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10

Nina stand unschlüssig auf dem Treppengang eines der elegantesten Häuser im Westen Berlins und drehte eine Karte in den Fingern. Sie kannte ihren Inhalt schon auswendig, doch kehrten ihre Augen immer wieder zu den wenigen Zeilen zurück. Es war eine Besuchskarte Muratows, auf deren Rückseite die Botschaft stand:

 

»Treten Sie heute nachmittag um 4 Uhr Ihre neue Stellung bei Ingenieur Malmgreen, Uhlandstraße 18, an. Ich will es so.«

 

Wütend ballte Nina die Karte zusammen und stampfte eigensinnig mit dem Fuß auf. Dann besann sie sich aber und drückte entschlossen auf die Klingel.

Die Tür öffnete sich geräuschlos, und auf der Schwelle erschien ein Chinese. Seine Kleidung bestand aus der üblichen Chinesentracht, zu der lediglich ein paar schwarze, manschettenartige Ärmelschoner, wie sie bei Stenotypistinnen gebräuchlich sind, nicht recht zu passen schienen. Die kleinen Schlitzaugen des Gelben schauten fragend zu Nina hinüber, und sie vermeinte, darin trotz des zweifellos stechenden Blickes etwas wie Wohlwollen schimmern zu sehen.

»Sie werden erwartet, Miss Holm«, sagte er mit klangvoller, aber keineswegs lauter Stimme. Nina wunderte sich, daß er sie »Miss« nannte. Er wird früher in England oder Amerika gelebt haben, dachte sie und meinte dann zögernd:

»Ich möchte Herrn Malmgreen sprechen!«

»Es ist alles bereit«, erklärte der Chinese höflich. »Sie können sogleich mit der Arbeit beginnen.«

»Aber ich weiß ja noch gar nicht, ob ich die Stellung annehme«, wandte sie leicht verwirrt ein.

Der Chinese schien von ihren Worten keinerlei Notiz zu nehmen. Schweigend half er ihr aus dem Mantel.

»Bitte, folgen Sie mir«, sagte er dann mit einer tiefen Verbeugung.

Es ging durch einen schmalen, von einer chinesischen Ampel nur notdürftig erleuchteten Gang. Eine Menge Türen waren zu beiden Seiten. Nina zählte acht.

»Es ist eine große Wohnung«, dachte sie. »Malmgreen muß ein reicher Mann sein. In was für Beziehungen er wohl zu Inspektor Muratow stehen, mag?«

Ihre Gedanken wurden durch das Öffnen einer kleinen Tür unterbrochen. Der Chinese blieb stehen und ließ ihr den Vortritt.

Sie sah sich in einem großen, reich, fast prunkvoll ausgestatteten Gemach. Die Wände waren mit Teppichen behangen, über einem Sofa lag ein Tigerfell. Zwei Dinge waren es, die Nina sofort auffielen. Obwohl es noch Tag war, befanden sich vor den Fenstern dicke Vorhänge, und im Zimmer brannte nur eine schwache elektrische Birne, die das große Gemach spärlich erhellte. Mehr noch als dieser Umstand fiel ihr aber auf, daß im Gegensatz zu den reich behangenen Wänden, Fenstern und Türen, der Fußboden vollkommen nackt und kahl war. Kein Teppich, kein noch so kleines Fell! Das war seltsam. Malmgreen mußte ein merkwürdiger Kauz sein, zum mindesten aber einen sehr eigentümlichen Geschmack haben.

»Treten Sie doch näher!« sagte eine herrische Männerstimme, die aus dem äußersten Winkel des Zimmers zu kommen schien.

Jetzt erst wurde Nina dessen gewahr, daß in der Ecke auf einem altertümlichen Lehnsessel ein Mann saß. Seine Füße waren von einem Tuch aus englischem Stoff bedeckt, die Hände hielt er gefaltet auf den Knien und bewegte dabei unablässig die Finger.

Langsam näherte sie sich ihm, die Augen forschend auf sein Gesicht gerichtet. Seine Züge wiesen ein Maß von Kraft auf, wie sie es bisher noch bei keinem Menschen beobachtet hatte. Aus den Augen sprühte ein jugendliches Feuer, das mit seinem schneeweißen Haar nicht recht übereinstimmte.

»Drehen Sie dort das Licht an!« sagte er kurz, auf einen kleinen Schalter am Schreibmaschinentisch neben ihr deutend. »Ich will Sie sehen! Ihr Gesicht!«

Nina gehorchte stumm.

Ein Strahlenbündel flammte auf, warf sich ihren Augen entgegen, blendete und verwirrte sie.

