Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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III.

Es war ein schöner Nachmittag im Mai, als der Kommerzienrat schon eine Stunde vor der festgesetzten Zeit den Konsul zum Besuche der Spinnerei erwartete. Das blanke Koupee fuhr Schlag drei pünktlich vor, und da vergaß der Alte in seiner Aufregung, daß er seinen Damen versprochen hatte, ihnen den Freund noch auf einen Augenblick heraufzubringen. Er stieg also wider die Abrede nach kurzer Begrüßung sogleich ein, und der Wagen rollte ohne Aufenthalt von dannen, gefolgt von den enttäuschten Blicken der am Fenster harrenden Frau Viktoria und ihrer Tochter.

Der blaue Himmel, nur da und dort noch gesprenkelt von hellgrauen Wolken, und ein warmer, sanfter Hauch hatten Spaziergänger und spielende Kinder auf die Straßen und Plätze gelockt. Auf der Charlottenburger Chaussee, zu deren beiden Seiten die Bäume des Tiergartens im zarten Schmuck ihres jungen Laubes grünten, war ein Gedränge von Menschen und Fuhrwerken. Die hellgrauen Tische und Stühle der Schenkgärten standen nicht mehr einsam da, denn zahlreiche Gäste saßen unter den Kastanien bei Bier und Kaffee und ließen sich nach dem langen Winter endlich wieder einmal von der Sonne durchwärmen. Fröhliches Geplauder, wohl auch ein Lied vergnügter Zecher, Kinderlachen und Vogelgezwitscher überall. Und dichter wurde das Gewühl, je näher man dem Schlosse kam, von dessen Kuppel hoch über der Krankenstube des kaiserlichen Dulders die purpurne Standarte wehte.

Die Spinnerei lag am äußersten Westende der Vorstadt Moabit auf Charlottenburger Gebiet, und als der Wagen von der Chaussee rechts abbog und den Spreekanal entlang fuhr, erkannte Hellers scharfes Auge das Ziel schon von weitem. Es war ein langes, fünfstöckiges Gebäude mit kleinem Thürmchen, das die gelbe Vesperglocke sehen ließ, und obwohl nutzlos und verlassen, blickte es stolz auf die umliegenden Bau- und Zimmerplätze und die spärlichen Häuser. Auf den ersten Blick erkannte der Fachmann die stillstehende Fabrik an dem schadhaften Dach und den unbelebten Fenstern mit ihren blinden Scheiben, und es that ihm leid um die große tote Spinnerei mit ihrem eingestellten Betrieb.

Das Koupee fuhr über die plumpe Holzbrücke. Der Blick von hier war sehr verschiedenartig. Stromaufwärts ahnte man die große Stadt, deren Thürme und Giebel in Rauch und Nebel verschwammen. Hier ankerten mächtige Baggerschiffe und bliesen aus ihren Schloten dichte Rauchwolken, indessen der triefende Eisenkorb aus dem schwarzen Wasser tauchte, in der Luft kreiste und seine Last klaffend in den angekoppelten Schuttnachen ausgoß. Dampf- und Handkräne waren in voller Thätigkeit und entleerten die angekommenen Schiffe, Lastträger luden Backsteine und Balken auf, und eine hochgeschnabelte »Apfelzille« empfahl sich als Restaurant. Neben diesen unbeweglichen Schiffen sah man die stinken Schlepper, die den Kanal auf und ab fuhren und einen ganzen Schweif von schwerbeladenen Elbkähnen hinter sich durch das trübe Wasser zogen. Der Rauch wirbelte empor, an seinem aufrechten Rade stand der Steuermann neben dem rußigen Maschinisten, und rasselnd glitt die nasse Kette über die sanft gewölbte Länge des niedrigen Dampfers. Auch die Lastschiffe, die aus eigener Kraft stromauf strebten, kamen heute rascher von der Stelle. Frau oder Kind stand am ungefügen Steuer, indes die Männer mit ihren an die Schulter gelegten zweizinkigen Stacheln den Kahn weiterstießen, wobei sie tief gebückt das ganze Schiff abliefen, doch der Wind, der westwärts von Spandau her wehte, erleichterte ihre Mühe. Das große, graue Segel war ja halb gehißt und blähte sich mit lustigem Rauschen im Winde, und so glitt das Schiff schnell genug dahin, daß die Männer bald ihre harte Arbeit aufgaben und sich behaglich der Stadt entgegentreiben ließen.

