Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXVIII.

Herr Hinnen-Lotz wurde am frühen Morgen, als er noch von den Beschwerden einer sonntäglichen Bierreise ausschlief, durch einen unerwarteten Besuch aufgeschreckt, der zugleich mit dem ersten Sonnenblick in sein Zimmer drang. Ein untersetzter, vierschrötiger Jüngling, der von der Nachtfahrt stark angegriffen schien, setzte sein Handköfferchen nachdrücklich auf den Boden, näherte sich auf knarrenden Stiefeln dem Bette des »Direktors« und sagte zu dem jählings Erwachenden: »Vater, da bin ich!«

War es noch Verschlafenheit oder traute er seinen Augen nicht, aber Herr Hinnen rieb sich seine Sehorgane und starrte den sonst wohlbekannten Burschen an, der unverkennbar seines Erzeugers Züge hatte, die pfiffigen grauen Augen, die Habichtnase, die ungeheuer gesunden roten Wangen. »Du bist's, Jakob?« rief er erstaunt. »Hast denn meinen Brief nicht bekommen?«

»Wohl, wohl, Vater, aber da bin ich nun einmal.«

Das war einleuchtend genug, und der Spinnmeister verschloß sich dieser Thatsache so wenig, daß er aus dem Bette sprang und dem Jungen die Hand schüttelte: » Willkommen, willkommen!«

Zwar bereute er gleich hinterher, daß sein gutes Vaterherz wieder einmal mit seinem Verstande durchgegangen war und wollte den strengen Ton der Autorität anschlagen, doch da fiel ihm noch rechtzeitig die heisere Stimme seines Sohnes auf. »Hast Dich verkältet, Schaggi,« sagte er zärtlich. »Wo ist meine Bajadere?«

Er suchte für seinen Sohn keine fürsorgliche Houri, wie sie sich der Muselman in seinem Himmel denkt, auch nicht seine Wirtschafterin, die gute Frau Fabian, die wahrlich diese türkische Bezeichnung nicht verdiente, sondern ein ziemlich prosaisches Bekleidungsstück, das bei Erkältungen stets Wunder an ihm verrichtet hatte. Er kramte in seiner Kommode und zog endlich im Triumph eine gestrickte rote Schärpe hervor, die er dem Sohne wie eine Boa Konstriktor um den Hals wand. Dann klopfte er mit eisernen Fäusten an die Seitenthür und rief laut: »Konrad! Konrad! Der Schaggi ist da!«

Es schien ihm selbstverständlich, daß sein Schreiber und Zimmernachbar an seinem plötzlichen Familienglücke teilnehmen mußte, und bald erschien Hitschold, der just mit einem Umweg über seinen Stall nach der Fabrik wollte. Er war gestern Nacht spät aus dem Zirkus gekommen, aber sah frisch und gesund aus, offenbar durch den Anblick der schönen Rosse so weit gestärkt, daß der Eindruck eine ganze öde Arbeitwoche vorhalten konnte.

Da es erst halb sechs Uhr war, so hatte der liebe Vater alle Zeit, nicht nur seinen Anzug zu vervollständigen, sondern auch in aller Ruhe seine Verrichtungen mit Schwamm und Seife durch zahlreiche Zwischenrufe und Betrachtungen zu unterbrechen. Der Buchhalter eilte indessen zu Frau Fabian und bestellte eine vermehrte Auflage des Frühstücks, das die dicke Alte alsbald auftrug. Hierauf setzten sich die drei Eidgenossen um drei große Tassen Milchkaffee, die sie bis an den Rand mit Brodbrocken füllten, und löffelnd und kauend berieten sie, was der Jakob Hinnen in Berlin eigentlich anfangen sollte. Allerdings hatte der Bursche den väterlichen Brief über die sozialdemokratische Gefahr erhalten, aber die Ermahnung, auf seinem Posten auszuharren, kam doch zu spät, denn seine Stellung war ihm schon lange verleidet. Er wollte und mußte zu seinem Erzeuger nach Berlin, denn er hatte es sich in seinen dicken Kopf gesetzt. Und nun war er also da, und alle Vorwürfe hatten keinen praktischen Zweck mehr. Es fragte sich nur noch, welcher Posten in der Fabrik für ihn bestimmt werden konnte. Die Aufseherstellen und Spinnstühle waren besetzt, und auch sonst fehlte kein Mann.

