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23

Während sich diese Vorgänge in Malmgreens Wohnung abspielten, saß Nina Muratow gegenüber in dessen einfach eingerichteter und armselig möblierter Junggesellenbude. Auf einem wackeligen, dreibeinigen Tisch stand eine Kanne dampfenden Kakaos, daneben auf einem Teller türmte sich ein Häuflein Bruchzwieback. Der Kakao hatte einen unangenehmen, muffigen Geschmack, und der Zwieback war hart wie Stein. Dennoch ließ Nina sich nicht nötigen und griff wacker zu. Sie hatte im Leben noch nicht Kakao auf Wasser getrunken, und es kam ihr heute zum erstenmal der Gedanke, daß Bruchzwieback augenscheinlich billiger sein müsse als ganzer Zwieback. Es schmeckte ihr weder das eine noch das andere, aber sie hatte ein gutes Herz und wollte Muratow nicht kränken. In seinem Gesicht war auch gar zu deutlich die Freude und der Stolz auf ihren Besuch in seiner Wohnung zu lesen. Seine Augen strahlten, und um seine Lippen lag ein zufriedenes Lächeln, während er mit sichtlichem Behagen den muffigen Kakao schlürfte.

»Wissen Sie, Nina«, sagte er fröhlich, »es kommt mir so vor, als ob heute Weihnachten oder mein Geburtstag wäre! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich über Ihren Einfall freue, mich mal zu besuchen!«

»Na, na!« rief das Mädchen neckend. »Tun Sie nur nicht so! In Wirklichkeit ärgern Sie sich doch nur über die Störung!«

»Wo denken Sie hin!« ereiferte er sich. »Durch Ihre Anwesenheit ist sogar das Zimmer wie umgewandelt. Es macht jetzt einen geradezu vornehmen Eindruck.«

Nina nickte gewichtig. Sie war zwar der Meinung, daß die in sämtlichen Ecken herumhängenden Spinngewebe nicht unbedingt zur Vornehmheit beitrugen, aber sie behielt diese Gedanken wohlweislich für sich.

»Eigentlich hätte ich alle Ursache, heute mißgestimmt zu sein«, fuhr Muratow fort, »denn meinem Freund Isheim – Sie erinnern sich vielleicht, wir sprachen neulich von ihm – ist etwas Entsetzliches passiert. Er wurde heute früh von einem meiner Kollegen verhaftet, nachdem die Haussuchung ergeben hatte, daß er gestohlenes Gut in seiner Wohnung aufbewahrte.«

»Dann wird Ihr Freund wohl ein Hehler gewesen sein«, meinte Nina kühl.

»Ich kann es nicht glauben!« rief Muratow kopfschüttelnd. »Ich kenne Isheim nun schon so lange – ich traue ihm so etwas nicht zu. Aber das ist nur ein Teil der heutigen Ereignisse! Wie Sie sich wohl denken können, ging die Nachricht von Isheims Verhaftung wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt. Die Folge davon war, daß die Isheim-Aktien binnen wenigen Stunden völlig wertlos wurden. Sein Vermögen ist ja sofort beschlagnahmt worden. Man nimmt an, daß es durchwegs auf verbrecherischem Wege zusammengerafft worden ist. Das Vertrauen ist geschwunden. Die Aktien standen bei Börsenschluß auf nur mehr 12 Prozent und werden wohl morgen noch weiter fallen. Und nun kommt die Ironie des Schicksals! Der Kollege, der Isheim verhaftete, ist selbst vermögend und hatte sein Geld ausschließlich in Isheim-Aktien angelegt. Schon vor einigen Tagen aber hatte er seiner Bank den Auftrag gegeben, diese Aktien zu verkaufen. Die Bank hat jedoch spekuliert. Hat nicht nur den Auftrag meines Kollegen nicht ausgeführt, sondern noch große Posten der Isheim-Papiere angekauft. Um elf Uhr vormittags meldete sie nun den Konkurs an. Mein Kollege ist durch seine eigene Tüchtigkeit plötzlich ein Bettler geworden.«

