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26

»Hat unser Bruder vergessen, wie wir uns anzureden pflegen?« fragte der Obmann mit einem seltsamen Lächeln.

Sollte er nicht lieber den fruchtlosen Kampf aufgeben? Zwei Revolver hatte er in seinen Taschen. Er konnte den Tisch umwerfen, dann schnell beiseite springen und die Gegner mit seinen beiden Feuerwaffen in Schach halten. Doch nein! Es ging nicht. Muratow sah elf Fäuste – unbeweglich auf der Tischkante. Die elf anderen Fäuste aber waren im weiten Mantel verborgen, sicherlich fest je einen Revolver umklammernd. Die geringste verdächtige Bewegung seinerseits, und sie machten ein Sieb aus ihm. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. »Blödsinn!« verwarf er ihn sofort wieder. Aber er hatte keine Zeit mehr zum Überlegen. Die Augen des Obmanns bohrten, sein Lächeln wurde breiter und breiter.

»Ich habe es nicht vergessen!« sagte Muratow langsam, mit jeder Sekunde geizend. Sogar der Bruchteil einer Sekunde war jetzt kostbare Zeit zum Überlegen. Fieberhaft arbeitete sein Hirn. »Nein, ich habe es nicht vergessen! Mit vollem Bewußtsein sage ich statt ›Brüder‹ – ›meine Herren‹! So ist es!«

Mehrere Ausrufe des Unwillens wurden hörbar. Eine rasche Handbewegung des Obmanns – sofort trat wieder Stille ein.

»Absonderlich sind deine Worte, Bruder!« wandte er sich listig an den Detektiv. »Du siehst uns alle verwundert und gespannt. So erkläre uns denn nun den heimlichen tiefen Sinn deiner Rede!«

»Ganz Berlin spricht von den Unbarmherzigen und von den Brüdern«, begann Muratow und befleißigte sich nun ebenfalls einer gewissen Feierlichkeit. »Der dümmste Polizist sogar weiß sofort, woher der Wind weht, wenn er das Wort ›Unbarmherziger‹ oder ›Bruder‹ hört. Und wir werfen prahlerisch, wie eingebildete Kinder mit diesen Namen umher. Verraten uns selbst!«

»Er hat recht! Der Gedanke ist ganz richtig! Wir verraten uns selbst!« ertönten einige erregte Stimmen.

Muratow hatte sofort wieder Oberwasser.

»Neulich war ich Zeuge«, fuhr er zuversichtlich fort, »wie einer der Unsrigen, nachdem er gedankenlos eines dieser beiden Worte fallen ließ, vom Fleck weg verhaftet wurde. Die Haussuchung bewies seine Zugehörigkeit zu uns. Jetzt schmachtet er im Gefängnis. Und unser aller Leichtsinn ist schuld daran. Und darum – weg mit dem Ausdruck ›Brüder‹! Seien wir keine eingebildeten Kinder mehr. Wir wollen Männer sein, meine Herren!«

Ein beifälliges Murmeln war die Antwort. Sogar der Obmann blickte wieder freundlicher drein.

»Ihr Riesenhammel!« frohlockte Muratow innerlich. »Ich glaube, ich habe gute Aussichten, Obmann zu werden!« Seine fröhliche Stimmung war jedoch nicht von langer Dauer.

Der Obmann ergriff neuerdings das Wort:

»Über die Vorschläge des Bruders wollen wir nachher beraten. Bis dahin bleibt es beim alten. Nun möge der Bruder endlich mit seinem Bericht beginnen!«

»Wenn ich nur wüßte, was sie von mir wollen!« dachte Muratow. »Die Geschichte geht doch noch schief!« Aufs Geratewohl begann er:

»Ich kann wohl sagen, daß meine Tätigkeit diesmal von Erfolg gekrönt war. Alle mir erteilten Aufgaben habe ich gelöst ... jawohl, habe ich gelöst ... Mit anderen Worten – die Lösung der Aufgaben ist mir geglückt ...«

Die Stille im Raum war geradezu drückend.

»... oder vielmehr – das Lösen der Aufgaben war vom Gelingen begleitet ...«

Muratow schwieg.