»Halt, ich hab's!« rief plötzlich der zärtliche Vater. »Ich rede mit dem Chef, er muß ihn als Kardenschleifer nehmen.«

»Dafür haben wir den Pinzger,« warf Hitschold ein.

»Der zählt nicht mehr,« erwiderte Hinnen, »der fliegt.« Und nun entrollte er sein Sündenregister. Ein schlechter Arbeiter und Blaumacher, Mädchenverführer, Volksredner und Anarchist. Zwar schreiben konnte er noch nicht, aber dafür hatte er das Reden gelernt. Wie oft hatte Hinnen schon die Entlassung dieses Arbeiters angeregt, aber der gutmütige Herr Hans zögerte, da er niemand gern brodlos machte und weil überdies kein Ersatzmann vorhanden war. »Jetzt aber haben wir einen!« rief er freudig und klopfte seinem Sohn auf die Schultern. »Den Jakob!« Lächelnd trat er ans Fenster, um einen Blick in den dort hängenden Handspiegel zu werfen, als sein Blick mit einem Mal abgezogen wurde und seine Miene sich verfinsterte. Denn nun sah er vor dem Haus einen Trupp Arbeiter daherkommen.

»Die wollen gewiß blau machen, die Hallunken,« rief er, als schon die schweren Schritte die Treppe heraufkamen und eine energische Hand, die nicht an sanftes Tippen gewöhnt war, an die Thüre pochte. Als er sie aufriß, stand er einer Arbeiterdeputation gegenüber, an deren Spitze der Tiroler Miene machte, mit einer gewissen Feierlichkeit das Wort zu ergreifen.

» Was wollt Ihr, Ihr Sakermenter?« fragte Hinnen, der nichts Gutes ahnte.

»Herr Spinnmeister,« sagte Pinzger, der es heute nicht nötig fand, seinem Todfeinde mit dem schmeichelnden »Herr Direktor« angenehm zu sein, und begann mit erregter Stimme: »Wir kommen im Auftrag unserer vereinigten Genossen, um Ihnen die Mitteilung zu machen, daß wir mit heutigem Tage die Arbeit niederlegen werden.«

»Wa–was?« riefen Hinnen und Hitschold wie aus einem Munde.

»Daß wir die Arbeit niederlegen,« wiederholte der Sprecher und wechselte einen listigen Blick mit seinen Kameraden, die nicht recht wußten, welche Haltung sie sich geben sollten, und ihre Hüte und Mützen in den Händen drehten. »Wenn aber unsere Forderungen bewilligt werden, so sind wir gern bereit, die Arbeit fortzusetzen, beziehungsweise wieder aufzunehmen.«

»So!« rief Hinnen spöttisch. »Gar zu gütig!«

Einige Arbeiter konnten nicht umhin, den Humor ihres Vorgesetzten mit breitem Lachen zu beantworten, aber Pinzger ermahnte sie mit einem Blick an den Ernst der Lage. Zu gleicher Zeit kam es wie ein leiser Donner daher, ein Sausen, Schüttern und Rollen. Die Arbeit hatte drüben in der Spinnerei angefangen, der Dampf zischte, die Räder und Spulen drehten sich, die Treibriemen schwirrten. Und seltsam stand das begonnene Tagewerk im Widerspruche mit diesen feiernden Arbeitern da und ihren Forderungen. Aber sie wußten es alle, daß ein Wink der Deputation genügte, um die ganze bienenartige Thätigkeit augenblicklich zum Stocken und die Maschinen zum Stehen zu bringen. Schon hatte die Aufregung auch drüben um sich gegriffen, und an allen Fenstern tauchten spähende Köpfe auf, die mit Ungeduld auf das Ergebnis der Unterhandlung zu warten schienen. Indessen zog der Kardenschleifer ein großes Papier aus der Rocktasche, entfaltete es langsam und übergab es dem Spinner Pätow: »Lies Du, Genosse!«

