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24

Es war einige Stunden später, als Wang Ho das Gebäude des Polizeipräsidiums verließ. Er war telephonisch hinbestellt worden, um die Leiche seines Bruders zu identifizieren. Kein Muskel in seinem Gesicht hatte gezuckt, als das weiße Tuch zurückgeschlagen wurde. Ruhig und kühl hatte er ausgesagt, daß dies tatsächlich sein Bruder sei, und ohne sich einen Augenblick zu besinnen, die Frage verneint, ob er einen Verdacht oder eine Mutmaßung hätte, auf wessen Veranlassung der Mord verübt worden sei.

Auch jetzt, als er langsam durch die Straßen wanderte, waren seine Züge beherrscht. Nur die Lippen hatte er fest aufeinandergepreßt und die Schlitzaugen zusammengekniffen, so daß sie noch kleiner als sonst erschienen.

Nach einer Weile betrat er Malmgreens Wohnung. Der Blinde hörte seine Schritte und rief laut und gebieterisch wie immer, er solle sofort zu ihm kommen. Wang Ho schien es nicht zu hören, ging an der Tür seines Herrn vorüber in sein Zimmer. Die Stelle, wo noch vor kurzem der erschlagene Horn gelegen hatte, war leer. Einige feuchte Flecken am Boden waren alles, was an den kurzen und verhängnisvollen Kampf erinnerte. Wang Ho hatte genügend Zeit gehabt, die Leiche in einem Kellergewölbe zu verbergen und die Blutspuren im Zimmer zu tilgen.

Auf einer Matte ließ sich der Chinese nieder und setzte eine langstielige Pfeife in Brand. In dumpfes Brüten versunken, saß er da. Stunde um Stunde verging. Wang Ho rührte sich nicht. Nur ab und zu, wenn seine Pfeife ausging, kam Leben in seine Gestalt. Mit eherner Miene klopfte er sie aus, stopfte sie und setzte sie von neuem in Brand.

Es war finster geworden, als er sich endlich erhob. Nach kurzem Klopfen betrat er das Zimmer Malmgreens. Der Blinde empfing ihn mit einem Schwall von Verwünschungen. Wang Ho zog wortlos unter dem Tisch eine Fußbank hervor und setzte sich zu Füßen Malmgreens. Seine Augen schillerten in mattem, grünlichem Glanz zu dem Blinden hinüber. Mit keiner Silbe unterbrach er dessen lärmendes Schimpfen.

Langsam verebbte die Erregung Malmgreens. Aus dem wütenden Toben wurde ein leises, mürrisches Brummen. Dann schwieg er ganz.

Noch eine Weile ließ der Chinese verstreichen. Plötzlich bewegten sich seine Lippen.

»Hoher Herr und Gebieter!« sagte er mit leiser Stimme. »Vergönne deinem unwürdigen Diener, der nicht wert ist, den Boden, den deine Füße flüchtig berührt haben, zu küssen, eine kurze Unterredung!«

Malmgreen wußte sofort, daß irgendetwas nicht in Ordnung war. Nur bei ganz außergewöhnlichen Gelegenheiten verfiel Wang Ho in die weitschweifige und unterwürfige Sprechweise seiner Heimat. Sonst sprach er immer nüchtern und sachlich, wie jeder Europäer. Malmgreen beschloß, auf seiner Hut zu sein.

»Sprich, Wang Ho«, entgegnete er freundlich. »Du bist mein Freund, nicht mein Diener. Sprich! Was ist es?«

»Habe ich Unseliger die ganzen Jahre hindurch dir, o Herr, nicht treu und redlich gedient?«

»Du hast es, Wang Ho!« sagte Malmgreen.

»War ich, dein nichtswürdiger Sklave, nicht dein Augenlicht, nachdem die Schakale und Hunde es dir in ihrer Verblendung geraubt hatten?«

»Du warst mein Augenlicht!« bestätigte der Blinde wieder. »Aber sprich, Wang Ho! Hast du einen Wunsch, eine Bitte?«

Der Chinese überhörte die Frage.