»Heiliger Bimbam, steh mir bei!« dachte er verzweifelt. »Ich habe mich, glaube ich, festgefahren! Jetzt platzt die Bombe!«

»Der Bruder möge rascher zur Sache kommen«, sagte der Obmann vorwurfsvoll. »Wir haben nicht viel Zeit. Am besten wird es sein, wenn ich Fragen stelle!«

»Fragen Sie!« rief der Detektiv und hatte Mühe, seine Freude zu verbergen. Sofort tauchte in ihm aber auch der Gedanke auf, daß der Obmann ihm möglicherweise eine Falle stellen würde. Der Ton seiner letzten Worte war verdächtig freundlich.

»Was haben Sie über Nuber in Erfahrung gebracht?« lautete die erste Frage.

»Nuber hat den Fleischer überführt«, begann Muratow ohne zu zögern.

»Das wissen wir selbst ganz genau!« unterbrach ihn der Obmann ärgerlich. »Nachdem von Gorny Fleischer vor überstürzter Flucht warnte, nachdem Fleischer längst selbst Bericht erstattet hat, dürfte dieses Kapitel für uns wohl erledigt sein. Ich will genauer fragen: Weiß Nuber über die Unsrigen schon so viel, daß sein Tod wünschenswert wäre?«

»Nuber ist der tüchtigste aller Kriminalbeamten Berlins«, legte Muratow los. »Er weiß sehr viel. Er muß sterben!«

»Wenn das eine Falle war«, dachte er, »so bin ich nun gerade nicht reingefallen!«

»Gut!« sagte der Obmann trocken. »Nuber wird innerhalb von vierundzwanzig Stunden beseitigt werden.«

»Nuber dürfen wir nicht töten!« warf plötzlich ein anderer mit gedämpfter Stimme dazwischen.

»Warum?« fragte der Obmann scharf.

»Nuber hat das Zeichen«, lautete die leise Antwort.

In allen Gesichtern malte sich Staunen, in einigen sogar Schrecken. Muratow hätte gern gefragt, was mit dem Zeichen gemeint war, aber er merkte, daß er dies unter allen Umständen bereits wissen mußte. Die anderen hatten es anscheinend sofort verstanden.

»Der Fall Nuber ist erledigt!« sagte der Obmann. »Berichten Sie kurz über von Gorny!«

»Oh!« begann Muratow ohne Bedenken. »Von Gorny ist unserer Sache restlos ergeben. Ich habe ihn genau beobachtet ...«

»Es genügt!« schnitt der andere ab. »Und nun – wie steht's mit Muratow? Haben Sie bei ihm Erfolg gehabt? Oder ist da nichts zu machen?«

Muratow überlief es heiß. Die Falle! War das die Falle?

»Es wird schwer halten«, meinte er unbestimmt. »Ich habe alles versucht ...«, er schwieg, um den Gegner zu einer genaueren Frage zu reizen.

»Wir müssen ihn für uns gewinnen!« rief der Obmann »Es muß doch gehen! Der Kerl ist arm. Geld und gute Worte vermögen vieles.«

»Ich habe mein Heil versucht«, entgegnete Muratow achselzuckend. »Ich habe mit ihm geredet – stundenlang. Der Kerl ist unbestechlich. Er muß sterben!«

Für einen Augenblick kreuzten sich des Obmanns und Muratows Blicke. Der Detektiv glaubte in den Augen des anderen Tücke und Bosheit zu lesen. War er erkannt? Kam jetzt die Entlarvung?

»Das hat Zeit«, sagte der Obmann. Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, unterdrückte es aber und winkte mit der Hand ab.

Muratow setzte sich. Vorläufig war die Gefahr behoben. Dennoch war er unruhig. Wenn der Obmann ihn durchschaut hatte, war seine Lage wahrhaftig nicht beneidenswert. Nicht einmal Zeit zum Nachdenken blieb ihm. Denn schon ergriff sein Widersacher von neuem das Wort:

»Brüder, der Bericht, den wir eben hörten, steht im engsten Zusammenhang mit dem Thema des heutigen Tages. Absichtlich nannte ich es nicht vorhin schon genauer. Es lautet – Verrat! Ich sagte dies bereits. Es liegt aber auch eine unmittelbare Anklage vor. Der Unbarmherzige von Gorny wird des Verrats an unserer Sache bezichtigt! Der Ankläger hat das Wort!«

Der Obmann ließ sich auf seinen Sitz nieder. Eine andere vermummte Gestalt erhob sich sogleich.

