauszubeißen oder aber einen Verbrecher, der ohnehin den Galgen verdient.«

»Sie haben recht«, erwiderte Muratow nachdenklich. Plötzlich blickte er erstaunt auf. Vom Treppengang wurde lautes Gepolter hörbar. Gleich darauf schrillte die Klingel.

Nuber stand auf und ging, die Tür zu öffnen.

Herein stürzte Oberinspektor Halle. Sein Atem ging ruckweise, und sein Gesicht war feuerrot. Krachend warf er sich in einen Sessel.

»Ich habe den Großen Unbarmherzigen verhaftet!« platzte er heraus.

In den Mienen der Anwesenden malte sich Überraschung.

»Bravo!« rief Muratow erfreut. »Wer ist es?«

»Er heißt Gabriel!« erklärte Halle stolz.

»Hm ...« brummte Nuber. »Hat er gestanden?«

Halle lachte kurz auf.

»Der Halunke leugnet noch. Aber es wird ihm nichts nützen. Er hat nämlich das Zeichen der Schlange auf der Brust.«

Nuber antwortete kein Wort. Er trat an den Fernsprecher, der gerade ein schwaches Klingelzeichen gegeben hatte.

»Herr Halle«, sagte Nuber nach einer Weile. »Sie werden am Apparat gewünscht.«

»Ich?« rief Halle verwundert. »Ach ja! Ich habe doch im Amt gesagt, daß ich zu Ihnen gehe.« Er nahm den Hörer in die Hand. »Na, was gibt es denn schon wieder? Wie? Was reden Sie da? Das ist doch wirklich ... Da kann man ja irrsinnig werden ... Gut! Schon recht!«

Er hängte ein.

»Haben Sie Worte, Nuber?« würgte er hervor. »Eben erfahre ich, daß im Krankenhaus ein Mann seinen Brandwunden erlegen ist, der ebenfalls auf der Brust das Zeichen einer Schlange hat!«

»So? Ist er gestorben?« sagte Nuber langsam. »Das habe ich erwartet. Dies ist mein ehemaliger Diener. Ich sprach ihn vor einigen Stunden. Er hat gestanden, daß er nicht der Große Unbarmherzige ist.«

»Gestanden, daß er nicht ... nicht der Große Unbarmherzige ist? Sie reden wohl irre?«

»Durchaus nicht«, versetzte Nuber kühl. »Er wollte sich nämlich für den Großen Unbarmherzigen ausgeben. Ebenso Gabriel. Beide brannten sich das Zeichen ein, um vor gegenseitigem Verrat sicher zu sein. Das gestand mein ehemaliger Diener, weil er merkte, daß er sterben würde. Ich wußte das alles aber bereits.«

»Dann wissen wir also wieder nicht, wer eigentlich der Große Unbarmherzige ist!« stöhnte Halle verzweifelt.

»Doch, ich weiß es«, sagte Nuber ernst. »Es gibt keinen Großen Unbarmherzigen mehr. Er ist tot.«

»Wer? Wer?« stotterte Halle. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß es ... daß es von ... von Gorny war?«

Nuber schüttelte den Kopf.

»Von Gorny war der gefährlichste Gegner des Großen Unbarmherzigen. Er versuchte alles, um diesen zu Fall zu bringen. Es war dies das einzige, worin von Gorny offen und ehrlich war. Er hatte nämlich durch seine privaten Gaunereien ein hübsches Sümmchen beiseitegebracht und wollte es endlich in Ruhe genießen. Das konnte er aber nur, wenn der Große Unbarmherzige und mit ihm seine gesamte Organisation vernichtet war. Sonst hätten ihn die Brüder sofort kalt gemacht. Nein, von Gorny war nicht der Große Unbarmherzige!«

»Wer? Wer denn sonst?«

»Malmgreen, der Blinde war es. Ein genialer Kopf! Trotz seines Gebrechens verstand er es, die ganze Bande zu leiten und zu bändigen, ohne daß ein einziger von seinen Leuten es je erfuhr, daß er der Große Unbarmherzige war. Nicht einmal der Chinese, seine rechte Hand, wußte es. Er kam, wie so viele große Verbrecher wegen einer Kleinigkeit zu Fall: Er ließ den Bruder Wang Ho's ermorden und dachte dabei keinen Augenblick an die Rachsucht der Chinesen. –

Nach seinem Tode erst erfuhren zwei seiner Anhänger davon, welche Rolle er eigentlich gespielt hatte. Da tauchte in ihnen der Gedanke auf, ihr Wissen für sich zu behalten und der ganzen Bande die Komödie des Fortlebens des Großen Unbarmherzigen vorzuspielen. Zweck der Übung war natürlich Geld und Macht. Flüchtig besehen, war der Gedanke gar nicht so übel. Niemand kannte den Großen Unbarmherzigen, kein Mensch hatte ihn je gesehen oder gehört, alle Befehle gab er schriftlich, telephonisch, telegraphisch oder ... per Radio! Warum sollten es seine Nachfolger nicht ebenso machen können?