»Aha,« sagte der Spinnmeister lachend, »hättet Ihr in Berlin lieber schreiben als sozialdemokratisch gelehrt.«

»Gelernt!« verbesserte der Tiroler. Hinnen warf ihm einen giftigen Blick zu, und Pätow las:

»Wir vereinigten Arbeiter und Arbeiterinnen der Spinnerei Johannes Lenz & Komp. fordern eine Lohnerhöhung um 29 Procent und eine Arbeitverkürzung auf zehn Stunden täglich und zwar ...«

Nun war Herr Hinnen am Ende mit seiner Ruhe, wie mit seinem Humor. »Hinaus mit Euch!« schrie er sie an, ganz krebsrot vor Zorn und drängte sie der Thüre zu.

Pinzger verlor bei diesem gewaltsamen Rückzug seine feierliche Haltung keinen Augenblick, nahm dem Genossen das Papier aus der Hand und schob es auf den nächsten Tisch, gerade zwischen die Kaffeetassen von Hitschold und Jakob. »Dann lege ich unser Ultimatum auf dem Tisch des Hauses nieder,« sagte er ruhig. »Lesen sie es selbst, Herr Spinnmeister.«

»Ihr werdet's mich jedenfalls nicht – lernen,« antwortete der unverbesserliche Hinnen und schlenderte ihm das Papier zu, das von Pätow aufgefangen wurde.

»Arbeiter,« rief der schon bis zur Thüre gedrängte Tiroler, »Ihr seht, wie die Unternehmer mit ihren Schergen unsere gerechten Forderungen mit Hohn zurückweisen. Wir protestieren gegen diese Diktatur des Kapitals und werden dem Plenum davon gebührende Anzeige machen. Und nun zu Herrn Lenz. Es lebe der Zehnstundentag!«

Krachend warf Herr Hinnen-Lotz die Thür hinter ihnen zu, und während die Schritte herunter polterten und jenseit des Fabrikhofes verhallten, zog er sich rasch an, um dem Arbeiterausschusse beim Chef zuvor zu kommen. Unterdessen gaben Pinzger und Genossen, noch ganz verwirrt von dem ungnädigen Empfang, ihren drüben harrenden Kameraden ein Zeichen, und wie auf ein Zauberwort verstummte der Lärm der Arbeit. Die Treibräder machten noch eine langsame Umdrehung, ehe sie vollends stille standen, die Fenster wurden leer, und nur aus dem Schlot wehte noch immer die dunkle Rauchwolke wie eine Trauerflagge hoch in der winterlichen Luft.

»Du siehst,« sagte der Spinnmeister zu seinem Sohne, »daß es dumm von Dir war, gegen meinen Willen nach Berlin zu kommen. Nun gibt's hier Strike (Herr Hinnen sagte noch immer »Stricke«), und Du liegst halt auf dem Pflaster. Ich laufe jetzt zu Herrn Lenz hinüber und kann ihnen hoffentlich noch einen guten Empfang bereiten, denen Tagedieben!« Er hieß seinen Sohn sich auf sein Bett legen und von den Reisestrapazen ausruhen. Den Buchhalter schickte er ins Kontor, um nötigenfalls die Kasse zu verteidigen. Dann stürmte er den nächsten Weg in die Villa hinüber, doch Hans, den der Lehrjunge Max durch den Fernsprecher verständigt, kam ihm schon auf dem halben Weg entgegen. Die Deputation hatte die etwas längere Fahrstraße zur Villa gewählt, denn Pinzger fand das würdiger, als durch das Hinterpförtchen einzuschleichen. Vielleicht erinnerte er sich auch, daß dieser bequemere Weg an der Durststillstation vorüberführte. Und so hatte er den Fabrikherrn richtig verfehlt.