»Das Licht stört sie? Rücken Sie den Lampenschirm etwas nach rechts, so daß das Licht auf die Maschine fällt. Nicht doch! Wang Ho, zum Kuckuck, so hilf ihr doch!«

Plötzlich befand sich der Chinese an ihrer Seite und rückte den Schirm in die gewünschte Lage.

»Ich habe Ihr Gesicht studiert«, sagte der Hausherr. »Sie sind hübsch. Das ist keine Empfehlung. Hübsche Mädchen sollten heiraten. Sonst richten sie zuviel Unheil an. Aber es ist gleich – Sie können bleiben – so setzen Sie sich doch endlich – da ist alles, was Sie brauchen. Schreiben Sie –«

»Aber ich weiß ja noch gar nicht ...« begehrte Nina gekränkt auf.

»Unterbrechen Sie mich nicht! Sie dürfen mich nie unterbrechen! Das verlange ich von Ihnen. Meine Gedanken sind kostbar. Nicht mit Geld zu bezahlen. Wenn Sie mich unterbrechen, verliere ich meine Gedanken. Würden Sie gern Geld verlieren? Na also! Schreiben Sie: An die Argona-Werke, Braunschweig. Wir müssen leider feststellen, daß Sie mit Ihren Zahlungen, die gemäß Vertrag vom ...«

Nina schrieb. Sie gab es auf, länger gegen die ihr aufgezwungene Stellung anzukämpfen. Es nützte doch nichts. Und dann – der Mann gefiel ihr. Sie hätte ihn gern beobachtet, aber daran war gar nicht zu denken. Fließend, ohne zu stocken diktierte er ihr einen Brief nach dem anderen in die Maschine. Sie hatte keinen Augenblick der kostbaren Zeit zu versäumen, wenn sie seinem Diktat nachkommen wollte. Nina war eine tüchtige Stenotypistin, aber nach drei Stunden emsigen Schaffens begannen ihr die Finger zu schmerzen. Endlich hielt Malmgreen inne.

»Sie brauchen nicht zu heiraten«, sagte er unvermittelt. »Ich habe es mir überlegt. Wenn hübsche Mädchen erst mal verheiratet sind, richten sie noch viel mehr Unheil an. Sehen Sie das ein?«

»Nein!« erklärte Nina entschlossen. »Das sehe ich nicht ein!«

»Dann sind Sie eine dumme Pute! Meine Gedanken sind gleich kostbaren Edelsteinen! Sie können viel bei mir lernen. Eigentlich müßten Sie, und nicht ich zahlen. Weil Sie doch bei mir arbeiten und lernen dürfen. Aber ich will Ihnen dennoch 10 Mark täglich geben, und wenn Sie mal die Nacht durcharbeiten müssen – 25 Mark. Ich habe es versprochen. Ich glaube, ich habe es versprochen.«

»Wem?« fragte sie rasch. »Inspektor Muratow?«

Malmgreens Gesichtsausdruck veränderte sich plötzlich in erschreckender Weise.

»Inspektor Muratow?! Ist das Ihr Freund? Inspektor Muratow von der Kriminalabteilung?« rief er heftig.

»Er ist nicht mein Freund«, entgegnete Nina befremdet. »Wenigstens nicht in dem Sinne, wie Sie es meinen. Und bei der Kriminalpolizei ist er auch nicht mehr. Man hat ihn entlassen.«

Ebenso plötzlich, wie seine Aufregung gekommen, war Malmgreen wieder ruhig geworden.

»Das ist auch ganz gleich«, erklärte er in seinem alten Ton. »Was gehen mich schon Ihre Freunde an? Reichen Sie mir das Buch dort, – ja, das im roten Einband. Danke. Sie können jetzt gehen. Die Post besorgt Wang Ho. Morgen, punkt 9 Uhr, sind Sie wieder hier.«

Malmgreen klatschte zweimal in die Hände. Sofort trat der Chinese ein.

»Wang Ho, führe das Kind hinaus. Sie bekommt jeden Tag 10 Mark, jede Nacht – 25! Merke dir das! Ich kann nicht an diesen Kleinkram denken. Dazu sind meine Gedanken viel zu kostbar. Wang Ho, erkläre dem Kind alles, was es wissen muß. Gib ihr eine Tasse Tee. Wenn sie dein Gesöff nicht mag, gib ihr Kaffee, Schokolade – was sie will.«

»Auf Wiedersehen!« sagte Nina, als er schwieg.

