Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

32

Der zweite Akt der Revue »Die verzauberten Amazonen« war zu Ende. Langsam strömte das Publikum den Ausgängen zu.

In einer Loge des zweiten Ranges saßen Inspektor Muratow und Nina. Der Kriminalbeamte hatte sich gerade erhoben.

»Wollen wir nicht auch in den Erfrischungsraum gehen?« Nina beobachtete durch ihr Opernglas das elegante Publikum.

»Ich möchte lieber hierbleiben«, antwortete sie. »Es ist so unterhaltend, all diese Leute von hier aus zu betrachten.«

Muratow nahm schweigend wieder Platz.

»Sagen Sie bitte, lieber Muratow«, fuhr Nina fort, »wie kamen Sie eigentlich auf die ausgefallene Idee, in diese Revue zu gehen? Wenn es eine Oper oder ein schönes Schauspiel wäre, hätte ich es mit Ihrem Charakter und Ihren Anschauungen noch in Einklang bringen können. Aber so ...?«

Der Kriminalbeamte lächelte nachsichtig.

»Sie haben ganz recht. Eine Revue ist nicht nach meinem Geschmack. Ich bin aber auch gar nicht freiwillig hier.«

»Doch nicht etwa dienstlich?« rief Nina überrascht.

»Wie man's nimmt. Die Sache kam so: Ich erhielt heute durch Eilbrief eine anonyme Aufforderung, diese Revue zu besuchen. Angeblich würde ich hier Gelegenheit haben, den Großen Unbarmherzigen zu verhaften. Dem Schreiben lagen zwei Eintrittskarten bei. Hätte ich nun heute abend etwas Dienstliches vorgehabt, so wäre ich natürlich nicht gekommen. Denn in diesem Fall wäre der Brief offenbar nichts anderes gewesen als ein Versuch, mich von meinen Aufgaben abzulenken. Ich war aber für heute abend vollkommen frei. Daher beschloß ich denn, dem Rat des Schreibers zu folgen.«

Nina blickte nachdenklich vor sich hin.

»Es ist nicht ganz ungefährlich, gegen den Großen Unbarmherzigen anzukämpfen«, sagte sie leise. »Seine Macht ist groß.«

»Was wollen Sie!« entgegnete der Kriminalbeamte achselzuckend. »Unser Beruf ist eigentlich nie ganz ungefährlich. Außerdem ist die Macht des Großen Unbarmherzigen heute bereits stark im Abnehmen begriffen.«

»Wieso? Wie meinen Sie das?«

»Nun, erstens sitzt eine ganze Reihe seiner Leute hinter Schloß und Riegel. Das ist aber noch nicht das Schlimmste. Weit unangenehmer für ihn ist die in seiner Organisation eingetretene Spaltung. Etwa die Hälfte seiner Untergebenen macht nicht mehr mit. Das ist es!«

»Undenkbar!« rief Nina hastig. Als sie den erstaunten Gesichtsausdruck Muratows gewahrte, schwieg sie erschrocken.

»Ich habe doch gehört«, fuhr sie nach einer Weile vorsichtiger fort, »daß der Große Unbarmherzige unnachsichtlich jeden töten ließ, der gegen ihn aufbegehrte. Wie sollte unter solchen Umständen eine regelrechte Verschwörung zustandekommen können?«

»Eben dieses strenge Vorgehen gegen seine eigenen Leute scheint ihm jetzt das Genick zu brechen. Mir wurde mitgeteilt, er hätte neuerdings über zwanzig seiner Untergebenen für Verrat, Ungehorsam und ähnliches zum Tode verurteilt. Mehr als die Hälfte aller Unbarmherzigen war darüber sehr aufgebracht. Vielleicht wäre trotzdem alles beim alten geblieben, aber es fand sich ein Führer, der die Masse der Unzufriedenen organisierte. Übrigens kennen Sie ihn! Es ist ein Chinese. Er heißt Wang Ho.«

