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27

Es war bereits drei Uhr morgens, als Muratow todmüde in seiner Wohnung anlangte. Hastig stürzte er ein Glas eiskalten Wassers hinunter und warf sich, angekleidet wie er war, aufs Bett. Schlafen, an nichts denken, sagte er sich und schloß erschöpft die Augen. Da rasselte aber auch schon der Fernsprecher.

Eine Verwünschung murmelnd, trat er an den Apparat. Halles aufgeregte Stimme schlug in einem wilden Wortschwall an sein Ohr.

»Ich verstehe nichts!« unterbrach ihn der Detektiv. »Bitte, etwas langsamer! Also, was ist passiert? Was soll ich?«

»Ein gewisser Ingenieur Malmgreen auf der Uhlandstraße 18 ist ermordet worden! Sie müssen unbedingt sofort hin! Nuber steckt wieder einmal Gott weiß wo! Wachtmeister Gould ist schon dort.«

»Wie war doch der Name des Ermordeten?« erkundigte sich Muratow.

Langsam buchstabierte Halle den Namen.

»Malmgreen ... Malmgreen ...« wiederholte Muratow sinnend. Wo hatte er doch diesen Namen schon gehört? Richtig, jetzt erinnerte er sich. So hieß ja der Arbeitgeber Ninas! Die Adresse stimmte ebenfalls.

»Ich fahre sogleich hin«, sagte er gepreßt.

»Passen Sie auf! Bei Malmgreen wohnt ein Chinese. Es ist, wie Gould berichtet, derselbe, der heute bei uns war. Der Bruder des überfahrenen Chinesenjungen! Er ist auch der mutmaßliche Mörder Malmgreens. Sie können ihn gleich in Haft nehmen!«

»Ist er denn noch da?«

»Merkwürdigerweise ja!«

»Danke!« Muratow hängte ein. Also wieder eine durchwachte Nacht! Aber er hätte jetzt ohnehin nicht schlafen können. Zuviel verschiedenartige Gedanken stürmten auf ihn ein. Da war die Geschichte mit dem Großen Unbarmherzigen und Nubers Stimme. Nun wieder ein neuer Mord und noch dazu in einem Hause, in dem Nina täglich aus und ein ging. Siedendheiß fiel ihm jetzt auch wieder die Niederträchtigkeit von Gornys ein.

»Teufel, jetzt heißt es arbeiten!« sagte er zu sich selbst. »Weg mit allen Gedanken, die nicht zur Sache gehören! Ausschalten! Klaren Kopf!«

Als er bald darauf Malmgreens Wohnung betrat, war er so ruhig wie immer. Alle seine Gedanken galten dem neuen Fall. Schweigend stand er im Zimmer des Ermordeten und blickte prüfend umher, bemüht, jede Kleinigkeit mit seinem Blick zu erfassen, selbst das scheinbar Unwesentlichste sofort und unauslöschlich dem Gedächtnis einzuprägen.

Es war ein recht seltsamer Anblick, der sich ihm bot. Am Boden lag auf dem Rücken der Tote. Seine Züge waren wie in namenloser Angst verzerrt und die Augen weit aufgerissen. Neben ihm standen zwei brennende Kerzen, dazwischen ein Kruzifix. Seine Hände waren, in seltsamem Gegensatz zu den angstverzerrten Gesichtszügen über ein Gebetbuch gefaltet. Aus der Brust aber ragte, das unheimliche Bild unterstreichend, ein chinesisches Messer.

Neben dem Toten hockte mit geschlossenen Lidern der Chinese und sang. Eintönig und langgezogen. Vor ihm stand eine Statuette – ein kleiner Buddha. Beim Eintreten des Detektivs wechselte der Chinese weder seine Stellung, noch hörte er auf zu singen. Er schien alles um sich her vergessen zu haben.

Muratow trat zu dem in der Ecke lehnenden Gould und stellte mit halblauter Stimme einige Fragen.