Und doch hatten sie sich verrechnet. Sie hatten nicht berücksichtigt, daß zur Leitung eines derart komplizierten Apparates, wie es die Organisation der Unbarmherzigen war, eben ein Kopf wie der Malmgreens unumgänglich notwendig war. Das Ergebnis dieses Irrtums zeigte sich sofort. Alles schlug den Kerlen fehl. Schon ihr erstes und einziges halbwegs geglücktes Verbrechen – die Beseitigung von Gornys – konnte von der Polizei bis ins Kleinste aufgedeckt werden. Das gab es früher nicht. Der wahre Große Unbarmherzige organisierte seine Verbrechen stets so, daß wir froh sein konnten, wenn wir überhaupt eine Spur fanden.«

Halle hatte aufmerksam zugehört und nur ab und zu mit dem Kopf genickt. Als Nuber aber schwieg, blickte er sogleich wieder kampfbereit auf.

»Jetzt sagen Sie mir aber, bitte, gefälligst, wie haben Sie eigentlich das alles herausgebracht?«

Nuber lächelte ein wenig boshaft.

»Auf die einfachste Weise der Welt: durch meine Lektüre!«

»Durch – Ihre – – Lektüre?« Halles Augen wurden groß und immer größer.

»Nun ja«, meinte Nuber gleichmütig. »Sie haben mich doch einmal deswegen verlacht! Durch die Lektüre des lehrreichen Buches ›Verschmachtende Liebe‹ kam ich hinter die Geheimnisse des Großen Unbarmherzigen!«

»Sie treiben doch nicht etwa Ihren Spott mit uns?«

»Aber nein doch! Lassen Sie mich mal erzählen. Bekanntlich breche ich mit Vorliebe in den Wohnungen mir verdächtig erscheinender Menschen ein. Ich weiß, ich weiß ... Es ist verwerflich, verboten, häßlich ... Aber ich tue es nun einmal. Wir wollen mit dieser Tatsache rechnen, sonst komme ich mit meiner Erklärung nicht vom Fleck! In der letzten Zeit hatte ich Pech: bei meinen Einbrüchen fand ich meistens nichts von Belang.

Eines Tages nun fiel mir in der auserlesenen Bibliothek eines reichen und gebildeten Mannes der Band ›Verschmachtende Liebe‹ auf. Ich fragte mich, wie sich dieser Band wohl zwischen die Werke von Spinoza, Schleiermacher und Kant verirrt haben mochte. Und da erinnerte ich mich plötzlich dessen, daß ich denselben Band vor einigen Tagen bei einer ähnlichen Gelegenheit auf dem Tisch eines ganz gewöhnlichen Spitzbuben, eines wegen Rückfalldiebstahls bereits schwer vorbestraften Einbrechers gesehen hatte. Na, ich kam jedenfalls auf den Einfall, mich ebenfalls mit der Lektüre dieses prachtvollen Zeugnisses menschlicher, oder besser gesagt unmenschlicher Leidenschaften zu beschäftigen. Ich kaufte mir also das Buch ...«

»Aber ich verstehe noch immer nicht«, unterbrach ihn Halle gereizt.

»Augenblick! Sie werden gleich verstehen! Dieses Buch ist nämlich der Schlüssel zu der Geheimschrift, beziehungsweise Sprache der Unbarmherzigen. Bekanntlich sind die meisten Geheimschriften, wenn man mal im Besitz des Schlüssels ist, ganz leicht zu entziffern. Das traf in diesem Fall aber nicht zu. Ich brauchte Wochen, um hinter das Geheimnis zu kommen.«

»Erlauben Sie mal ... Wollen Sie vielleicht behaupten, daß Sie einfach erraten haben, was für eine Bedeutung dieses Buch hatte? Sie haben sicherlich mehr gewußt!«

