Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXXII.

Jahre sind über die alte Erde dahin gegangen, und abermals entfärben sich Feld und Wald. Wo noch vor wenigen Wochen die goldenen Kornfelder wogten, blickt die Herbstzeitlose aus dem erschöpften Boden und mahnt an den Winterschlaf. Ein frischer Wind streicht über das Land und verweht den Rauch aus dem hochragenden roten Schlot, um dessen Fuß sich in weiter Ausdehnung die fensterlosen einstöckigen Häuser zusammen drängen, die ihr Licht von den abgeschrägten Glasdächern erhalten. Am Thore der Umfassungsmauer steht in Goldbuchstaben: Johannes Lenz & Komp., und der wohlbekannte Hüter mit der Militärmütze ist auf diese zahllosen Häuschen stolzer, als ehedem auf das fünf Stockwerke hohe Gebäude an der Spree, das in ein paar Stunden ein Raub der Flammen werden konnte.

Es ist Sonntag, und die Arbeit ruht in den weiten, luftigen Sälen, doch ab und zu spricht auf dem Wege zur Kirche ein gut gekleideter Arbeiter mit Frau und Kind den Pförtner an. Dann hört man fröhliches Plaudern und helles Lachen. Ja, es lebt sich besser hier draußen auf dem platten Lande, als früher drüben in der großen Stadt. Sie haben ihr gutes Auskommen und jeder ein eigenes Häuschen und Feld. Im Sommer, wenn die Fabrikarbeit knapp ist, bestellen sie ihre Äcker, und im Winter, Frühling und Herbst stehen sie gerne wieder vor den rasselnden Spinnstühlen. Keiner verkommt mehr in der Branntweinschenke, sie leben in ihrer Familie am eigenen Herd, und weil sie Grundeigentümer sind und am Gewinne teilhaben, so verlachen sie die Lehren des Sozialismus.

Die gleiche Zufriedenheit waltet auch drüben im Herrenhause. Zu ebener Erde wohnt Heller mit seiner Frau. Beide sind alt und hinfällig geworden, denn viel Schweres ist über sie gekommen. Der Tod ihres Kindes hat sie tiefer geschmerzt, als der Verlust ihrer Millionen. Aber als sie dann das Charlottenburger Grundstück samt Villa und Weberei um einen so überraschend hohen Preis verkaufen konnten, da verzichteten sie gern auf die strittige Entschädigung der Feuergesellschaften und bauten mit Hilfe der rheinischen Freunde und Berliner Verwandten hier draußen die Fabrik wieder auf. Keinen Augenblick verzagte der Alte, und ob auch täglich sein Schwiegersohn ihn ermahnt, sein Alter zu bedenken, er ist doch immer der Erste in der Fabrik und der Letzte beim Feierabend. Und der Segen, der auf jeder ehrlichen Arbeit liegt, mildert ihre Trauer und gibt ihnen Kraft und Stärke.

Durch die braunen Locken von Hans schimmern vorzeitige Silberfäden, die Zeugen vergangenen Leides. Nur dann und wann an schonen Sommerabenden greift er zu seiner Geige, und sie haucht in schmelzenden Tönen aus, was in ihm an Sehnsucht und Hoffnung noch unter der Asche glüht. Dann begleitet ihn wohl der alte Fabian auf seinem »Instrument« wie dazumal, aber seine Lene lauscht nicht mehr verträumt im Halbdunkel ...