Ein ganz anderer Ausblick war nach Westen. Da sah man kein Haus, keine Lagerplätze, keine Arbeiter. Der Kanal machte eine Biegung, und der königliche Schloßpark am linken Ufer umrahmte mit seinen hohen Linden und Buchen das idyllische Landschaftbild, so daß der Strom einer stillen Bucht ähnlich sah. Nur links hatte ein großer Apfelkahn geankert, und rechts bei der Fabrik lagen ein Lastschiff und ein kleines Boot an der Kette. Ein Flug weißer Möven flatterte kreischend über dem Wasser, während einige Krähen auf den Weiden und Pappeln krächzend ihre schwarzen Flügel schlugen. Hoch über den Bäumen des Parks schwamm ein Weih mit ausgebreiteten Schwingen fast reglos in der Luft.

Der Wagen hielt vor dem verschlossenen Thor, über dem in Goldbuchstaben die Firma: Johannes Lenz & Komp. stand, und lange dauerte es, bis auf das gellende Glockenzeichen ein leichter Schritt näher kam, so daß den Herren alle Zeit blieb, um auf eine Geige mit Klavierbegleitung zu hören, deren Klänge über die hohe Fabrikmauer drangen.

Ein fünf- oder sechszehnjähriges bleichsüchtiges Mädchen in dünnem Kattunkleid öffnete, und die großen dunkelbraunen Augen nahmen einen erschrockenen Ausdruck an, als sie den Generalkonsul erblickten.

»Um Entschuldigung,« stammelte die Kleine, »daß ich so lange warten lasse. Ich dachte, es wäre man bloß der Nachtwächter. Gleich ruf' ich Vatern.«

Ein Wink des Konsuls hielt die Enteilende zurück.

»Hier geht es ja wieder hoch her,« sagte er streng.

»Vater musiziert.«

»Natürlich mit meinem Neffen?«

Die Kleine nickte, und über ihr hübsches, aber fahles Gesichtchen flog ein roter Schimmer.

»Und ich hörte zu mit Muttern. Es war so schön, daß ich Ihr Klingeln gar nicht vernahm. Mutter schickte mich und ich schlich davon, um nicht zu stören. Es ist die neue Sonate. Die ganze letzte Nacht hat er daran gearbeitet.«

»Also eigene Komposition?«

»Ach!« Der Seufzer war ihr unbewußt entfahren, und mit offenem Munde schien sie die Tonwellen zu trinken, indeß ihre Augen weit geöffnet standen und doch nichts sahen. Ein nervöses Zucken lief durch ihren zarten Körper, als zitterte darin jeder Bogenstrich nach. Und jetzt ging die sanfte klagende Weise in eine brausende, schwungvolle Melodie über, worin sich alle Wehmut des Adagio ungestüm auflöste. Es klang wie Befreiung und Erlösung, wie von fallenden Ketten und seligem Jubel, in kräftigem Takt, als gelte es einen begeisterten Marsch in einem heiligen Kriege für alles Hohe und Schöne. Aber nur zu bald brachen die klagenden, grübelnden, bohrenden Akkorde wieder hervor und überwucherten den erhabenen Freiheitgesang. Was hatte die jubelnde Seele aus ihren Himmeln gestürzt? War sie erlegen im Kampf oder vor dem entscheidenden Schlag ermattet? War sie zu schwach und zu zaghaft? Trug sie den Feind in sich selbst, die nagende Schwermut, den tödtlichen Zweifel, die Milde oder die unendliche Liebe, die nur den Frieden will und wenn sie selbst zu Grunde gehen sollte? Und in sanften, trüben, langgezogenen Klagetönen verklang das Lied.