»Nein«, entgegnete Nuber ziemlich kühl. »Ich hatte lediglich eine Beobachtung gemacht, die einigen meiner Kollegen entgangen zu sein scheint.«

»Und die wäre?«

»Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß in den rätselhaften Radiosendungen außerordentlich häufig Ausdrücke des Kolportageromans gebraucht wurden?«

»Ah ... Das ist möglich ...«

»Nun, ich wußte schon, bevor mir das Buch ›Verschmachtende Liebe‹ in die Finger kam, daß der Schlüssel zur Geheimschrift ein ganz gemeines Bändchen sein mußte. Doch hören Sie weiter:

Daß die Ziffern vor den Worten Seitenzahlen bedeuteten, war mir sofort klar. Schon gab es aber die erste Schwierigkeit zu überwinden! Das Buch hatte nämlich nur 97 Seiten, während die Ziffern bis über 900 hinausgingen. Schließlich kam ich hinter den Trick. Die Zahl der Hunderter mußte einfach weggelassen werden. So bedeutete zum Beispiel sowohl die Ziffer 534, wie auch 734, daß das gemeinte Wort auf der Seite 34 zu suchen sei.«

»Ah! Nun hatten Sie natürlich leichtes Spiel!«

»Noch nicht! Es galt noch einen anderen Trick zu klären. Was hatte ich denn zunächst erreicht? Nehmen wir ein Beispiel: Angenommen wir haben die Bezeichnung: ›766 machen Einsiedelei‹. Gut, ich weiß jetzt, daß ich die Seite 66 aufzuschlagen habe. Aber was denn weiter?«

»Hm ... In der Tat ... Ja, was denn nur?«

»Nach einigem Nachdenken und vielem Versuchen brachte ich es heraus! Bleiben wir bei dem Beispiel! Ich schlage also Seite 66 auf und finde irgendwo auf dieser Seite das Wort Einsiedelei. Zähle nach, das wievielte Wort von unten gerechnet es ist. Angenommen es ist das siebente. Jetzt zähle ich die Worte von oben. Das siebente ist in diesem Falle das gemeinte! Statt ›Einsiedelei‹ finden Sie hier etwa ›Abteilungsleiter‹ oder ›Verbrechen‹. Eigentlich kam mir die Lösung dieses Rätsels ganz blitzartig, und zwar in einem Gespräch mit Ihnen, Herr Halle. Es waren die zwei ›und‹ in der einen Radiosendung, über die wir damals sprachen.«

»Ja, ja, ich erinnere mich. Ich spielte Ihnen sozusagen die Lösung in Hand.«

»Ja, das taten Sie, indem Sie gerade das Gegenteil von dem Richtigen annahmen. Vermutlich, um mich zum schärferen Nachdenken zu reizen!«

Halle wehrte bescheiden ab.

»Sie übertreiben, Nuber! Aber offen gestanden, es war in der Tat meine Absicht, Sie – na, wie sagten Sie doch gleich – zum schärferen Nachdenken zu ... hm ... zu reizen!«

»Ich weiß«, fuhr Nuber geläufig fort. »Sie sprachen damals die Vermutung aus, die Sendung sei verstümmelt. Da kam mir denn der Gedanke, daß diese beiden ›und‹ nicht nur ein anderes Wort bedeuteten, sondern auch jedesmal etwas anderes bedeuten konnten. In der Tat fand ich später beim Entziffern für das erste auf der betreffenden Seite von unten gerechnet vorkommende ›und‹ die Bedeutung ›Hoher‹, für das zweite ›Rat‹.«

»Aha! Hoher Rat! Nun war es klar. Aber weiter! Was geschah denn weiter?«

»Alles andere war verhältnismäßig schon einfach. Unschwer brachte ich jetzt heraus, daß die Radiosendungen nichts anderes als Befehle des Großen Unbarmherzigen waren. Ich fragte mich nun, warum wohl der Große Unbarmherzige ausgerechnet einen so umständlichen und gefährlichen Weg wählte, um seine Befehle weiterzugeben. Später fiel mir aber noch auf, daß die merkwürdigen Sendungen plötzlich ausblieben. Ich sagte mir, daß der Große Unbarmherzige seine guten Gründe sowohl zu der einen, als auch zu der anderen Maßnahme gehabt haben mußte. Und über diese Gründe sann ich nun nach.