»Oh!« sagte Nina bedauernd. »Das tut mir aber leid. Wie trägt er es denn? Sie müssen auf ihn etwas aufpassen. Wie oft hört man davon, daß solche Menschen in ihrer Verzweiflung sich das Leben nehmen.«

»Das ist ja gerade das Merkwürdige an der Sache!« rief Muratow. »Mein Kollege scheint sich aus seinem Ruin nicht das geringste zu machen! Er ist heiter und unbekümmert wie immer und wies den Vorschlag Halles, ihm einige Tage Urlaub zu geben, sehr bestimmt zurück. Er war schon immer ein merkwürdiger Kerl, aber diesmal werde ich aus meinem Nuber überhaupt nicht klug.«

»Nuber?« Nina horchte plötzlich auf. »Habe ich recht gehört? Sie sagten doch eben ›Nuber‹?«

»Ja!« meinte Muratow befremdet. »Aber warum ...«

»Wie heißt er mit dem Vornamen?« unterbrach ihn Nina hastig. Eine feine Röte stieg ihr plötzlich in die Schläfen.

»Herbert«, entgegnete Muratow kopfschüttelnd. »Herbert Nuber. Aber jetzt sagen Sie mir gefälligst, warum in aller Welt wollen Sie das wissen?«

Nina hatte die Augen mit der Hand verdeckt. Um ihren Mund lag ein strenger Zug, der ihrem Gesicht etwas Fremdes verlieh.

»Fragen Sie mich nicht! Es ist eine alte Geschichte.« Sie faßte plötzlich nach seiner Hand. »Bitte, bitte, fragen Sie nicht! Lassen Sie lieber mich fragen! Ich muß noch einiges wissen. Vielleicht erkläre ich es Ihnen nachher. Ach, ich weiß ja nicht ...«

»Fragen Sie!« sagte Muratow langsam.

»Seit wann kennen Sie Nuber?« begann sie, ohne zu zögern.

»Seitdem ich in Berlin arbeite. Ich wurde von Köln hierher versetzt. Das dürfte etwa ein Jahr zurückliegen.«

»Wie ist er? Ich meine, in seinem Wesen, Charakter? Erzählen Sie alles, was Sie von ihm wissen!«

»Das ist nicht gerade viel. Nuber lebt nämlich recht zurückgezogen. Im Beruf ist er sehr tüchtig und dürfte wohl eine große Zukunft haben. Wie er im Privatleben ist, weiß ich nicht. Ich habe ihn kaum je ein außerdienstliches Wort sprechen hören. Kurz angebunden und doch nie unfreundlich, augenscheinlich von seinem Wert überzeugt, korrekt bis in die Fingerspitzen, in seinem Äußeren von einer peinlichen, beinahe mädchenhaften Zimperlichkeit. Im übrigen – ein grundehrlicher, tapferer Kerl, in dem, wie ich vermute, ein viel besserer Kern steckt, als man nach einer flüchtigeren Bekanntschaft mit ihm annehmen möchte.«

Ninas Hände spielten nervös auf der Tischplatte.

»Sie irren!« sagte sie plötzlich, tief aufatmend. »Ihr Nuber ist ein Schuft! Aber – – – ich werde ihn aus seiner Selbstherrlichkeit herausreißen, den Elenden!«

Muratow starrte sie ratlos an.

»Ja, aber –«

Nina ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Hier! Schreiben Sie mir seine Adresse auf!«

Muratow füllte stumm den kleinen, ihm hingehaltenen Zettel aus. Als er Nina Hut und Mantel vom Nagel reißen sah, überkam ihn ein leises Unbehagen.

»Sie werden doch keine Dummheiten machen?« meinte er unsicher.

»Ich werde keine Dummheiten machen«, sagte sie böse. »Aber Ihr Nuber wird einige Dummheiten bereuen, Dummheiten, die er begangen hat!«

Wie konnte das bloße Nennen eines Namens einen Menschen so verändern, dachte Muratow, als sie die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Grübelnd starrte er vor sich hin. Wehmütig betrachtete er die Reste des Kakaos und die Zwiebäcke. Der Nachmittag hatte so schön begonnen und nun –?