»Der Arzt muß gleich kommen«, erklärte der Wachtmeister. »Außer dem Messerstich in der Brust hat der Tote noch eine Verletzung am Hinterkopf. Ich habe mit dem Chinesenkerl schon zu sprechen versucht. Aber er antwortet nicht. Tut gerade so, als ob ich Luft wäre.«

Muratow nickte. Dann ging er schnell zu dem Chinesen.

»Was tun Sie hier?« fragte er barsch.

Langsam hob der Chinese seine Lider.

»Ich bete!« sagte er feierlich und ernst. »Buddha möge dem gekreuzigten Gott meines erhabenen Herrn sagen, daß Wang Ho ihm vergeben hat. Der Gekreuzigte möge meinem Gebieter nicht zürnen, weil auch Wang Ho ihm nicht mehr zürnt ...«

»Wang Ho!« unterbrach ihn der Detektiv. »Sie haben Ihren Herrn ermordet?«

Der Chinese schüttelte den Kopf.

»Wang Ho hat seinen erleuchteten Herrn nicht ermordet. Er hat ihn gestraft. Ein Gesetz in seinem Innern wollte es so.«

»Deine inneren Gesetze kümmern uns wenig!« rief der Kriminalbeamte grob. »Beantworte meine Fragen! Oder noch besser, erzähle uns den Hergang!«

Der Chinese erhob sich langsam. Mit schweren Knien schleppte er sich an einen Stuhl.

»Nun?« forschte Muratow.

Da begann der Chinese zu sprechen. Stockend und abgerissen, als ob ihm die Worte nur schwer von den Lippen wollten.

»Wang Ho hat seinem Herrn gesagt, daß er ihn töten müsse ... Mein Gebieter wollte es erst nicht glauben ... Weil Wang Ho ihm immer ein treuer Diener gewesen war ... Aber dann verstand er ... Da hatte er Angst, viel Angst ... Lief schreiend im Zimmer herum. Warf sich auf die Knie ... Da würgte mich der Ekel. Ich stieß ihm das Messer ins Herz. Mein erhabener Gebieter war keine feige Memme. Er war immer mutig und tapfer. Er muß geistesgestört gewesen sein – heute ... Nicht wahr, Herr? Wenn ein tapferer Mann plötzlich so erbärmlich tut, muß er doch geistesgestört sein?«

»Das gehört nicht zur Sache. Erklären Sie mir lieber, wie Malmgreen zu der Wunde am Hinterkopf kam.«

»Im Fallen schlug mein Gebieter mit dem Kopf an den Kaminsims.«

»Im Fallen? Also nachdem Sie bereits zugestochen hatten?«

Der Chinese nickte.

»Wang Ho hatte schon zugestochen. Ganz recht.«

Inzwischen war der erwartete Arzt erschienen. Er untersuchte den Leichnam sehr genau. Nach einer Weile erhob er sich.

»Sowohl der Messerstich, der das Herz traf, als auch die Wunde am Hinterkopf sind tödlich. Objektiv läßt es sich nicht feststellen, welche von den beiden Verletzungen zuerst erfolgte und im eigentlichen Sinne den Tod verursachte.«

»Das dürfte wohl kaum von Belang sein«, entgegnete der Kriminalbeamte. »Es liegt ja ein vollständiges Geständnis des Täters vor.«

»Noch eins«, fuhr der Arzt fort. »Mir fällt da etwas Seltsames an den Augen des Toten auf. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Mann blind war. Er scheint vor einigen Jahren eine Verletzung davongetragen zu haben – sehen Sie hier die Narbe – die nach menschlichem Ermessen eine Erblindung herbeiführen mußte.«

Muratow drehte sich kurz um.

»Wang Ho, war dein Herr blind?« fragte er scharf.

»Ganz recht«, nickte der Chinese. »Früher konnte er sehr gut sehen. Aber wie der Herr Doktor sagt – vor einigen Jahren – ein Streifschuß, Kleinigkeit, gut verheilt, doch das Augenlicht verloren. Ganz und gar blind.«

Aufgeregt hastete Gould herbei.