Als ich heute früh mit Gould über den Chinesen Wang Ho sprach, erwähnte der Beamte zufällig die Blindheit Malmgreens. Ich hatte schon davon gewußt, aber mir nichts Besonderes dabei gedacht. Bei den Worten Goulds fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Die Blindheit konnte ein Grund sein, warum der Große Unbarmherzige die wichtigsten Befehle durch Radio weitergab. Es war die einzige Möglichkeit für ihn, einen Befehl ohne die Hilfe von Mittelsmännern abzugeben. Und sein plötzlicher Tod erklärte auch das Ausbleiben von weiteren Radiosendungen.

Kurz, ich durchsuchte noch einmal aufs genaueste sein Haus und fand denn auch hinter einer verborgenen Tapetentür einen winzigen Raum, der mit den modernsten Radioapparaten für Empfang und Sendung ausgerüstet war. Und den letzten, aber sehr überzeugenden Beweis fand ich in unserer Kartei. Da stand, vor Jahren eingetragen, daß Malmgreen oder vielmehr Rebhahn, wie er sich damals nannte, auf der Brust ein seltsames, eingebranntes Zeichen habe.«

»Das haben Sie gut gemacht«, erklärte Halle wohlwollend und erhob sich zum Gehen. »Jetzt ist die Bande der Brüder endgültig besiegt. Viele der Verhafteten sind geständig, und fast stündlich werden neue eingeliefert.«

»Der Kampf ist zu Ende«, nickte Nuber. »Passen Sie nur auf, daß Wang Ho Ihnen nicht noch einmal entwischt. Wie ich erfuhr, liegt er zur Zeit im Krankenhaus.«

»Wang Ho entwischt uns nicht mehr«, sagte Halle mit einem bedeutsamen Heben der Augenbrauen. »Der Kerl ist vor zwei Stunden gestorben. Leider ohne vorher zu sich gekommen zu sein. Auf Wiedersehen!«

Nuber blickte noch lange, nachdem Halle gegangen war, nachdenklich vor sich hin. Seine stets kalten Augen hatten etwas Trauriges.

Muratow schüttelte verwundert den Kopf.

»Was ist mit Ihnen, Herr Nuber?« fragte Nina.

»Mir tut der Chinese leid«, entgegnete der Kriminalbeamte ernst. »Es war die einzige mir sympathische Figur unter den Unbarmherzigen.«

»Kannten Sie ihn denn überhaupt?« erkundigte sich Muratow.

»Ich sah ihn nur einmal, aber ich kenne seine ganze traurige Geschichte. Als ich ihn sprach, wollte er mich zu einer Heirat mit Fräulein Nina zwingen. Hatten Sie ihm eigentlich einen solchen Auftrag gegeben?«

Nina lächelte.

»Natürlich nicht! Ich erzählte ihm nur, daß ich mit Nuber verlobt gewesen war und daß er mich nicht nur verlassen, sondern auch mein Geld gestohlen habe.«

»Meine Achtung vor Wang Ho steigt. Ich wundere mich, daß er mir, den er doch für einen Schuft halten mußte, nicht ohne weiteres eine Kugel zwischen die Rippen jagte. Wissen Sie, Fräulein Nina, daß Sie da einen wahren Freund verloren haben?«

»Er war mir sehr ergeben«, sagte das Mädchen leichthin. »Aber er belästigte mich eigentlich viel mehr, als er mir nützte.«

Nuber schwieg einen Augenblick. Dann sagte er ruhig: »Ich will Ihnen mal was sagen, Fräulein Nina! Malmgreen starb nachgewiesenermaßen nicht infolge eines Messerstiches, sondern infolge einer Wunde am Hinterkopf.«

Nina war auf einmal sehr ernst geworden.

»Ist das wirklich wahr?« fragte sie leise.

Nuber nickte stumm.

Ein Schatten huschte über die Züge des Mädchens. »Dann habe ich Wang Ho in Gedanken viel Unrecht abzubitten!«

»Ich verstehe kein Wort!« rief Muratow ärgerlich dazwischen. »Was habt Ihr beide denn schon wieder für Geheimnisse?«

»Erzählen Sie es ihm!« sagte Nina kurz, zu Nuber gewandt.