»Guten Morgen,« rief Hans den ihre Mützen lüftenden Arbeitern zu, die in lebhaft sprechenden Haufen unter dem grauen Himmel im Hofe versammelt waren, und ohne sich um des Spinnmeisters Ärger über so viel Freundlichkeit zu kümmern, fragte er sie ruhig: »Sie weigern sich also, die Arbeit aufzunehmen?«

Sie sahen sich alle verlegen an. Jeder erwartete vom anderen, er würde das Wort ergreifen, und so blieben sie ihm die Antwort schuldig. Erst nach einer Weile wurde ihm das Ja einiger Beherzter zum Bescheid.

»So machen Sie mich mit Ihren Beschwerden und Forderungen bekannt,« fuhr Hans fort. »Ich höre, Sie wollen mehr Lohn!« ...

»Und weniger Arbeit,« rief der alte Mila, indem er seine Pfeife anzündete.

»Wirklich,« antwortete Hans lächelnd, aber er bereute gleich seinen Spott, denn so war keine Einigung zu erreichen. »Nun, bei gegenseitigem Vertrauen und Entgegenkommen dürfte eine Verständigung nicht unmöglich sein,« fuhr er fort. »Ich gehöre wahrlich nicht zu jenen, die den berechtigten Wünschen ihrer Arbeiter mit Mißtrauen und Abneigung begegnen. Höre ich oft die Klagen unserer Konkurrenten über die Forderungen ihrer Leute, so werde ich an die Geschichte der Aufhebung der Negersklaverei erinnert. Damals hat man dieselben Gründe zur Überredung der Sklavenhalter verwandt und darüber gespottet und gezetert, aber ihre Richtigkeit wird heute von den Nachkommen dieser unbelehrbaren Sklavenhalter eingestanden. Bei uns jedoch handelt es sich um die Befreiung von Untergebenen gleicher Zunge, gleichen Stammes und gleichen Rechtes. Leider habe ich hier nur eine beratende, keine entscheidende Stimme und muß im Einverständnis mit meinem Onkel und meinem Schwiegervater handeln. Sie haben jedoch in mir einen guten Anwalt, der Ihre Wünsche nach Möglichkeit empfehlen wird. Also Vertrauen für Vertrauen!« Ein beifälliges Murmeln aus der Menge schlug an sein Ohr, und er sah, wie einige Weiber zustimmend nickten. »Freilich ist es Unrecht, Ihren Forderungen auf solche Weise Nachdruck zu verschaffen,« fuhr er fort. »Sie hätten mir Ihr Anliegen vorgestern am Zahltag oder in einer Ausschußsitzung vorbringen können. Das hätte sich besser geschickt, als uns zu überrumpeln und geradezu widerrechtlich zu handeln. Aber Sie waren wohl übel beraten. Glauben Sie mir, der Strike ist eine gefährliche Waffe, die den Arbeiter selbst bedroht. Die Unternehmer sind zuletzt doch die stärkeren. Die meisten gefährden ihr wirtschaftliches Dasein nicht, wenn sie ihre Fabriken Wochen, ja einige Monate lang schließen. Die Arbeiter können aber nicht so lange ohne Löhne leben, selbst wenn sie von in- und ausländischen Genossen Unterstützung erhalten. Die Einfuhr steigt, neu erfundene Maschinen vermindern die Nachfrage nach Arbeitern, beschäftigungslose gewerbliche Arbeiter und fremder Zuzug füllen die Lücken aus. Die Strikenden laufen zuletzt Gefahr, ihre Arbeitstellen für immer zu verlieren und müssen nachgeben. So wird es auch Ihnen gehen, und der Winter ist noch nicht vorüber und vergrößert die Not. Überlegen Sie also nochmals den gefährlichen Schritt und gehen Sie jetzt an Ihre Arbeit.«

Die Rede hatte mächtig gewirkt. Manche stimmten offenbar ihrem guten Herrn zu, besonders die Weiber, aber sie standen alle unter einem unsichtbaren Zwang. Nun fielen auch einige große Schneeflocken vom leicht bewölkten Himmel, wie um Hans zu unterstützen. Dennoch blieben die Arbeiter unschlüssig auf dem Platze stehen.