»Ich glaube, ich kenne unseren Mann.«

»Was? Wie meinen Sie das?«

»Es ist gar kein Ingenieur Malmgreen. Es ist der entsprungene Zuchthäusler Rebhahn!«

»Der Name kommt mir bekannt vor. Ich erinnere mich aber nicht, in welchem Zusammenhang ich ihn mal gehört haben mag. Erzählen Sie!«

»Die Sache liegt einige Jährchen zurück«, begann Gould mit seinem Bericht. »Da wurde ein gewisser Rebhahn – wenigstens war dies der von ihm am häufigsten geführte Name – für doppelten Raubmord zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Er hatte wohl den Einbruch gestanden, nicht aber den Doppelmord. Und der Indizienbeweis schien doch nicht ganz lückenlos zu sein. Jedenfalls kam er ins Zuchthaus. Schon nach zwei Monaten unternahm er einen Fluchtversuch. Bei der sofort einsetzenden Verfolgung erhielt er mehrere Schußwunden und wurde ins Lazarett gebracht. Hier erwies es sich, daß er infolge eines besonders unglücklichen Schusses auf beiden Augen erblindet war. Drei Wochen darauf – Rebhahn war noch immer im Lazarett – wurde er von seinen Komplicen befreit. Seitdem blieb er verschollen. Ich verstehe gar nicht, wie der Mann hier leben konnte, ohne sofort festgenommen zu werden. Vor zwei Jahren fahndete man gerade in Berlin ganz besonders nach einem blinden Verbrecher, und alle Unschuldigen, die dasselbe Gebrechen hatten, mußten eine sehr genaue Untersuchung über sich ergehen lassen. Vielleicht täusche ich mich doch in der Person.«

»Ich glaube nicht. Eine Bekannte von mir arbeitete bei diesem ›Ingenieur‹. Ich habe oft mit ihr über ihn gesprochen, sie erwähnte aber dabei nie seine Blindheit. Folglich hat er sich verstellt. Er mimte den Gelähmten, um damit besseren Erfolg zu haben. Es scheint, wir haben hier in ein Wespennest gestochen. Der Chinese ist sicherlich einer von den Helfershelfern. Sie können ihn gleich abführen, Gould. Ich bleibe noch ein wenig da. Möchte die Spuren genauer untersuchen.«

Gould legte dem Chinesen wortlos die Stahlklammern an. Wang Ho's hatte sich plötzlich eine merkbare Unruhe bemächtigt.

»Sie sprachen von einer Bekannten, die hier arbeitete, Inspektor? Sie meinen Miss Holm, nicht wahr?«

Muratow runzelte die Stirn.

»Und wenn? Fräulein Holm hat mit der Geschichte hier nichts zu tun ...«

»Oh!« unterbrach ihn Wang Ho schnell. »Natürlich hat sie damit nicht das geringste zu tun. Ich fragte nur, weil ich wissen wollte, ob Sie Inspektor Muratow sind.«

»Nun und? Was weiter?«

»Miss Holm droht Gefahr! Ich kann sie nicht mehr schützen. Jetzt müssen Sie es tun!«

Muratow fuhr mit der Hand über sein Gesicht.

»Was redest du da? Was für eine Gefahr sollte Nina drohen? Sprich! Sonst ...«

Ein fahles Lächeln huschte über die schmalen Lippen des Chinesen.

»Sonst?« meinte er fragend. Dann fügte er kurz hinzu: »Ich habe genug gesagt. Ich weiß, daß Sie auf Miss Holm achtgeben werden. Das genügt mir. Bitte, lassen Sie mich jetzt in mein Gefängnis gehen!«

Muratow gab Gould einen Wink. Wortlos ließ sich Wang Ho abführen. Der Detektiv war allein. Aber es dauerte eine Weile, bis er sich, seinem Vorhaben gemäß, an das Suchen von Spuren machte.


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