»Ich klage an!« rief der Mann laut mit grollender Stimme. »Nach dem weisen Beschluß des Großen Unbarmherzigen kennen die Mitglieder des Hohen Rates einander nicht. Heute sehen wir, wie klug erdacht dies ist. Wäre dem nicht so, wir alle säßen jetzt im Gefängnis – Opfer eines ruchlosen Verräters! Andererseits hat unser System auch seine Nachteile. Wie wollen wir in unserer Mitte den Verräter finden, ohne uns zu demaskieren? Von Gorny – das ist nach Fleischers Mißerfolg der einzige Unbarmherzige, der bei der Polizei ungehindert täglich aus und ein geht. Was liegt näher als die Annahme, daß von Gorny uns bei der Polizei verzinkt hat, daß er der gesuchte Verräter ist? Wir wissen nicht, ob er zum Hohen Rat gehört. Ist dem aber so, dann ist meines Erachtens jeder Zweifel ausgeschlossen! Darum schlage ich vor: In Anbetracht der Wichtigkeit der Sache lüften wir alle unsere Masken!«

Durch die Reihen der übrigen ging eine Bewegung. Unwillige Ausrufe wurden hörbar.

»Unser Gesetz verbietet dies!«

»Wir sind dann alle dem Verräter preisgegeben!«

»Laßt uns abstimmen!« rief der Obmann dazwischen. »Wer dafür ist, daß wir in diesem außergewöhnlichen Falle unsere Masken abnehmen, der hebe die Hand!«

»Nicht nötig«, sagte plötzlich jemand sehr ruhig. »Ich, von Gorny, stelle mich freiwillig!«

Muratow war es, als wiche ein Alpdruck von seiner Seele. Er war schon auf das Schlimmste gefaßt gewesen. Nun hatte er ohne Zweifel für eine Zeitlang Ruhe. Die Aufmerksamkeit aller galt jetzt von Gorny. Er hatte sich mit einer raschen Bewegung die Maske vom Gesicht gerissen, warf nun auch die Kapuze vom Kopf und stellte sich etwas abseits von den übrigen, Um seine Lippen spielte ein heiteres, unbefangenes Lächeln.

Es dauerte eine geraume Weile, bis sich die anderen von ihrer Überraschung erholt hatten.

»Du hast Mut, junger Bruder!« sagte der Obmann endlich anerkennend. Doch sogleich fügte er hart hinzu: »Von Gorny, betrachten Sie sich von diesem Augenblick an als unser Gefangener!«

Von Gorny neigte zustimmend den Kopf.

»Selbstverständlich! Ich bin bereit, den Spruch des Hohen Rates zu hören. Mein Leben gehöre dem, der mir den Verrat an unserer Sache nachweist!«

»Von Gorny!« begann der Ankläger wieder. »Wie erklären Sie es sich, daß die Polizei gerade in letzter Zeit vieles in Erfahrung brachte, was nur ein Mitglied des Hohen Rates wissen konnte?«

Von Gorny zuckte die Achseln.

»Es gibt dafür nur eine Erklärung – Verrat!«

Der Ankläger konnte seine Überraschung nur schlecht verhehlen.

»Ah! Sie geben es selbst zu? ... Sie ...«

»Nichts gebe ich zu!« unterbrach ihn der andere rasch. »Wohl ist es klar, daß ein Mitglied des Hohen Rates uns verraten hat. Aber – der Hohe Rat zählt bekanntlich zwölf Mitglieder und nicht eines, Herr Ankläger!«

In den schwarzen Augen seines Gegners blitzte es feindselig auf.