Die Kleine blieb noch immer aufhorchend stehen und sah wie verklärt aus, aber die beiden praktischen Geschäftsleute hatten weder für Musik, noch weibliche Anmut Verständnis und gingen voran. Jetzt schien das Mädchen aus seinem Traum zu erwachen, strich sich mit der kleinen gelben Hand über die Stirn und sprang den Herren nach, um vor ihnen die Thüre zu öffnen. Als sie die Schwelle betraten, zeigte die große Uhr darüber halb Vier. Nur sie hatte die Arbeit nicht eingestellt.

»Ich werde Vatern rufen,« wiederholte das Mädchen.

»Nein, wir finden uns ohne ihn zurecht,«

»Auch Herrn Hans – ich meine Herrn Lenz – nicht?«

»Kein Wort. Er mag weiterspielen, denn zu Geschäften scheint er nicht aufgelegt. Sie können gehen, Kleine.«

Sie zögerte Und blieb kopfschüttelnd mit einem entschlossenen, fast trotzigen Zug im Gesichte stehen. »Ich darf keinen Fremden allein in die Fabrik lassen.«

»Mich auch nicht?«

»Niemand.«

»Ein wohlbewachtes Haus!« sagte der Konsul lächelnd, »aber Sie folgen mit Recht Ihrer Instruktion. Also kommen Sie mit.«

Sie stieß zur Linken eine große, ungestrichene Thür auf, in der ein von schmutzigen Händen abgegriffenes Guckloch angebracht war, und sie traten in den ersten Arbeitsaal, der sein Licht von den Doppelreihen hoher Fenster erhielt, durch deren trübe Scheiben die Frühlingssonne mit irisierendem Glanze sah. Ein Geruch von Maschinen- und Brennöl lag in der muffigen Luft. Er fiel dem alten Spinner nicht lästig, aber Lenz öffnete schnell ein Fenster. Nun gingen sie langsam zwischen den feiernden Maschinen hindurch, die in Manneshöhe ragten und mit ihren Spulen, Haspeln und Rädern etwas Persönliches, Menschliches hatten. Wie die verzauberten Bewohner von Dornröschens Schloß waren sie mitten in ihrer Thätigkeit erstarrt, und nun schienen sie die Besucher anzustehen: Gebt uns das Leben wieder!

Heller musterte mit kundigem Blick und tastenden Händen die Maschinen, las die Firmentafeln, die sie an der Stirnseite trugen, klopfte auf die Blechröhren, zog an den Treibriemen. Da und dort hing noch eine Flocke Wolle. Er nahm sie sorgsam weg und prüfte sie aus alter Gewohnheit, indem er sie zwischen den beiden Daumen und Zeigefingern drei- oder viermal zerzupfte und übereinander legte, bis er die Fasern in ihrer ganzen Länge in der Hand hielt. »Guter Stapel!« murmelte er dann oder benannte die Wolle: »Low Middling!« oder »Fair Oomra!« oder »feine Ägyptische!« Am Ende des Saales warf er einen Blick zurück, als wollte er den ganzen Inhalt noch einmal übersichtlich ordnen und in einem Zahlenwert ausdrücken. Lenz sah ihn fragend an, aber der Alte schwieg und eilte ins erste Stockwerk voraus.

Dort stand der »Wolf« mit offenem Rachen, in dessen Innern der Gehalt ganzer Baumwollballen wie spielend auseinander gerissen und ausgespieen wurde. Jetzt schwieg das eiserne Ungeheuer, seine Verdauung stockte, und Heller gab ihm mit der Hand im Vorbeigehen einen Klaps. »Alter Junge!« sagte er mit einem Doppelsinn, der dem Konsul entging. »Du mußt Gesellschaft haben!« fügte er bei, um keinen Zweifel über die Notwendigkeit eines neuen Openers aufkommen zu lassen.