Auch an diesem Herbstabend klingt es und singt es wieder im Herrenhause, denn Hans feiert seinen Geburtstag, und Hellers haben lieben Besuch. Baron von Berkow ist mit seiner Tochter und Enkelin von Berlin gekommen. Noch trägt Frau Adelheid ihr Schwarz für den Gatten und ihren Schwiegervater, der (ganz leise wird es gesagt) freiwillig aus dem Leben schied, aber die weißen Spitzen auf ihrem Haar und die Rosen an ihrer Brust erhellen schon freundlich die Trauer um ihre Toten. Lauschend sehen sie jetzt den Musikanten zu. Auf dem Tische brennen die Lichter des Geburtstagskuchens, den Frau Fabian wieder wie früher für ihren Herrn gebacken, und daneben sitzen der Kommerzienrat, der noch weißer geworden, seine Frau, jetzt eine gichtbrüchige Greisin, und bei ihrem noch strammen Vater Frau Adelheid, ihre Hand auf dem blonden Gelock ihres Töchterchens. Und wie die Sonate mit ihrem Freiheitliede verklingt, geht die Thür auf, und Herr Hinnen-Lotz und sein Schreiber Hitschold, beide unverändert die Alten, treten herein und bringen dem Herrn den Glückwunsch des gesamten Personals, In wohlpräparierter Rede feiert der biedere Schweizer die zum zweitenmale wiedergeborene Firma Johannes Lenz & Komp., ihre hohe Blüte und ihrer Arbeiter Glück und Zufriedenheit. Der Pestluft städtischer Proletarierkreise entrückt, seien sie durch ihre ländliche Heimstätte zu guten Arbeitern, wackeren Staatsbürgern und zu Menschen geworden. Dies hätte freilich erst nach Ausscheidung aller unlauteren Elemente ermöglicht werden können, aber da die Polizei seinen Todfeind, den Kardenschleifer Pinzger, zwar aus Mangel an Beweisen aus der Untersuchungshaft entlassen, jedoch auf Grund des Sozialistengesetzes in seine Heimat abgeschoben habe, so sei damit die »ansteckende Eiterbeule der sozialistischen Irrlehre auf einmal geplatzt.« Im weiteren verwickelt sich der geschätzte Redner jedoch rettungslos in seine Periode, so daß er rasch abbricht und mit einem Hoch auf das Geburtstagskind schließt. Dann sitzt man noch lange bei Wein und Kuchen beisammen, und im Plaudern verrät der Spinnmeister, daß er im Begriffe stehe, seinem Jakob, dem jetzigen Aufseher in der Karderie, eine zweite Mutter zu geben.

»Und wer ist die Glückliche?« heißt es von allen Seiten.

»Halt keine kaufmännische Heirat,« gibt er zur Antwort, »sondern eine alte Liebe. Die Marie Mila aus dem Haspelsaal.«

Alle wünschen zu der guten Wahl Glück.

»Aber was sagt Ihr Sohn dazu?« fragt Heller.

»O der Bub ist selber Bräutigam,« erwidert Herr Hinnen-Lotz. »Er hat sich schon lang in die Schwester meiner Braut vergafft, die Hasplerin Lore, die Zwillingsschwester unseres zweiten Cylindermachers ... Ich weiß wohl, die Wahl ist bedenklich. Aber das Kind ist durch eine harte Schule gegangen, eine gute Arbeiterin geworden und von allem Leichtsinne geheilt. Schon ihre gestrengen Eltern sorgten dafür. Ihr Kleines wird Jakob adoptieren, denn der Schlosser-Nante ist ja in Amerika gestorben. Item, es wird schon gehen, auch ist der Schaggi ja ganz wie sein Alter: er fürchtet die Weiber nicht ... Ist das aber nicht herzig, daß hier Vater und Sohn Schwäger werden? Jetzt fehlt nur noch der Dritte im Bund als Ehemann, der Hitschold, aber vor dem sind die Mädchen viel sicherer als die Rosse.«

Alle lachen, nur der Buchhalter nicht, denn er hat etwas auf dem Herzen, und sein Freund quält ihn so lange, bis er damit herausrückt.

»Weil doch gerade von Rossen die Rede ist,« sagt Hitschold schüchtern, »so möcht' ich bitten, das Fuhrwesen der Fabrik mir wieder zu übergeben.«

»Was,« ruft Heller lachend, »infolge des Ausstandes mußten Sie Ihren Marstall auflösen, und nach diesem Verluste wollen Sie abermals? ...«

»Alte Liebe rostet nicht,« entgegnet der Buchhalter. »Und Rosse werde ich für unsere Rollgüter beschaffen, oh! ...«

»Wir wissens schon,« unterbricht ihn Heller, »schöner nützt nichts!«

»Aber nur kein Zebra mehr!« fügt Herr Hinnen boshaft wie immer bei.