»Um den Verdacht von sich abzulenken, erdreisten Sie sich, den gesamten Hohen Rat zu beschimpfen?!«

Von Gorny schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein! Ich will nur eines hervorheben! Weder meine Mitgliedschaft im Hohen Rat, noch meine Tätigkeit bei der Polizei ist ein Beweis meiner Schuld. Denn wir sind zwölf Mitglieder, und bei der Polizei arbeite ich auf ausdrücklichen Befehl der Unbarmherzigen. Solange meine Schuld nicht bewiesen ist, lastet derselbe Verdacht auf jedem einzelnen von uns.«

»Er hat recht!« warf der Obmann ärgerlich ein. »Der Ankläger soll nun endlich zur Begründung übergehen.«

Der Ankläger biß sich wütend in die Lippen.

»Vergebens, von Gorny, versuchen Sie es, sich mit Ihren beliebten Kniffen der Schlinge zu entziehen! Ich beginne jetzt mit der Begründung. Am 17. März kam von Gorny in Berlin an. Am 20. März wurden zehn Unbarmherzige verhaftet. Am 27. März meldete uns Fleischer, daß der Polizei vierzehn weitere Unbarmherzige bekannt seien. Unsere Brüder mußten sofort fliehen. Drei von ihnen fielen trotzdem der Polizei in die Hände. Am nächsten Tage zeigte es sich, daß unser Anschlag im Filmtheater ebenfalls verraten worden war. Ein weiteres Mitglied wurde verhaftet. Einige Tage darauf wurde die Tätigkeit unseres Spions Fleischer unterbunden. Und jetzt kennt die Polizei sogar einige Mitglieder des Hohen Rates! Sollten alle diese Dinge nur zufällig mit dem Erscheinen von Gornys in Berlin zeitlich zusammentreffen? Ein Tor, der das glaubt! Von Gorny und kein anderer ist der gesuchte Verräter! Ich beantrage die Todesstrafe, und zwar mit sofortiger Vollstreckung!«

»Von Gorny«, sagte der Obmann ernst, »ich erteile Ihnen jetzt das Wort zur Verteidigung. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich in Gefahr befinden. Das, was die Anklage vorbrachte, sind zwar keineswegs klare Beweise, aber der Verdacht ist so dringend, daß es nach meinem Ermessen um Ihren Kopf geht!«

Von Gorny nickte. Er schien noch immer vollkommen ruhig.

»Ich weiß. Aber ich bin meiner Sache sicher. Seit langem sah ich dies alles kommen. Ich wußte, daß man mich eines Tages des Verrates bezichtigen würde. Und ... nun, ich habe selbst nach dem wahren Täter geforscht. Seit drei Tagen kenne ich ihn.«

»Von Gorny!« rief der Ankläger drohend. »Sie können uns weder durch Ausflüchte, noch durch leere Vermutungen täuschen! Sie werden Ihre Worte beweisen oder – es kostet Ihr Leben!«

»Ich kann meine Worte beweisen. Verlassen Sie sich darauf!«

»Gut! Dann nennen Sie uns jetzt den Namen des mutmaßlichen Verräters!«

Von Gorny kreuzte die Arme herausfordernd übereinander. Langsam wanderten seine Blicke von einer vermummten Gestalt zur anderen. Es lag etwas unsagbar Grausames in seinen Augen. So manches Mitglied des Hohen Rates erschauerte unter diesem Blick.

»Nun, Sie scheinen ja Ihrer Sache doch nicht sehr sicher zu sein?« höhnte der Kläger.

»Doch, Herr Ankläger!« entgegnete der andere gelassen. »Ihr Name, Herr Ankläger, lautet Gabriel! Der Name des Verräters lautet ebenfalls Gabriel!«

Der Ankläger sprang auf.

»Teufel!«

Mit einem unterdrückten Wutschrei stürzte er vor. Ein Dolch blitzte auf. Von Gorny fuhr zurück, streckte seine langen Arme zur Abwehr vor. Es gelang ihm, den Rasenden bei den Händen zu packen. Ein Ruck. Die Rechte seines Gegners war wieder frei. Plötzlich wurde ein heiseres Röcheln hörbar. Von Gorny lag am Boden und preßte stöhnend beide Hände gegen die rechte Seite der Brust.

Lautlose Stille. Die Vermummten waren schreckensbleich dem kurzen, nur Sekunden währenden Kampf gefolgt. Es spielte sich alles so blitzschnell ab, daß niemand hatte eingreifen können.