Nun in den zweiten Stock und über einen mit Eichenbohlen belegten Vorraum, wo die emporgezogenen Ballen durch das offene Fenster hereingerollt und geöffnet wurden. Noch lag im Winkel ein Haufen rostiger Eisenbänder und verstaubter Packleinwand. Heller schüttelte mißbilligend den Kopf. Sein Ordnungssinn war verletzt, weil man das gar nicht wertlose Gerümpel hier liegen ließ.

Dann über die steile Holztreppe einen Stock höher durch eine offene Fallthüre. Sie standen in der unteren Karderie. Dort sah man auf einem Podium die Maschinen des Schleifers, der die Kratznadeln zu reinigen und zu schleifen hatte, und zwei Reihen Krempelmaschinen. Noch klebte an einem Deckel eine dicke Kruste Watte. Heller, dessen Bäcklein sich gerötet, brummte etwas Unverständliches und ging ohne Aufenthalt schnell weiter. Er schien wie verjüngt.

Länger hielt er sich in den Spinnsälen auf. Er prüfte die Halbselfaktors mit wohlgefälligem Auge und las die englischen Firmenschilder.

»Eine Sünd' und Schande für so ein Geschäft!« rief er aus. »Die Maschinen sind alt, aber gut.«

»Mein Bruder hat sich daran verblutet.« »Ja, die Engländer sind nicht billig,« gab er trocken zurück. »Aber im Stillstand muß das alles freilich verrosten und verkommen.«

Im vierten Stocke warf der Alte einen Blick auf den Saal der Hasplerinnen und fand in der Packstube eine vergessene Spule, deren Faden er sofort abwickelte, wobei er ihn kräftig lang zog. Zu seiner Genugthuung brach der Faden nicht so leicht.

Der gute Eindruck wurde aber bald gestört, als er im obersten Spinnsaal die schwarzen hölzernen Stühle alter Konstruktion sah.

»Jetzt wundert's mich nicht mehr, daß Ihr Bruder zu Grunde ging!« rief er aus und hastete die letzte Treppe empor. Es war ein großer Lagerraum unter Dach. »Da hinein gehören Maschinen,« sagte er. »Alle Achtung vor Ihrem Bruder, aber er war kein Spinner.« Langsam stiegen sie mit dröhnenden Schritten das abgrundtiefe Treppenhaus hinab.

»Wünschen die Herren ins Kontor, so hol' ich den Schlüssel?« sagte das Mädchen, als sie im dritten Flur standen, und wies auf eine verschlossene Thür.

»Was?« donnerte Heller, »die Schreibstube hier im Hauptgebäude? Lächerlich! Daraus muß ein Spinnsaal werden.«

Und nun in den kleinen Anbau der mechanischen Werkstatt. Hier herrschte große Unordnung. Zwischen den Ambossen, Schraubstöcken, Blasebälgen und Schleifsteinen lagen Haufen von Gußrädern, Treibriemen, Stahlspindeln. Nur eine Ecke war aufgeräumt und artig mit Bildern aus illustrierten Zeitschriften beklebt. Auch eine Schwarzwälderuhr tickte da von der Wand.

»Hier arbeitet Vater,« sagte das Mädchen und fügte erläuternd und nicht ohne Stolz hinzu: »der Cylindermacher Fabian.«

Der Direktor streifte mit einem Blicke die Holzschnitte, welche Schiller, Klopstock und andere Dichter darstellten, und folgte seinem Begleiter ins Nebenzimmer.

»Und hier neben Vatern bin ich.«

»Was machst Du da?« fragte der Konsul freundlich.