»Gut, ich will es erzählen«, entgegnete dieser. »Wenn ich in meinem Bericht Fehler mache, verbessern Sie mich, bitte, Fräulein Nina! Als ich heute Malmgreens Wohnung besichtigte, betrachtete ich besonders aufmerksam eine Schramme auf dem glatten Parkett, deren Bedeutung ich allerdings schon längst erraten hatte. Diese Schramme war nämlich durch Malmgreens linken Stiefelabsatz verursacht worden, als der Blinde ausglitt und mit dem Kopf am Kaminsims aufschlug. Er stürzte zu Boden und war sofort tot. Schädeldeckenbruch.«

»Wang Ho hat aber gestanden, daß er vordem schon zugestochen hatte«, widersprach Muratow.

»Sie werden gleich sehen, welchen Wert ein solches Geständnis hat! Die Feststellung des ersten Arztes, daß nämlich der Messerstich vor der Kopfverwundung erfolgt sein könnte, ist falsch. Ein von mir befragter Spezialist stellte einwandfrei fest, daß das Messer in das Herz eines bereits Toten gejagt wurde.«

»Das ändert aber doch nicht viel an der Sache«, beharrte Muratow auf seinem Standpunkt.

»O doch! Hören Sie zu! Ich nehme an, daß Wang Ho die Absicht hatte, seinen Herrn zu töten und dann zu fliehen. Nur darum, weil er diese Möglichkeit der Flucht nicht ausnutzte, machte ich mich eigentlich an die genauere Untersuchung dieses Falles. Sobald ich festgestellt hatte, daß noch eine andere Person im Spiele war, wurde mir sofort alles klar. Diese andere Person war der Mörder. Wang Ho aber wollte ihn schützen.«

»Und wer ist diese andere Person?« fragte Muratow gespannt.

»Haben Sie es noch nicht erraten? Fräulein Nina, natürlich!«

Muratow war bleich geworden.

»Nur keine Angst!« beruhigte ihn Nuber. »Ich kann beweisen, daß Fräulein Nina unschuldig ist.«

»Aber Sie sagten doch ...«

»Daß diese Person der Mörder war. Ja, nach der Meinung Wang Ho's. Er war davon überzeugt, und ich glaubte es am Anfang auch. Aber ich will Ihnen mal die Zusammenhänge der Reihe nach schildern: Der Chinese wollte Malmgreen töten. Dieser wird das nicht geglaubt haben, nicht für möglich gehalten haben. Nun merkt er aber, daß es dem Chinesen ernst ist. In hochgradiger Erregung springt er auf. Fängt an, wie irrsinnig im Zimmer umherzujagen. In diesem Augenblick hört der Chinese die Haustür gehen. Er erinnert sich sofort, daß er den Riegel nicht vorgeschoben hatte, so daß die Personen, die Schlüssel haben, ohne weiteres eintreten können. Er eilt hinaus, um die Tür zu schließen. Inzwischen betritt Nina auf einem anderen Wege Malmgreens Zimmer. Der Blinde hat in seiner Angst nicht den Personenwechsel gemerkt. Nach wie vor tobt und wütet er. Nina wird es himmelangst. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Plötzlich gleitet Malmgreen aus, rennt sich dabei den Schädel ein und stürzt zu Boden. Und so findet der eintretende Chinese Nina. Überzeugt von ihrer Schuld, treibt er sie weg, jagt dem inzwischen Verschiedenen ein Messer ins Herz und nimmt die Schuld auf sich. Habe ich die Sache richtig geschildert, Fräulein Nina?«

Das Mädchen nickte bejahend.

»Später wurde Wang Ho von seinen Komplicen befreit«, fuhr Nuber fort. »Gabriel und mein früherer Diener, die jetzt den Großen Unbarmherzigen spielten, beschlossen, Nina, die ihrer Meinung nach zu viel wußte, zu beseitigen. Dagegen sträubte sich Wang Ho. Als dies nichts nützte, zettelte er die Verschwörung an. Er fand dabei seinen Tod. Vielleicht gelang es ihm nur darum nicht, sich rechtzeitig aus den Flammen zu retten, weil er Sie, Fräulein Nina, suchte. Vielleicht – wer kann das wissen. Eines ist aber sicher – alles, was Wang Ho in der letzten Zeit unternahm, geschah nur für Sie!«

Nina war sehr still geworden. Muratow erhob sich.

»Wir wollen jetzt gehen«, sagte er nach einem Blick auf die Uhr. »Morgen ist nämlich auch noch ein Tag!«

»Der Tag kann uns aber nichts Neues mehr bringen«, entgegnete Nuber achselzuckend. »Die Aufregungen haben nun ein Ende.«

»Glauben Sie?« fragte Muratow mit einem geheimnisvollen Lächeln.


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