Von Gorny lag jetzt regungslos da. Neben ihm stand, gesenkten Hauptes, sein Widersacher. Mit einer müden Gebärde nahm er die Maske ab. Man erblickte das geisterbleiche Antlitz Gabriels.

Endlich unterbrach der Obmann die Stille.

»Unbarmherziger Gabriel! Betrachten Sie sich als unser Gefangener! Die Anklage lautet auf Verrat und versuchten Meuchelmord an einem Mitglied des Hohen Rates!«

»Einen Verband ...« röchelte von Gorny. »Ich verblute ...«

Zwei vermummte Gestalten knieten bereits neben ihm, rissen seine Kleider auf.

»Ungefährliche Fleischwunde«, erklärte der eine, nachdem er den Verletzten untersucht und einen Notverband angelegt hatte.

»Das ist ganz gleich!« entgegnete der Obmann eisig. »Einer von den beiden wird binnen wenigen Minuten sterben. Von Gorny oder Gabriel! Sind Sie in der Lage zu sprechen, von Gorny?«

Der Engländer nickte matt.

»Dann lösen Sie bitte Ihr Wort ein und beweisen Sie die Schuld Gabriels!«

»Durchsuchen Sie ihn!« stieß von Gorny mühsam hervor. »Er muß Briefe bei sich haben. Briefe ... Beweise ...«

Gabriel leistete keinen Widerstand. Die Untersuchung währte nur wenige Minuten. Außer einer Brieftasche und einem Revolver fand man nichts. Der Dolch war ihm schon vorher entrissen worden.

Der Inhalt der Brieftasche wurde genau geprüft.

»Lauter belanglose Sachen«, meinte der Obmann. »Höchstens dieser Brief hier – eine Vorladung ins Polizeipräsidium zur Zeugenaussage –, aber diese Angelegenheit ist uns bekannt. Sie hat mit uns nichts zu tun.«

»Bitte, zeigen Sie mir den Brief«, bat von Gorny. Prüfend überflog er dessen Inhalt. Dann wandte er das Blatt unschlüssig hin und her.

»Ja, natürlich ...« murmelte er, »so wird es sein ... In meiner Tasche ist eine Retorte ... Die müssen Sie erwärmen  ... Wenn die Flüssigkeit kocht ... den Brief ... Rückseite ... darüber halten ... Geheimschrift sichtbar ... durch Chlorgas ...«

Aller Anwesenden bemächtigte sich Erregung. Nur Gabriel selbst blieb ruhig. Als sich seine Genossen fieberhaft an die Arbeit machten, zuckte es um seine Mundwinkel in kaum verhaltenem Spott.

Leise knisterte eine Kerze. Gespannte Gesichter beugten sich vor.

»Nichts zu sehen!«

»Ist das nicht ein Fleck? Ha! Er wird größer!«

»Ein Buchstabe! Noch einer!«

»Da! Eine ganze Zeile!«

»Geheimschrift! Verrat!«

Dann wurde es plötzlich wieder still. Der Obmann wandte sich langsam um, Gabriel zu. Dieser hatte seine Selbstbeherrschung verloren. Aus blöden Augen stierte er vor sich hin.

»Ich lese die Geheimschrift vor«, sagte der Obmann langsam, jedes Wort betonend. »Nachrichten erhalten. Geld an Deckadresse abgesandt. Erwarten genauen Bericht über Sitzung des Rates.«

Ein drückendes Schweigen breitete sich aus.

»Ich bin unschuldig«, stammelte Gabriel endlich. »Ich weiß nichts von dieser Geheimschrift.«

»Er lügt!« stöhnte von Gorny. »In meiner Tasche ist ein weißes Blatt ... Brief ... von ihm ... Es ... es ist dieselbe Tinte ...«

Das Blatt wurde eilig hervorgesucht. Es war unbeschrieben, aber nach der Behandlung mit Chlorgas traten auf beiden Seiten Buchstaben hervor. Die Vorderseite war in der charakteristischen Handschrift Gabriels eng beschrieben, enthielt aber nur harmlose Mitteilungen an einen Freund. Gabriel gab sofort zu, den Brief geschrieben zu haben, konnte aber für das geheimnisvolle Verschwinden der Schrift keine Erklärung geben. Vollkommen ratlos aber war er, als man ihm die Rückseite des Briefes zeigte. Da stand in seltsam gemalten, verschnörkelten Buchstaben: »Fleischer sofort verhaften. Mitglied der U. Auch Mörder Olbrigs. Brauche Geld.«