»Röhrchen.«

»Auch jetzt noch?«

»Ja, wenn ich mich langweile.« Sie zeigte auf einen Haufen weißer und blauer Papierhülsen, die zierlich gedreht und fest geleimt waren, »Die werden auf die Spulen gesteckt, und das Garn wickelt sich drüber auf,« erklärte sie.

Doch Hellers Schritt klang bereits aus der Ferne, wo er sich kopfschüttelnd den Kesselraum mit der Dampfmaschine besah. Sie holten ihn eilig ein und fanden ihn am offenen Fenster, den Blick sinnend auf den Hof gerichtet. Dort waren die Lagerräume für Baumwolle und Garne, die Wage, die Rollfuhrwerke die sich unter ein Vordach drängten. Darüber hinweg sah man die eingedämmte Spree, von schweren Lastschiffen befahren, die dunkelgrünen Wipfel des Schloßparks und zur rechten Hand, halb unter Bäumen verborgen, den zierlichen Thurm einer benachbarten Villa. Der Wind brachte wieder die Klänge des Geigenkonzerts herüber, aber gewiß lauschte der alte Prosamensch nicht auf sie. Lenz trat hinter ihn und sah nun gleichfalls hinab, indes die junge Fabian ganz weltverloren aufhorchte.

»Die Mondscheinsonate,« sagte sie. »Herr Hans – Herr Lenz spielt sie mit harfendem Bogen.«

Wirklich klang es säuselnd herüber in verschwommenen Akkorden, wie aus einer Äolsharfe. Als aber Lene ihre Blicke unwillkürlich nach rechts schweifen ließ, zuckte sie zusammen. Lenz bemerkte es und sah nun auch nach derselben Richtung.

»Ist das nicht Fräulein von Berkow?« fragte er die Kleine, indem er seinen Zwicker vor die Brillengläser hielt.

Sie nickte verlegen. »Sie liebt die Musik auch,« sagte sie wie zur Entschuldigung.

Heller schien von der eleganten jungen Dame, die sinnend über den Zaun des nachbarlichen Gartens blickte, nichts zu sehen und zu hören, so sehr war er in seine Berechnungen vertieft. Plötzlich aber ergriff er Lenz am Arm und zog ihn in eine Nische, während das Mädchen verstohlen der jungen Dame ein Zeichen gab, worauf ihr weißes Kleid zwischen den Büschen verschwand.

»Ein leidendes Geschäft,« sagte der Kommerzienrat. »Das kann nur durch Aufwendung großer Kapitalien wieder flott gemacht werden. Es ist konkurrenzunfähig, weil nicht die ganze Einrichtung auf der Höhe der Zeit steht. Vor allem fort mit den alten Spinnstühlen, der zu schwachen Dampfmaschine und allem Gerümpel, wenn etwas ordentliches werden soll. Lauter Selfaktors, nichts als Selfaktors, schon um Arbeiter zu ersparen, die in Berlin theuer sind. Die sonstigen Konjunkturen sind gewiß nicht schlecht. Wenig Wettbewerb am Platz und in der Nähe, und mit der englischen Konkurrenz wollt' ich schon fertig werden.«

Lenz fiel ihm rasch ins Wort. »Ja, Sie mit Ihrer jugendfrischen Thatkraft und reichen Erfahrung, aber wo fände sich ein passender Leiter für ein so schwieriges Unternehmen?«

»Den würden wir bald haben,« eiferte der Kommerzienrat. »Sind Sie erst so weit, hier wieder an die Arbeit denken zu können, so wenden Sie sich an mich. Ich weiß mehr als einen guten Spinnmeister, der meinem Rufe Folge leisten würde.«

»Und wäre der richtige Mann für die technische Leitung da,« fuhr Lenz fort, »so ließe sich also das Geschäft wagen, glauben Sie?«

»Ja, vorausgesetzt, daß auch die kaufmännische Führung in guten Händen wäre. Es müßte eine Lust sein, das Schiff wieder flott zu machen.«

Über des Konsuls Züge glitt ein freudiger Schimmer, und als der Alte das Gespräch abbrach und weiter ging, folgte er ihm mit zufriedener Miene. Erst draußen im Hofe machten sie Halt.