»Kinder,« fährt der Kommerzienrat fort, »da wir so gemütlich beisammen sitzen, fällt mir etwas ein. Herr Spinnmeister, als Sie uns damals das Lied von Brief und Geld sangen, da sind Sie uns den zweiten Vers schuldig geblieben.«

»Wenn Sie ihn hören wollen, ich bin immer bei Stimme,« sagt der Schweizer, räuspert sich, wirft den Kopf zurück und hebt mit des zweiten Basses Grundgewalt zu singen an:

»Kouponschneider, Spekulanten,
Hausse- und Baissefabrikanten,
Die, was fremder Schweiß erspart,
Schnell verthun nach Spielerart,
Die nicht ehrlich Handwerk schätzen,
All's auf eine Karte setzen
Und so wenig produktiv –
Die sind Brief, ja, die sind Brief.«

Der alte Heller nickt freundlich zustimmend und wiederholt gedankenvoll den Refrain: »Ja, die sind Brief!« Doch das rote Gesicht des Eidgenossen überfliegt es wie Verklärung, und den Blick fest auf den verehrten Greis gerichtet, singt er weiter:

»Doch die ringen, wirken, streben
Und dem Armen gerne geben,
Die nicht fremdes Gut begehren,
Jede Hand voll Schwielen ehren,
Die im Unglück nicht verzagen,
Nicht um Millionen klagen
Und die Eitelkeit der Welt, –
Die sind Geld! Ja, die sind Geld!«

Der Sänger verstummt und setzt sich unter dem Beifall der kleinen Gesellschaft. Heller aber wischt sich gerührt die kleinen grauen Augen.

»Ja, ja, die Arbeit,« sagt er ernst, »es geht nichts darüber. Nur auf ihr liegt der Segen Gottes. Mein letzter Feierabend bricht an, aber ich bin glücklich in dem Gedanken, mein Tagewerk ehrlich gethan zu haben.«

Frau Viktoria, die mild und demütig geworden, drückt ihrem Alten mit einem freundlichen Blicke die Hand, und erst jetzt bemerkt man, daß schon vor dem Liede Frau Adelheid leise aufgestanden und mit ihrem Kind auf den Altan hinausgetreten und daß nach einer Weile Hans ihnen gefolgt war. Jetzt stehen sie draußen im Abendrot und blicken still und bewegt in die herbstliche Welt.

»Adelheid,« sagt er leise und ergreift ihre Hand, »wir haben zusammen viel Ungemach erlebt. Wollen wir einander helfen, unser halbes Glück zu tragen?«

»Damit ein ganzes daraus werde!« entgegnet sie sinnend. »Ja, die Blätter fallen, und der Winter steht vor der Thür, aber wir werden beisammen sein und nicht mehr fröstelnd im Leben stehen. Wie schnell und freudlos ist uns der Sommer entschwunden, – der Spätherbst ist da, aber ist es denn zu spät, wenn man sich liebt?«

Er drückt einen Kuß auf ihre Hand, und sie neigt ihr stilles, frommes Gesicht, dem der Schmerz die blühende Schönheit genommen, aber dafür die madonnenhafte Milde verliehen, ihrem lieblich aufblühenden Kinde zu, dem sie wieder einen Vater gibt.

»O ich Kleingläubiger!« ruft er aus. »Hat nicht der Herbst die schönsten Früchte, freundliche Sonnenblicke ohne brennende Glut, wundervoll abgeklärte Stimmungen, duftverhüllte Fernen? Wir sehen nicht den Schnee auf unserm Scheitel, nicht die Furchen auf unseren Zügen; wir sehen uns mit den Augen der Erinnerung und überwinden mit unserem warmen Herzen den Frost. Und haben wir hier bei uns nicht den Frühling?«

»Und eine heilige Pflicht,« sagt sie und küßt die Kleine.

Herr Hinnen-Lotz hat indessen verstohlen nach dem Paar geblinzelt. Er sieht es Hand in Hand draußen stehen und den blonden Liebling zwischen ihnen. Nun weiß der Schlaue, daß nicht nur er und sein Jakob glückliche Verlobte sind, und daß noch ehe die Lichter am Christbaum verglühen, eine neue Herrin in dieses Haus einziehen wird, um den süßen Jugendtraum nach einer bangen Frist an der Seite des Geliebten zu Ende zu träumen.


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