»Schuft!« brüllte der Obmann. »Hast du noch etwas zu sagen? Dann beeile dich! Deine Minuten sind gezählt!«

»Ich bin unschuldig!« würgte Gabriel hervor. »Ich weiß nichts von alledem ...«

»Erzähle deine Ammenmärchen einem anderen«, lachte der Obmann verächtlich. »Da von Gorny nicht in der Lage ist, unserem Brauch gemäß, die Hinrichtung des von ihm überführten Verräters selbst vorzunehmen, so werde ich es tun.«

Er zog einen Revolver und stieß Gabriel in die Seite.

»Los! Vorwärts! Marsch in den Inquisitionsraum!«

Gabriel taumelte. Der Obmann packte ihn beim Arm und zog ihn zu einer kleinen Tür. Einige Sekunden nachdem sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, knallte ein Schuß. Gleich darauf trat der Obmann wieder ein, in der Hand den noch rauchenden Revolver. Sein Gesicht war fahl, und die Hand mit dem Revolver zitterte merklich.

»Brüder!« sagte er mit heiserer Stimme. »Der Verräter ist gerichtet! Wir können wieder ruhig und unbesorgt unseren Aufgaben nachgehen. Niemand wird mehr ...«

Plötzlich schwieg er. Seine Augen waren starr nach dem Haupteingang gerichtet. Wie elektrisiert wandten sich alle um.

In der Tür stand eine vermummte Gestalt. Es war eigentlich nichts Auffallendes an ihr. Weder die Maske, noch die Kapuze oder der schwarze Mantel unterschieden sich in irgend etwas von denen aller übrigen. Dennoch malte sich in den Augen der Vermummten Staunen und Schrecken: Am Tisch saßen elf Mitglieder des Hohen Rates. Das zwölfte lag erschossen im Nebenzimmer. Folglich war die in der Tür stehende vermummte Gestalt – die dreizehnte.

Sofort erkannte Muratow die neue, ihm drohende Gefahr. Es mußte dem verhafteten Mitglied, dessen Rolle er hier spielte, irgendwie gelungen sein zu entkommen. Es lag auf der Hand, daß die Unbarmherzigen, ohne auch nur genötigt zu sein, die Masken abzunehmen, ihn – Muratow – jetzt als den Eindringling erkennen würden.

»Was bedeutet das? Wer sind Sie?« preßte der Obmann hervor.

»Ohne Gnade!« rief der eben Eingetretene laut. »Ich bin ein Bruder!«

Langsam trat er näher. Als alle erwartungsvoll schwiegen, fuhr er fort:

»Im Hofe wurde ich überfallen und niedergeschlagen. Als ich wieder zu mir kam, war das Bündel, das meine Maske, Kapuze und Mantel enthielt, verschwunden. Die Wächter ließen mich ohne Vermummung nicht ein. So mußte ich mir erst neue Maskierungsstücke besorgen ...«

»Ha!« schrie der Obmann wild. »Dann – – dann – –«

»Dann befindet sich jetzt hier in unserer Mitte ein Spitzel!« ergänzte der andere finster.

Muratow hatte viel Zeit verloren. Als er hörte, daß dies nicht dasjenige Mitglied war, dessen Verhaftung um elf Uhr vorgenommen wurde, atmete er erleichtert auf. Erst nachher kam ihm mit erschreckender Deutlichkeit zum Bewußtsein, daß sich dadurch seine Lage kaum verbesserte. Es genügte vollkommen, wenn der Neuankömmling der Bruder war, dessen Bericht man erwartet hatte. Die Unbarmherzigen würden sich sofort seines eigenen, merkwürdig zerfahrenen Berichtes erinnern und dann – – –

Schon bohrten sich die funkelnden Augen des Obmanns in die seinen. Muratow wollte nicht warten, bis die Brüder ihn festnahmen. Mit einem Satz sprang er auf, rannte zur Tür, drehte sich hier blitzschnell um. In beiden Händen hielt er je einen Revolver.