»Wenn es Ihnen recht ist, sehen wir noch meinen Neffen,« sagte Lenz.

Das Mädchen ging ihnen mit klirrendem Schlüsselbunde voraus ins Wohnhaus, das hinter dem Fabrikgebäude in einem Gärtchen an der Spree lag. Lenz zeigte im Vorübergehen auf das zweistöckige sogenannte Fischerhaus, das etwas abseits, doch innerhalb der Fabrikmauer lag und als Arbeiterwohnung diente. Heller, noch ganz in Gedanken, mißverstand ihn und lenkte im Glauben, dort sei der Neffe zu finden, seine Schritte dahin. Lenz seinerseits dachte, dem Alten wäre daran gelegen, auch diesen Teil der Fabrik kennen zu lernen, und folgte ihm mit der kleinen Fabian.

Eine dicke, rotbäckige Frau trat ihnen unter der Thür entgegen und hieß sie mit stark sächselndem Accent und förmlichem Gruße willkommen.

»Bitte gehorsamst nur näher zu treten,« sagte sie und ging ihnen im engen Flur voran, »mein Fabian ist zwar drüben beim Herrn, aber Lene kann ihn rufen. Und bitte die Unordnung zu entschuldigen. Ei ja, mein Fabian treibt so vielerlei! Sehen Sie, da macht er Raketen und Schwärmer – sie sind nicht gefüllt ... Dort steht sein selbst gebauter photographischer Apparat ... Und hier bitte ich nicht auf die Löwen zu treten; sie sind frisch gestrichen.«

Erst die frischgestrichenen Löwen zogen den Kommerzienrat aus seinen Gedanken. Löwen? Um Gotteswillen, wo? Und nun folgte er dem Fingerzeige der guten Frau und sah auf dem Boden des Nebenzimmers hingebreitet drei Wachstuchteppiche, deren schwarzer Grund eine noch farbenfeuchte Malerei wies. Da sah man phantastische Wüstenlandschaften mit blutigen Sonnenuntergängen und schweinfurtergrünen Palmen, in deren Schatten sich zähnefletschende Löwen mit wunderschönen großen Augen lagerten.

»Nicht wahr, die sind fein?« sagte die Frau zu den Herren, die ihr Lachen mühsam verbargen. »Ei ja, mein Fabian kann alles. Sogar dichten! Er hat seit dem Stillstand viel freie Zeit, und die nutzt er, wie er kann. Er hofft die Teppiche morgen um ein schönes Stück Geld zu verkaufen, denn es ist solide Malerei, und der Lack ist sein Geheimnis. Er wird ein Patent darauf nehmen.«

Da die Löwen einen durchdringenden Geruch ausströmten, so flüchteten die beiden Besucher wieder in den Flur, der durch eine Unzahl aufgespeicherter Werkzeuge und Hausrat noch enger wurde. Da sah man eine Hobelbank, eine Wage, eine Hoboe, eine Drehbank, einen Pflug und eine Nähmaschine, die offenbar hier zur Reparatur weilten, und zu ähnlichem Zwecke versammeltes Haus- und Küchengerät. Besonders stolz war Frau Fabian auf einen selbstthätig sich drehenden Spieß, an dem die größten Martinsgänse gebraten werden konnten, eine der letzten Erfindungen ihres Mannes.

»Und was steht denn hier für ein Chronometer?« fragte der Konsul, indem er auf ein Uhrwerk zeigte, das in einem kleinen hölzernen Gehäuse steckte. Lene nahm es von dem niedrigen Spind und wischte mit ihrer Schürze den Staub ab.

»Verzeihung,« sagte sie, »das ist kein Chronometer, sondern eine Höllenmaschine.«

»Um Gotteswillen!« rief Heller, der stark am Leben hing.