»Mein Gott!« rief Nina erschrocken. »Warum tut er das?«

»Aber da gibt es doch gar nichts zu fragen! Ohne Zweifel will er selbst eine dem Großen Unbarmherzigen ähnliche Rolle spielen ...«

»Sie glauben, daß Wang Ho etwas daran liegt, auf verbrecherischem Wege viel Geld zu verdienen? Nein, nein! Sie kennen ihn nicht. Sonst würden Sie nicht an Derartiges denken! Er hat sicherlich ganz andere Gründe, so vorzugehen ...«

»Schauen Sie«, unterbrach Muratow sie, »die Leute haben schon wieder ihre Plätze eingenommen. Gleich beginnt der dritte Akt. Es ist der letzte. Und bis jetzt ist nichts geschehen! Der Brief scheint also doch Bluff und nichts anderes gewesen zu sein.«

Im selben Augenblick erloschen die Lichter.

Rauschend teilte sich der Vorhang. Das Raunen und Flüstern im Zuschauerraum verebbte langsam. Die Stille, die gleich darauf eintrat, war beklemmend. Aller Blicke hingen wie gebannt an der einzigen Gestalt, die auf der Bühne stand. Nach dem Programm mußte der Aufzug mit einer Massenszene beginnen. Statt dessen – – –

In tadellosem Frackanzug, das Haar glatt nach hinten gelegt, stand da die Gestalt des Chinesen Wang Ho. Seine Blicke streiften ruhig und kühl die Zuschauermenge.

Ein Raunen ging durch die Massen. Man hatte ihn erkannt. Jeder hatte schon irgendwo in den Zeitschriften sein Bild gesehen.

Er hob langsam seine Rechte. Sofort trat wieder atemlose Stille ein.

»Meine Damen und Herren!« begann er liebenswürdig, mit lauter, überall deutlich vernehmbarer Stimme. »Ich muß um Entschuldigung bitten. Leider bin ich gezwungen, die Vorstellung abzubrechen. Außergewöhnliche Umstände veranlassen mich hierzu ... Ich bitte um Ruhe!« rief er plötzlich schneidend, als im Parkett einige nervöse Damen mit allen Zeichen des Schreckens aufsprangen. »Für eine knappe halbe Stunde bin ich hier der Diktator! Ich befehle, ich verlange Ruhe! Nur dann kann ich für Ihre Sicherheit einstehen.«

»Himmel, was will er?« flüsterte Nina erregt.

»Still!« raunte Muratow. Er fieberte vor Spannung.

»In unserer Mitte«, fuhr Wang Ho fort, »befindet sich heute der Große Unbarmherzige! Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle. Diesen Großen Unbarmherzigen werde ich festnehmen. An ein Entkommen ist nicht zu denken. Sämtliche Ausgänge sind von meinen Leuten umstellt.«

Niemand rührte sich. Keiner sprach ein Wort. Nach einer kleinen Pause begann der Chinese von neuem:

»Ich bitte jetzt die verehrten Herrschaften, sich langsam, ganz langsam nach dem Hauptausgang, sowie den Ausgängen A und B zu begeben. Die Herren werden gebeten, ihre Brust zu entblößen. Alle, die das Zeichen des großen Unbarmherzigen nicht auf der Brust haben, können nach der Prüfung sofort gehen. Die Damen können ohne weiteres passieren. Halt! Noch einen Augenblick! Wer irgendwie zur Aufregung der Gäste beiträgt – ganz gleich, ob durch Gebärden, Worte oder Schreie – wird glatt niedergeschossen. Eine Panik würde Hunderte von Menschenleben kosten! Wir werden die Panik zu verhindern wissen. So! Jetzt, wenn ich bitten darf!«

Langsam, schweigend, in geordneten Reihen schritten die Theaterbesucher den bezeichneten Ausgängen zu. Ohne Zwischenfall wickelte sich das Suchen nach dem Zeichen des Großen Unbarmherzigen ab. Wo es zu einem Gedränge zu kommen schien, waren sofort einige Herren im Frackanzug zur Stelle und murmelten beschwichtigend:

»Mehr Abstand, bitte! Kein Gedränge! Ganz, ganz ruhig!«

Diese Worte verfehlten nirgends ihre Wirkung. Denn jeder dieser freundlich lächelnden Ordnungsmänner hielt in der Rechten, den Lauf nach dem Boden gerichtet, einen Revolver.