»Lassen sie den Formenkram! Wenn Sie da sind, sind Sie da, und wenn Sie gehen, sind Sie weg. Ich sage zu meiner Schreibmaschine oder zu meinem Schrankkoffer auch nie ›Auf Wiedersehen‹ oder ›Gute Nacht‹. Wang Ho, wenn das Kind beleidigt ist, zahle ihr jeden Tag eine Mark mehr, aber sie darf von mir keinen blödsinnigen Formenkram erwarten.«

Nina war nicht beleidigt, wohl aber sehr verwundert. Willenlos ließ sie sich von dem Chinesen in ein kleines Gemach führen, das einer orientalischen Teestube zum Verwechseln ähnlich sah.

»Nehmen Sie Platz, bitte!« sagte ihr Begleiter, auf ein Polster deutend, »und versuchen Sie es mit dem Trank meiner Heimat.«

In kleinen, zierlichen Schalen reichte er Tee. Er setzte sich nicht nieder, sondern stand, die Arme auf der Brust verschränkt, leicht an den Kamin gelehnt, vor ihr.

»Wer sind Sie?« fragte Nina nach einer Weile, als sie merkte, daß er keinerlei Anstalten machte, eine Unterhaltung zu beginnen.

»Ich heiße Wang Ho«, sagte er leise. »Meine Heimat liegt im Süden Chinas. Aber ich bin schon seit zehn Jahren weg. Hier bin ich nur der unwürdige Diener meines erhabenen Gebieters, den die Weißen Malmgreen nennen.«

»Ihr Herr ist wohl sehr gut und klug?«

»Oh!« die Augen des Chinesen leuchteten, »er ist so gut und edel wie der heilige Fluß Jang-tse-kiang und so klug wie alle Schlangen Chinas zusammen.«

»Sie lieben ihn wohl sehr?«

»Lieben – vielleicht. Oder doch nicht. Ich liebe meinen kleinen Bruder. Den erhabenen Herrn bete ich an.«

»Ist Ihr Herr heute krank?«

»Krank? Warum? Ach, Sie meinen wegen der Decken? Nein, er ist nicht krank. Er ist gelähmt.«

»Gelähmt? Mein Gott, wie entsetzlich! Er kann wohl überhaupt nicht gehen?«

»Nein. Seinem gekreuzigten Gott hat es gefallen, ihm die Beine tot zu machen. Aber Buddha hat ihm neue Beine geschenkt.«

»Neue Beine? ...«

»Wang Ho's Beine gehören ihm.«

»Oh, Sie sind ein treuer Mensch, Wang Ho!«

Der Chinese zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, was Treue ist. Die Menschen verstehen darunter so merkwürdige Dinge. Wenn jemand treu sein will, so muß er dieses tun und darf jenes nicht tun. Ich aber tue immer das, was mir ein Gesetz, das in mir wohnt, befiehlt. Ich weiß nicht, ob ich immer treu bin.«

Nina erhob sich, um zu gehen. Sie war erstaunt, um wieviel heimischer sie sich bei diesem, ihr so artfremden Menschen fühlte als vorhin bei seinem Herrn.

Wang Ho legte wortlos 11 Mark auf den Tisch. Nina nahm 10 Mark und ließ die elfte liegen.

»Nehmen Sie diese eine Mark auch noch«, sagte Wang Ho bettelnd. »Er meint es nicht schlecht. Nein. Er hat aber keine Zeit. Wissen Sie, seine Gedanken sind kostbarer als die Strahlen der Sonne, des Mondes ...«

»Und der Sterne! Ich weiß!« unterbrach ihn Nina. Lachend steckte sie auch die letzte Mark ein. Dann reichte sie dem Chinesen zum Abschied die Hand.

»Auf gute Freundschaft, Wang Ho!«

»Ich weiß die Ehre Ihres Besuches und Ihrer freundlichen Worte zu schätzen«, erwiderte der Chinese mit einer tiefen Verbeugung. –

Einige Minuten darauf betrat er das Zimmer seines Herrn.

»Ist mein hoher Gebieter zufrieden?« fragte er in der ihm eigenen, zurückhaltenden Weise.

»Ja. Sie arbeitet rasch und gut. Sie ist etwas schwatzhaft, und, glaube ich, schön ...«

»Sehr schön ...«

»Hm ... schade ... Aber es macht nichts. Eines sage ich dir jedoch, Wang Ho: paß gut auf! Wenn sie neugierig ist, muß sie gleich weg. Wenn sie zu klug ist – oh, sie darf nichts wissen, sonst stirbt sie. Ich mag aber nichts mit Blut zu tun haben. Darum – paß beizeiten auf!«

Wang Ho nickte zustimmend.

»Ich werde gut aufpassen!« sagte er laut. Und in Gedanken fügte er hinzu: »Sie darf nicht sterben!«


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