»Frisch an die Arbeit,« wiederholte der Spinnmeister und wies ihnen den Weg. »Das Versäumte muß nachgeholt werden.« Aber niemand rührte sich, und auch die Weiber blieben stumm.

»Fabian,« sagte Hans zum Cylindermacher, der neben Lene zunächst vor ihm stand, »gehen Sie den anderen mit gutem Beispiele voran.«

»Ei, wie gern würd' ich es, Herr Lenz,« antwortete der Alte mit Thränen in den Augen, »aber ich kann leider nicht wie ich will. Ich wußte nichts von dem Ausstand und billige ihn nicht. Aber was kann ich Einzelner thun, wo sie alle gegen mich sind?«

Schritte und Stimmen von jenseit der Fabrikmauer hallten herüber. Die Deputation kam zurück, allen voran Pinzger, die Mütze schief auf dem Kopfe und nicht mehr ganz sicher auf den Füßen. Aber er übersah doch mit einem Blick die bedrohliche Lage.

»Genossen, bleibt fest!« rief er. »Einer für alle und alle für einen, wie unser großer Meister Lassalle gesagt hat. Und hier, Herr Lenz, sind unsere Forderungen schwarz auf weiß. Der gewählte Strikevorstand tagt drüben bei Zeiseler. Wir sind bereit, mit der Fabrikleitung zu unterhandeln. Es lebe die Sozialdemokratie!«

»Es ist gut,« entgegnete Hans, nahm das Papier aus seinen Händen und wandte sich von dem wüsten Gesellen ab, der den Fuselgeruch der Durststillstation um sich verbreitete. »Wir werden Ihre Forderungen prüfen. Bleiben Sie unterdessen hier versammelt, damit die Arbeit günstigenfalls noch diesen Morgen wieder aufgenommen werden kann.« Und mit Hinnen und Hitschold ging er ins Kontor.

»Der Strikevorstand ist bei Zeiseler zu finden,« rief Pinzger ihnen nach. »Er allein hat die Befugnis, in Unterhandlungen einzutreten. Nicht wahr, Genossen?«

Es war unklug von ihm, diese Machtfrage aufzuwerfen, denn gar manche empfanden geringe Lust, sich eine solche Vormundschaft gefallen zu lassen. Da und dort murrte man auch schon, und Fabian erhob seine Stimme zu einer Verwahrung: »Wir werden alle mitentscheiden!«

»Nein, dafür ist der Vorstand da,« gab Pinzger heftig zurück. »Er wird die Anträge entgegennehmen und untersuchen, ob sie wert sind, dem Plenum mitgeteilt zu werden.« Zustimmende und ablehnende Ausrufe wurden laut. Auch die Weiber schrieen dagegen, namentlich die Frauen der Ausschußmitglieder, denn sie sahen endlose Sitzungen in der Destille voraus. Bloß die rote Liese unterstützte den Vorstand mit ihrem wütenden Geschrei. Schließlich, als das Toben immer lauter wurde und sogar drohende Fäuste sich gegen einander erhoben, schwang sich der Tiroler auf einen Baumwollballen und sprach mit weithin schallender Stimme:

»Genossen! Arbeiter! Kameradinnen! Laßt Euch von den Lauen, Zahmen und Halben unter Euch nicht entzweien, denn nur die Einigkeit macht stark. Vertrauensvoll habt Ihr die Vertretung in unsere Hände gelegt, und ich schwöre Euch, Ihr sollt mit uns zufrieden sein, denn wir sind nicht nur mit Euren Wünschen, Ansprüchen und Bedürfnissen genau vertraut, sondern auch mit den Absichten der Parteileitung und ihren höheren allgemeinen Zwecken. Hinter Euch stehen die Arbeiter der ganzen Welt und ihr Geld und ihre Macht. Lieber greifen wir zum Dynamit, als daß wir nachgeben. Es lebe die internationale Sozialdemokratie! Hoch die Anarchie!«

Nur im Rausche konnte der lustige Schleifer solche Drohungen und Rufe ausstoßen. Zwar versuchten seine schlaueren Anhänger, ihn mit ihren Stimmen zu übertönen, aber die Vorsichtigen und die Weiber mit Ausnahme der roten Lise erhoben laut Einsprache.

»Ich protestiere im Namen aller guten Arbeiter!« rief Fabian im höchsten Zorn.

Ein Tumult entstand. Die drei Hausknechte, die gegen etwaige Ausschreitungen fest und treu auf der Wacht standen, vertraten die Fabrikthüre und den Weg zum Kesselhaus, und Hitschold eilte ängstlich aus dem Kontor herbei. Da humpelte eine Droschke zweiter Klasse in den Hof. Der telephonisch herbeigerufene Kommerzienrat Heller stieg aus und wurde mit Hochrufen und Pfiffen begrüßt.

»Kinder, große Kinder, undankbare Kinder, was muß ich von Euch hören!« rief er aus. »Ich war auch ein Arbeiter, aber es ist mir niemals eingefallen, meine Forderungen durch einen Kontraktbruch zu erzwingen. Und jede Arbeiteinstellung ist ein Kontraktbruch. Schämt Euch, an Euren Arbeitgebern so zu handeln! Haben wir es um Euch verdient? Waren wir nicht immer für Euer Wohl besorgt? Habt Ihr die geringste Klage gegen uns zu führen? Sagt es, wenn Ihr Euch beschweren müßt, und Ihr sollt Gerechtigkeit finden. Aber Ihr wollt ja mehr Lohn? Viel mehr Lohn! Gut, man wird Eure Forderung prüfen und untersuchen, ob wir Euch zu Willen sein können. Ihr wollt weniger arbeiten? Auch das soll besprochen werden. Ich glaube aber, weniger arbeiten wollen, als Gesundheit und Kraft gestatten, ist Faulheit. Vergeßt auch nicht, daß jede Lohnerhöhung und jede Arbeiteinschränkung uns und Euch schwächt. Wir werden gegen die Konkurrenz nicht mehr aufkommen, müssen den Betrieb einschränken und infolge dessen Arbeiter entlassen, und das ist also wieder Euer Schaden. Ihr glaubt Eure Lage zu verbessern und verschlimmert sie nur.«

Die Worte des beliebten Greises hätten einen großen Eindruck gemacht, wenn nicht Pinzger und die anderen Rädelsführer dafür gesorgt haben würden, durch Lärm und spottende Einwürfe entgegen zu wirken. Sie plauderten laut miteinander, lachten und trampelten mit den Füßen, so daß Heller's Stimme nur noch von den Näherstehenden gehört wurde. Schließlich verlor er die Geduld und rannte zornig ins Kontor, während, von Pinzger und seinen Getreuen angestimmt, die Arbeitermarseillaise hinter ihm her schallte:

»Nicht zählen wir den Feind,
Nicht die Gefahren all,
Der kühnen Bahn nur folgen wir,
Die uns geführt Lassalle!«

Drinnen saß Hans mit Spinnmeister und Buchhalter um einen Tisch und prüfte die Forderungen. Hinnen war für schroffste Ablehnung, während Hitschold der Meinung war, daß die Arbeiter es nicht auf das Äußerste ankommen und wohl mit sich reden lassen würden. Als der alte Heller erschien, untersuchte auch er, wie weit man entsprechen dürfe. Die verlangte Lohnerhöhung könnte man den Spinnern zugestehen, nicht aber den übrigen Arbeitern. Auch die Frauen und Kinder verdienten eine zehnprocentige Zulage. Die Arbeitzeit aber könnte nur auf zehneinhalb Stunden ohne die Pausen verkürzt werden. Der Generalkonsul, der anfänglich für Abweisung aller Forderungen war, gab durch den Fernsprecher seine Zustimmung.