Auf der Bühne aber stand nach wie vor Wang Ho. Die Arme auf der Brust verschränkt, um die Mundwinkel ein selbstzufriedenes Lächeln, schien er mit seinen winzigen Schlitzaugen überall zu sein, alles zu sehen.

*

Während sich diese Vorgänge im Parterre abspielten, lagen die Räume hinter den Kulissen leer und verlassen da. Von den seltsamen Vorgängen angelockt, drängte alles in den Zuschauerraum. Sogar die Bühnenarbeiter standen grinsend, mit entblößter Brust dort und folgten gespannt dem ungewohnten Schauspiel.

Leise Schritte glitten über den mit Holzwolle und Papierfetzen bedeckten Boden. Eine geduckte Männergestalt schlich sich heran. Das im Halbdunkel kaum erkennbare Gesicht war verzerrt.

Ein Geräusch wie Wasserplätschern ward hörbar. Scharfer Petroleumgeruch verbreitete sich im Räume. Ein Streichholz flammte auf und erlosch. Ein anderes fiel brennend zu Boden. Helle Flammen reckten sich züngelnd empor – –

*

Irgend jemand, irgendwo schrie es zuerst. Und dann pflanzte sich der Ruf lawinenartig fort, schwoll an, brach einem Orkan gleich hervor:

»Feuer! Feuer!«

Im Nu war alle Ordnung wie weggefegt. Mann an Mann, eng aneinandergepreßt, stand da eine zitternde, fiebernde, schreiende Menge. Ohne Vernunft, ohne Beherrschung.

»Feuer! Feuer!«

Hinter den Kulissen – ein Rennen, ein Jagen. Befehle, denen niemand Folge leistete, Warnungsschreie, die niemand beachtete.

Und dann ein gellender, alles übertönender Aufschrei:

»Den Vorhang! Herunter! Den eisernen Vorhang!«

Schon züngelten auf der offenen Bühne kleine Flämmchen. Leckten an den Holzdekorationen, kletterten zitternd, springend an den Wänden entlang.

Mit donnerähnlichem Getöse sank der eiserne Vorhang.

Angstverzerrte Gesichter leuchteten auf. Das war die Rettung! Der Brandherd abgesperrt! Das Feuer konnte nicht in den Zuschauerraum übergreifen!

Doch schon drohte neue Gefahr. Hier und dort ein dumpfes Stöhnen, ein schwacher Schrei, ein heiserer Fluch. Im dichtgedrängten Strom lebendiger Leiber wurden Menschen erdrückt, zermalmt.

Beherzte Männer griffen zu. Zerrten die hinteren Reihen gewaltsam auseinander. Schrien mit sich überschlagender Stimme:

»Nicht drängen! Keine Panik! Panik ist unser Tod!« Man besann sich. Nahm Vernunft an. Die Reihen lockerten sich.

Plötzlich – ein einziger wilder Aufschrei! Langsam, Zoll für Zoll hob sich der eiserne Vorhang wieder. Und entsetzten, weitaufgerissenen Augen starrte ein rotglühendes, prasselndes Flammenmeer entgegen.

Der letzte Rest der Besinnung schwand. Niemand dachte mehr an Ordnung. Das eigene nackte Leben galt es zu retten! Gehetzten Tieren gleich stürzten sich die Menschen aufeinander. Zertraten, zermalmten alles, was im Wege lag. Stießen roh um Rettung flehende, wimmernde Frauen und halbwüchsige Kinder beiseite. Auf den Boden. In den sicheren Tod.

Und über all dem lag, einer dunklen Wolke gleich, ein förmlich greifbares Gekreisch, Gebrüll, Geheul – – –


 << zurück weiter >>