»O die Knarre ist nicht geladen,« warf Frau Fabian lächelnd ein. »Ich wollte zwar auch lieber, es wäre eine einfache Schwarzwälderuhr, so könnte man's wenigstens gebrauchen.«

»Wie kommt Ihr Mann zu diesem Mordinstrument?« fragte Lenz.

»Er hat es sich selber beschert. Da las er vor Jahren von dem amerikanischen Massenmörder Thomas, der in Bremen ein Schiff in die Luft sprengen wollte, und da die Blätter eine Beschreibung seiner Uhr brachten, so setzte sich mein Fabian, der ja alles kann, hin und machte nach den Angaben diese da. Es hat ihm aber viele schlaflose Nächte gekostet, bis er das Schlagwerk richtig herausbekam. Der Schlüssel steckt auch noch. Sie kann jeden Augenblick gebraucht werden.«

Obwohl der Kommerzienrat entschiedene Verwahrung gegen alle auch ungeladenen Höllenmaschinen einlegte, nahm sein Begleiter dem Mädchen das Werk aus der Hand und ließ es sich von ihm erklären, so gut sie es vermochte. Sie drehte den Schlüssel, zog die bald lustig schwirrende starke Feder auf, die das Laufwerk mit Windfang trieb, und er freute sich über den leisen Gang, der kaum das übliche Tiktak hören ließ. Dann stellte sie den Zeiger und wartete, bis die zwei Federn die Schlagstange auslösten, um mit dem dadurch bewirkten Drucke den Zündstoff zu entflammen. Nun schnappte es zu, und der Schlag war so stark, daß das Kästchen ans der Hand und zu Boden fiel. Sie hob es auf und schob es sorglos wieder auf das Spindchen. Der Kommerzienrat hatte sich vor dieser »unheimlichen Spielerei« längst ins Freie geflüchtet.

»Dein Vater ist ja beneidenswert vielseitig,« sagte der Konsul draußen zu Lene, die ihnen wieder das Geleite gab.

»Ei ja, aber er hat kein Glück,« antwortete sie ernst, »Die Menschen sind zu schlecht, sonst hätte er es weiter gebracht. Denken Sie mal an, was ihm neulich passiert ist! Er bringt einem großen Hutmacher in der Leipziger Straße einen mit seinem Lack gesteiften Matrosenhut als Probe. Der Mann ist reine weg, denn, das muß der Neid lassen, glänzend, hart und wasserdicht macht Vaters Lack. Er erbietet sich, auf Wunsch noch andere Hüte zu liefern, aber der Mann erhebt die Bedingung, daß er sie in seiner Fabrik fertigstellen soll. Wir warnen ihn, Mutter und ich, aber Vater ist so gut und vertraut allen Leuten. Er arbeitet also in der Werkstatt mit den anderen, aber schon am zweiten Tag wird er gekündigt, weil sein Lack schlecht sei. Natürlich Schwindel! Sie hatten ihm einfach sein Geheimnis abgeguckt und brauchten ihn nicht mehr.«

Jetzt standen sie vor dem zweistöckigen Wohnhause, das in leichtem Villenstil mit Dachzinne und Stuckornamenten gebaut, jedoch ein wenig verwittert und vom Niederschlage der Esse beschmutzt war. Durch das offene Fenster hallte eine weiche, einschmeichelnde Musik wie von menschlichem Gesang, bald jubelnd wie Lerchentriller, bald schluchzend wie Nachtigallenschlag.

»Still,« flüsterte Lene den beiden Herren zu, »das ist wieder von Herrn Hans aus seinem Violinkonzert.«

»Wirklich!« gab der Kommerzienrat zurück, in Hochachtung erstarrt, allein der Konsul ging rücksichtlos weiter und die Steintreppe hinauf. So mußte er mit, aber er trat so leise wie möglich auf.