Plötzlich sprang er auf und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch.

»Und ich will doch wissen, was sie mit Nuber zu schaffen hat!«

Seine Straßenbahn hielt gerade in der Nähe von Nubers Wohnung. Als Muratow ankam, sah er, wie Nina den Fahrer einer Mietdroschke entlohnte und das Haus betrat. Eine Zeitlang wartete Muratow, dann schlich er ihr nach, blieb aber ein Stockwerk unter Nubers Wohnung stehen. Er hörte das Öffnen der Tür. Gleich darauf vernahm er Ninas Stimme.

»Melden Sie Herrn Nuber, daß ich ihn zu sprechen wünsche. Hier ist meine Karte.«

Eine geraume Zeit verging. Dann ertönte eine tiefe Männerstimme.

»Herr Nuber läßt fragen, ob ihn das Fräulein in dienstlicher Angelegenheit oder privat zu sprechen wünscht.«

»Privat!« lautete die Antwort. »Herr Nuber wird sich meines Namens wohl noch entsinnen!«

Wieder verging eine Weile. Endlich rasselte die Tür. Dieselbe Stimme wie vorhin ward hörbar.

»Herr Nuber läßt sagen, er bedaure sehr, aber er empfange grundsätzlich keine privaten Damenbesuche!«

»Er ist wohl verrückt! Ich muß ihn sprechen! Melden Sie mich noch einmal ...«

»Es hat keinen Zweck, gnädiges Fräulein!« schnitt die tiefe Stimme ab. »Herrn Nubers Befehle sind immer endgültig und unwiderruflich.«

»So?! Na, dann sagen Sie Herrn Nuber, er würde es noch sehr bereuen, mich so unwiderruflich abgewiesen zu haben! Sagen Sie ihm dies!«

»Ganz, wie Sie wünschen, gnädiges Fräulein!«

Die Tür fiel ins Schloß. Muratow beeilte sich, vor Nina die Straße zu gewinnen.

Er hatte kaum Zeit gefunden, sich hinter einem Tor zu verbergen, als er sie schon aus dem Hause treten sah. Sie ging rasch, mit gesenktem Kopf durch einige Querstraßen. Unbemerkt folgte er ihr. Bald kam sie auf die Potsdamer Straße und blieb plötzlich stehen. Muratow sah mehrere Menschen in höchster Eile an ihr vorbeilaufen, dann hörte er einige laute Schreie. Beunruhigt beschleunigte er seine Schritte.

Plötzlich zerriß ein schriller Pfiff die Luft.

Muratow lief, zog im Laufen den Revolver, hetzte wie ein Wiesel aus der Querstraße heraus. Eine schreiende, tobende, in ihrer Erregung sinnlose Menge drängte ihm entgegen. In ihrer Mitte ein schwarzer unentwirrbarer Knäuel von ineinander verkrampfen Menschenleibern.

»Platz da! Platz da!« brüllte Muratow, gab mehrere Schüsse in die Luft ab und stieß die im Wege Stehenden auseinander.

Wieder gellte ein Pfiff. Diesmal dicht vor Muratow. Da sah er einen Polizisten. Umstellt, umringt, eingekeilt in der Menge. Und ganz nahe daneben lag eine schwarze Gestalt. Mit Stöcken und Schirmen schlugen gutgekleidete Herren und Damen, mit Fäusten und Absätzen zerlumpte Männer und Weiber auf sie ein. In allen Gesichtern stand ein Gedanke zu lesen: Mord!

Rücksichtslos schlugen die Fäuste Muratows nach rechts und nach links. In sorgendurchfurchte, vergrämte Arbeitergesichter, in bemalte, angepinselte Puppenlärvchen zierlicher Dämchen. Ohne Wahl, mit verbissener, zäher Wut.

Und dann unterschied er im ohrenbetäubenden Lärm einzelne Worte, Schreie ...