»Hände hoch!«

Widerwillig gehorchten alle. Aber in ihren Gesichtern las Muratow keine Furcht. Eher Triumph.

»Wer sind Sie?« erkundigte sich der Obmann.

»Inspektor Muratow von der Kriminalabteilung!« erwiderte der andere.

»So, so ...« lächelte der Obmann höhnisch. »Nun, und wie denken Sie sich denn das Weitere? Hm? Sie wollen uns doch nicht etwa verhaften? Oder doch?«

Muratow hörte plötzlich hinter sich ein leises Knacken. Er wollte sich schnell umdrehen, doch war es bereits zu spät. Seine Arme wurden von hinten gepackt und hochgerissen. Ein Schuß krachte. Die Kugel schlug in die Decke ein. Der Detektiv wurde zu Boden gerissen und war im Augenblick gefesselt.

Jetzt erst wurde er dessen gewahr, daß er es nicht mit einem, sondern mit zwei Feinden zu tun gehabt hatte. Es waren beides baumlange, stämmige Burschen mit rohen, häßlichen Gesichtszügen. Sie mußten sich unbemerkt an ihn herangeschlichen und auf ein Zeichen des Obmanns gewartet haben. Darum also dessen Frage nach seinem Namen! Muratow hatte durch seine vorschnelle Antwort selbst das Zeichen zum Angriff gegeben.

»So, mein Freundchen!« sagte der Obmann lächelnd. »Jetzt hat die Komödie ein Ende! Für dein Leben gebe ich keinen Groschen mehr!«

Muratow schwieg. Seine ganze Hoffnung war jetzt von Gorny! Der würde wohl den Versuch machen, ihn herauszubeißen. Aber verwundet, wie er war, würde er kaum etwas nützen können. Es schien, daß sich Muratow in von Gorny nicht getäuscht hatte. Der Engländer erhob sich mühsam und trat, auf den Arm eines Genossen gestützt, an den Detektiv heran.

»Er ist es!« erklärte er mit leiser Stimme. »Es ist Muratow von der Kriminalpolizei. Was soll mit ihm geschehen?«

»Sterben!« erwiderte der Obmann. »Bis morgen wollen wir ihn einsperren. Dann berufen wir eine allgemeine Zusammenkunft der Unbarmherzigen und vollziehen öffentlich, vor aller Augen, seine Hinrichtung. Das wird ein vorzügliches Abschreckungsmittel für alle schwankenden Brüder sein!«

Muratow atmete auf. Also morgen erst sollte er sterben! Dann war noch nichts verloren. Bis dahin würde von Gorny ihn natürlich befreit haben ...

»Blödsinn!« rief dieser plötzlich. »Morgen sucht die gesamte Polizei nach diesem Bürschchen! Heute, und zwar sofort muß er sterben! Er wird der vierte von uns gerichtete Kriminalinspektor sein.«

Muratow traute kaum seinen Ohren. War denn das denkbar? Der Agent der englischen Regierung von Gorny jagte ihn, den Kriminalbeamten, geradewegs in den Tod?

»Du hast recht, Bruder!« stimmte der Obmann zu. »Wir wollen ihn sofort beseitigen! Morgen können wir den Unsrigen seinen Kopf zeigen!«

Langsam, umständlich zog er seinen Revolver. Dann ging er auf den Gefesselten zu und zog ihn am Kragen hoch.

»Marsch! Dorthin!« deutete er auf die Tür, hinter der bereits vor kurzem ein Schuß gefallen war.

Der Detektiv machte zwei, drei Schritte. Dann warf er sich heftig herum und versetzte seinem Henker einen Fußtritt in die Magengegend, daß der andere taumelnd in die Ecke flog. Doch sogleich war Muratow von Vermummten umringt, überwältigt. Nun wurden auch seine Füße gefesselt, und zwei der Verbrecher trugen ihn zur kleinen Tür.

»Halt!« rief plötzlich eine Stimme laut und gebieterisch. »Ich, der Große Unbarmherzige, verbiete die Hinrichtung! Ich habe mit dem Mann anderes vor.«

Muratows Widersacher wandten sich überrascht um.