Die Thüre knarrte nicht, als sie in das kleine halbdunkle Gemach drangen, dessen Wände Bilder und Bücher bedeckten. Die Musizierenden drehten dem Eingange den Rücken und hörten auch nichts, so eifrig waren sie in ihre Tonwelt versunken. Und ergreifend und rührend quoll die Weise unter dem Fiedelbogen des Meisters hervor, so daß der nüchterne Finanzmann ganz benommen dastand und sogar der alte »Prosamensch« sich verstohlen eine Thräne fortwischte. Als sie geendet, applaudierten die Besucher aufrichtig, während Lene noch lange wie traumverloren im Dunkel des Flurs stand.

Die Musiker erhoben sich schnell und sahen nach ihrem unvermuteten Publikum. Vor den Besuchern stand Hans Lenz, ein zarter, blasser, etwas flachbrüstiger Jüngling mit langen Künstlerhaaren und müden, sanften Augen. In seiner Art lag etwas Weiches, Schwärmerisches, zu dem sein einfaches Wesen einen wohlthuenden Gegensatz bildete. Er wollte sich zum Musiker ausbilden, aber nach dem Tode der Mutter hatte sein Vater sich dem widersetzt und ihn ohne weiteres als Volontär in die Niederdeutsche Bank gesteckt und dann nach England gesandt, damit er die dortigen Baumwollspinnereien studiere. Als er vor drei Jahren heimkehrte, trat er in die väterliche Fabrik ein, doch war er nur ein mittelmäßiger Kaufmann geblieben, ohne rechten Geschäftseifer und praktischen Geist, immer nur auf seine geliebte Musik bedacht, der er jede freie Stunde widmete. Verschüchtert und doch zäh rief er heftige Auftritte mit seinem Vater hervor, indessen fand er wenigstens an seinem Onkel eine Hilfe, die ihn gegen den zornig Aufbrausenden oftmals in Schutz nahm. Als dann die Katastrophe ausbrach, die ihm den Vater raubte, durfte Hans hoffen, jetzt endlich seine geliebte Musik als Lebensberuf wählen zu können. Er hatte sich vorgenommen, das nächste Mal, wo er mit seinem Onkel zusammentreffen würde, ihm seinen Entschluß mitzuteilen, und war daher nicht erfreut, als er ihn heut in Gesellschaft eines Fremden sah. So war also wieder keine Gelegenheit zu ernstlicher Aussprache.

Nach der Vorstellung wollte sich der Klavierspieler, der sich hier wie ein Eindringling vorkam, still entfernen, doch Heller nahm ihn bei der Hand.

»Also Sie sind der Tausendsassa?« rief er aus. »Wir haben schon Ihre Löwen, Raketen, Apparate gesehen und bewundern nun auch Ihre musikalische Gabe.«

Der alte Arbeiter kniff sein linkes Auge – das rechte hatte er bei einem chemischen Experimente gelassen – freundlich zusammen und strich sich mit den großen, rauhen und dabei doch so geschickten Händen den grauen Vollbart. Dann empfahl er sich bescheiden mit einem linkischen Kratzfuß.

Der junge Lenz machte auf Heller einen so vortrefflichen Eindruck, daß er ihn gleich zu einem Besuch in der Hohenzollernstraße einlud.

»Meine Frau spielt Klavier,« sagte er, »aber meine Tochter ist leider unmusikalisch wie ich. Die Damen würden es Ihnen gewiß verübeln, wenn Sie Ihre Geige nicht fleißig mitnehmen würden. Doch reden wir jetzt von Geschäften.«

Bald saßen die drei Männer in der dämmerigen Stube im Gespräch, wie der »leidenden« Fabrik wohl aufzuhelfen wäre. Heller hatte seinen Plan schon fertig und legte ihn dar. Begreiflicherweise spielte dabei der junge Lenz als natürlicher Geschäftsleiter eine wichtige Rolle. Er aber blickte schweigend in die Ferne, in der sein klingender Traum von freiem, heiligem Künstlertum für immer verschwand.


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