»Schlagt ihn tot! Lynchen! An den Laternenpfahl mit ihm!«

Muratow flimmerte es vor den Augen. Er hatte es gesehen, was die Menschen zu Tieren machte. Etwas abseits, nicht weit von der schwarzen Gestalt schimmerte es rot. Ein grausiges Durcheinander von Blut und Kleiderfetzen ...

Plötzlich schrie jemand laut, alles übertönend:

»Hier ist noch einer! Ha! Ein Komplice! Er will ihn raushauen! Gebt's ihm!«

Ein Stockhieb traf Muratows Schläfe. Da wußte er, daß er selbst gemeint war. Daß die entfesselte Menschenmenge sich nun auf ihn stürzen würde. Er wehrte sich. Mit dem Revolverkolben hieb er wie ein Wilder um sich. Doch die Übermacht erdrückte ihn. Er stürzte in die Knie. Kam noch einmal hoch, taumelte ...

Doch da! Endlich! Ein langgezogener, trillernder Ton! Ohne Aufhören, näher und näher. Das Signal der Polizeiwagen!

Im nächsten Augenblick hatte sich das Bild jäh verändert. Die Menge stob auseinander. Kräftige Polizistenarme griffen zu, packten an und ließen nicht mehr los. Die verzerrten, wutentstellten Gesichter wurden schlaff und nüchtern.

Muratow trat vor, wies sich aus.

»Alle festnehmen!« kommandierte er. »Vor allem den da, die da, diesen hier ...« Dann schritt er rasch auf den Polizisten zu, den zu befreien er vorhin vergeblich bemüht gewesen war. »Was ist hier vorgegangen?«

Der Mann hatte den Helm abgenommen und wischte mit einem Tuch über Kopf und Gesicht.

»Weiß genau so viel wie Sie. Kam knapp vor Ihnen dazu. Da war schon der ganze Spektakel im besten Gange.«

Muratow drehte sich um. Seine Augen suchten. Dann riß er ein geschniegeltes Herrchen, dem vor Angst die Knie schlotterten, an der Krawatte hoch:

»Was ging hier vor?!«

»Ich weiß nicht ...« stotterte jener furchtsam, »weiß nicht, wie ... wie es kam ... Der Mann da«, er wies auf die schwarze Gestalt, die noch immer am Boden lag, »hat ein Kind unter ein ... ein ... Lastauto ge ... stoßen ... Ich ... ich weiß nicht, wie es kam, wir wollten ihn lynchen ...«

»Stimmt das?!« brüllte Muratow und blickte finster im Kreise herum. Die Leute nickten stumm, ängstlich. Einige Dämchen, deren Schirme blutig waren, schluchzten auf.

Muratow beugte sich über die schwarze Gestalt. Der Mann lag zusammengekauert, das Gesicht am Boden, die Hände, wie zur Abwehr gegen Schläge, über dem Kopf erhoben, und stöhnte leise.

»Sofort Krankenwagen bestellen!« ordnete der Kriminalinspektor an. »Ins Gefängniskrankenhaus mit ihm. Die ganzen Leutchen hier kommen auf die Wache. Zunächst als Zeugen. Vielleicht erhebe ich später noch die Anklage wegen versuchten Totschlags und Behinderung der Polizei in ihrer Amtstätigkeit.«

Und dann trat er an das kleine Häuflein aus blutigen Fleisch- und Kleiderfetzen. Unwillkürlich zog Muratow den Hut. Einige folgten seinem Beispiel.

»Ein Kind ...« murmelte er grimmig und bückte sich, um einen Blick auf das entstellte Gesichtchen zu werfen. Ein verzweifelter Schrei neben ihm ließ ihn auffahren.

Da stand Nina und starrte auf die kleine Leiche. Ihr Gesicht war grau.

Muratow faßte sie hastig beim Arm.

»Kommen Sie!« sagte er streng und doch mitleidig. »Das ist kein Bild für Ihre Augen!«

»Mein Gott! Mein Gott!« flüsterte sie heiser. »Es ist ja Wang Ho's Bruder!«


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