»Hat Wang Ho nicht stets die Feinde von dem Hause seines erleuchteten Gebieters ferngehalten? Hat Wang Ho nicht jeden Verräter, der dir, o Herr, Gutes mit Bösem vergelten wollte, niedergestochen, wie es die Sicherheit des Erhabenen erforderte? Hat sich Wang Ho nicht einmal in seiner Heimat von den eigenen Brüdern halbtot peitschen lassen und mit keinem Wimperzucken die Schmerzen verraten, die seinen häßlichen Körper durchglühten? Tat er dies nicht für dich, o Herr, weil seine Peiniger deinen herrlichen Namen aus Wang Ho's schmutzigem Mund hören wollten?«

»Alles das hast du getan, Wang Ho. Aber wo willst du hinaus? Sag, was willst du von mir?«

»Meinen Bruder will ich wiederhaben, o edler Herr und Gönner!«

Malmgreen fuhr zusammen. Sein Gesicht war bleich geworden.

»Deinen Bruder, Wang Ho?« fragte er unsicher.

»Meinen Bruder, o Herr!« sagte der Chinese mit fester Stimme.

»Du bist verrückt, Wang Ho!« rief Malmgreen unwirsch. »Wie kann ich dir deinen toten Bruder wiedergeben?«

Auf der Stirn Wang Ho's traten ein paar bläuliche Adern hervor, und seine Lippen begannen zu zucken. Er hatte es nicht anders erwartet, – Malmgreen wußte bereits von dem verübten Mord. Ruhig fuhr der Chinese fort:

»Ist es denn leichter, seines Freundes Bruder zu töten, als ihn wieder lebendig zu machen? Du scherzest, erhabener Gebieter! Nur vorübergehend, o Herr, hast du meinen Bruder ins Land der Götter gesandt! Du wußtest, daß du ihn wieder lebendig machen kannst!«

»Ich soll deinen Bruder getötet haben?!« Malmgreens Stimme zitterte merklich.

»Deine Leute, o Herr, taten es! Auf deinen Befehl, o Herr! So befiehl ihnen denn jetzt, ihn wieder lebendig zu machen, und Wang Ho wird vor dir auf dem Boden kriechen sein Leben lang!«

Eine Weile verging in beiderseitigem Schweigen. Der Blinde saß wie in Gedanken versunken in seinem Sessel, aber seine Glieder bebten vor Angst. Was wollte der Chinese von ihm? Was würde er tun – jetzt, nachdem er die Wahrheit kannte?

Endlich ergriff Malmgreen zögernd das Wort.

»Dein Bruder, Wang Ho, hatte nach unserem Gesetz sein Leben verwirkt. Er mußte sterben. Niemand kann ihn wieder lebendig machen!«

Sekundenlang schwieg der Chinese. Dann begann er mit seltsam singender Stimme:

»O Herr! Heilig seien mir unsere Gesetze! Immer habe ich mich nach diesen Gesetzen gerichtet. Aber in mir unwürdigem Wurm wohnen auch andere Gesetze ... Diese Gesetze in meinem Innern flüstern mir zu, daß es nicht recht ist, dem Freunde seinen Bruder tot zu machen! Oh, hoher Herr, nach diesen Gesetzen hast du dein Leben verwirkt! Du mußt sterben! Und niemand kann dich wieder lebendig machen!«

»Was sprichst du da?« murmelte Malmgreen aschfahl.

»Es tut mir weh, o Herr! Aber das Gesetz in mir, dessen Namen ich nicht kenne, schreit nach deinem Blut! Oh, hoher, edler Gönner! Wang Ho, die gemeine Kröte, wird dich heute töten!«

Der Blinde ächzte.

»Bist du wahnsinnig? Wang Ho, besinne dich!«

»Hat mein erhabener Gebieter sich besonnen, ehe er den kleinen Bruder Wang Ho's umbringen ließ?« fragte der Chinese lauernd.

»Wang Ho«, flüsterte der Blinde heiser vor Angst, »kannst du kaltblütig einen hilflosen Krüppel ermorden?«

»Ich glaube – ja, o Herr!« entgegnete der Chinese leise.

Da begann Malmgreen zu schreien. Schrill und langgedehnt – – –

Man hörte es auf der Straße. Einige Passanten blieben stehen, lauschten eine Weile. Plötzlich verstummten die Schreie. Die Passanten gingen kopfschüttelnd weiter. Sie hatten Wichtigeres vor.


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