Inzwischen war es dem Ausschusse gelungen, die im Hofe versammelten Arbeiter einzuschüchtern und zum Nachhausegehen zu bereden. Als ihnen daher Hinnen-Lotz mit kochender Wut im Herzen das Entgegenkommen ihrer Brodherren mitteilen wollte, fand er nur noch die Hausknechte, die das Thor schärfer als je bewachten. So blieb dem Spinnmeister nichts anderes übrig, als seinen Arbeitern nachzulaufen und die verhaßte Durststillstation wieder zu betreten! Ohne den Budiker und seine Stehgäste auch nur eines Blickes zu würdigen, ging er am schnapsduftenden Buffett vorüber und ebenfalls ohne Gruß ins Hinterzimmer, aus dem ihm der Geruch von Speisen und Getränken, Tabakrauch und laute Männerstimmen entgegenschlugen. Da saßen die Edlen richtig beim Trunk und Kartenspiel, und auf seinem einstigen Ehrenplatze präsidierte jetzt der Tiroler, der die neben ihm stehende Grete um die Taille faßte.

»Aha, der Spinnmeister!« rief er dem Eintretenden zu. »Eine Partie Faß oder Pandur gefällig?«

Hinnen-Lotz nahm sich zusammen und wandte sich an Pätow, der neben Pinzger saß und noch am wenigsten betrunken schien. »Da habt Ihr's schriftlich, wie weit die Herren Euch entgegenkommen wollen,«

»Her damit!« brüllte Pinzger und griff nach dem Papier. »Ich bin der Vorsitzende.«

»Ihr könnt ja doch nicht lesen. Schleifer!« Mit geballter Faust wollte sich Pinzger auf den Spinnmeister stürzen, doch die Kameraden traten dazwischen und zogen ihn wieder auf den Sitz nieder. »Ich erwarte Eure Antwort draußen,« sagte Hinnen. »Hier ist mir die Luft zu schlecht.«

»Kapitalistenfritze! Arbeiterfeind! Bismarck!« rief ihm Pinzger nach. Schon wenige Minuten später kam Päitow aus der Destillation: der Strikevorstand müsse auf seinen Forderungen beharren und lehne den Gegenvorschlag ab.

»Das ist Bock!« antwortete der Spinnmeister, dem ein Stein vom Herzen fiel, und eilte in die Fabrik zurück. Den fragenden Mienen der Hausknechte, die auf den Bescheid begierig waren, antwortete er fast lustig: »Stricke! Stricke!«

»O, dieser Tiroler!« drohte Janko mit geballter Riesenfaust.

»Nur Geduld,« gab der Schweizer zurück, »den werde ich noch tüpfen!«

Heller und Hans empfingen mit Betrübnis die schlimme Nachricht, denn gerade jetzt, wo die Bestellungen drängten, war der Ausstand ein schwerer Schlag. Doch sie hatten das Bewußtsein, die äußerste Grenze des Entgegenkommens schon überschritten zu haben. »Ich werde den aufgezwungenen Streit durchkämpfen, und wenn ich noch eine Million in die Fabrik stecken müßte,« rief Heller mit jugendlicher Tapferkeit aus. »Wir wollen doch sehen, wer es länger aushält, sie oder meine Million!«

Hans ging ein Stich durchs Herz, als er den Verblendeten so ahnungslos zuversichtlich fand.


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