»Du – der Große Unbarmherzige?« fragte der eine lauernd. »Kannst du es uns beweisen?«

»Ich kann es!« war die kühle Antwort. »Legt den Gefangenen einstweilen im Inquisitionsraum nieder! Schließt die Tür! Dann beweise ich es euch.«

Muratow gab es auf, nach Erklärungen der seltsamen Begebenheiten in diesem Kellerraum zu suchen. Er beschloß, ruhig zu warten. Er konnte nicht einmal seine neue Umgebung in Augenschein nehmen, denn er befand sich im Dunkeln. Da merkte er auf einmal, daß die Fesseln um seine Handgelenke sich gelockert hatten. Mit einiger Mühe gelang es ihm, eine Hand zu befreien. Im nächsten Augenblick fielen die Fesseln herab. Nun noch schnell die Füße befreit! So, jetzt sollten sie nur kommen! Er würde schon noch ein Wörtchen mitzusprechen haben.

Rasch brannte er ein Streichholz an. Dicht neben sich erblickte er den Körper des gerichteten Verräters. Plötzlich stutzte Muratow. Schnell noch ein Streichholz! Himmel, es stimmte! Der Tote war gar nicht Gabriel! Das Gesicht war ihm vollkommen fremd.

Der Detektiv hatte keine Zeit, nach einer Erklärung dieser merkwürdigen Tatsache zu suchen, denn in derselben Sekunde wurde es im Räume hell. Als Muratow sich erschrocken umsah, erblickte er hinter sich eine der vermummten Gestalten.

»Oh! Sie haben sich schon selbst befreit«, sagte der Eingetretene spöttisch. »Das macht nichts! Oh, bitte, regen Sie sich nicht auf. Ich sehe, Sie wundern sich, daß hier nicht der Leichnam Gabriels liegt. Sie hätten eben besser aufpassen sollen. Ich wußte es sofort, als angeblich Gabriel, nachdem er den Obmann erschossen hatte, ziemlich aufgeregt zu uns hereinkam. Der Stern stak nämlich nicht mehr auf der linken, sondern auf der rechten Brustseite ... Aber das sind Kleinigkeiten. Nicht der Rede wert.«

Der Vermummte setzte sich gemächlich an einen kleinen Tisch in der Ecke, zog aus einem Schubfach ein Blatt Papier, rückte die Tinte näher und begann zu schreiben.

»Sie bekommen jetzt von mir einen Passierschein«, fuhr er, ohne im Schreiben innezuhalten, in seiner Rede fort. »Das Losungswort allein dürfte nicht genügen, da alle unsere Leute wissen, daß die Geheimsitzung noch nicht beendet ist. Jedem, der Sie anhalten will, zeigen Sie diesen Schein, und sagen, daß ihn der Große Unbarmherzige selbst ausgestellt hat. So! Hier, nehmen Sie mal!«

Muratow trat rasch näher und griff hastig nach dem Blatt.

»Verdammt!« schrie der Vermummte auf. »Können Sie nicht besser aufpassen?!«

Durch eine ungeschickte Bewegung hatte der Detektiv das Tintenfaß umgeworfen. Der schwarze Inhalt ergoß sich über den ganzen Tisch. Ärgerlich trocknete der Vermummte mit einem Taschentuch seine befleckten Finger. Muratow stand völlig entgeistert daneben und sprach kein Wort.

»Machen Sie, daß Sie endlich weiterkommen!« herrschte ihn der andere an. »Hier, durch dieses Fenster gelangen Sie in einen Gang. Immer geradeaus – dann kommen Sie in den Hof. Beeilen Sie sich! Von mir werden Sie bald hören.«

Schweigend folgte Muratow den Weisungen. Er schritt durch den Gang, dann über den Hof. Seine Gedanken jagten wirr durcheinander. Dieser Vermummte, der Große Unbarmherzige, hatte natürlich die ganze Zeit mit verstellter Stimme gesprochen. Aber in dem Augenblick, als ihm die schwarze Flüssigkeit über die Finger lief, klang sein Aufruf »Verdammt!« ganz anders. Diese Stimme war die echte.

»Entsetzlich!« stöhnte Muratow.

Diese Stimme kannte er nur zu gut. Es war die Stimme seines Kollegen Nuber.


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