Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXII.

Lieber Jakob!

Kann auf Deinen lieben Brief vom 28. bassato nur wiederholen, was Dir in meinem letzten Schreiben mitgeteilt habe. Wünsche desnahen nicht, daß Du Deine gute Stellung mit einer unsicheren vertauschest, weil hier wirklich alles drunter und drüber geht. Du schreibst mir zwar, daß Du Dich an Bier statt Wein schon gewöhnen würdest, die Musik ebenfalls gern hast und die Weibervölker nicht fürchtest und auch ganz gewiß ein guter Arbeiter bleiben würdest. Das ist alles schön und gut, Jakob, aber die Sozialdemokraten!!! Würde mich im Grab umdrehen – hoffentlich noch lange nicht! – wenn Du denen Tagedieben und Revolutzern ins Garn fielest und am End' ausgewiesen und über die Grenze abgeschoben würdest, wie ein Vagabund, denn die Polizei kann hier alles und macht kurzen Prozeß.

Item, komm also auf keinen Fall zu Deinem lieben Vater

Hinnen-Lotz,

Direktor der Spinnerei Johannes Lenz & Komp.

Da seine letzten Jeremiaden auf den hoffnungsvollen Jüngling eher verlockend als abschreckend gewirkt hatten, so wollte der wackere Schweizer diesmal die Sozialdemokraten und das Sozialistengesetz als Popanz verwenden. Er hatte ja Beweise, daß seine meisten Arbeiter nicht nur liederlich, sondern auch offene oder heimliche Anhänger der Sozialdemokratie geworden waren. Er verfehlte nicht, jeden neuen Fall von Ungehorsam und Faulheit in der Fabrik der heillosen Irrlehre und ihren Propheten zuzuschreiben, überall sah und witterte er Nihilisten und Anarchisten, und er machte täglich seinen Chefs Vorstellungen, sie möchten endlich ein Exempel konstatieren und die Verdächtigen und Unzufriedenen, allen voran Pinzger und den Schlosser-Nante, entlassen. Besonders Heller nahm die Sache ziemlich kühl, denn es war ihm gleichgültig, was seine Arbeiter glaubten, wenn sie nur im Geschäft ihre Pflicht thaten. Ebensowenig ließ sich Hans von dem ängstlichen Spinnmeister bange machen. Trotz aller Prahlereien bei Zeiseler und unerachtet der Verhetzungen des Schlossers hielt er den Zusammenhang seiner Arbeiter mit der »Partei« nicht für erwiesen. Und sollten auch wirklich einzelne verirrte Schafe in seiner Herde sein, so wollte er doch nur seine Güte und Fürsorge verdoppeln und durch Wohlfahrteinrichtungen der Sozialdemokratie in seiner Fabrik den Boden entziehen. Seine Bestrebungen brachten ihm auch Segen ein, denn manche Arbeiter zeigten sich dankbar durch ordentliches Wesen, Fleiß und eine große Anhänglichkeit an seine Person. Was hatte er aber auch nicht alles für sie gethan! Jede festliche Gelegenheit nahm er wahr, um die Krankenkasse durch ein ansehnliches Geldgeschenk zu bereichern, auch sonst machte er ihren Unterstützungsvereinen oft genug anonyme Zuwendungen, Auf solche Weise opferte er nach Bestreitung seiner allerdings kostspieligen Haushaltung seinen Gewinnanteil zum Besten seiner Arbeiter. Den ringsum wohnenden Krämern und Wirten zum Trotze gedieh sein Konsumverein, mit dem er eine Kantine verbunden hatte, wo um ein Billiges kalter Imbiß und Braunbier verkauft wurde, und auch eine Theestube mit Lesezimmer richtete er ein, um die Arbeiter dem verderblichen Besuche der Destillationen zu entwöhnen. Schon hatte er den Grund zu einer guten kleinen Volksbibliothek gelegt und freute sich, daß namentlich Fabian, Hugo, die Aufseher und Hasplerinnen an Sonntagen gerne nach der gesunden geistigen Kost verlangten. So erfüllte er um des Vaterlandes willen, dem er mit seinem Blute nicht dienen durfte, eine erzieherische und soziale Aufgabe.

Aber die sozialistischen Einflüsse wuchsen trotz alledem. In der Fabrik wurde über politische und wirtschaftliche Fragen wenig gesprochen, doch war ein stummer Einfluß unbekannter Hintermänner zu erkennen. In ausschlaggebenden Fragen folgte man freilich nicht immer der ausgegebenen Losung, sondern der Rücksicht auf das persönliche Wohl und Weh, und um diese Gegenströmung erstarken zu lassen, regte Hans die Bildung eines Arbeiterausschusses an, um mit ihm sich regelmäßig über das beiderseitige Verhältnis auszusprechen. Viel war ja von den Arbeitgebern gesündigt worden, indem sie es unter ihrer Würde hielten, mit ihren Arbeitern zu verkehren und zu verhandeln; Hans aber glaubte, daß wir heute nur die Wahl haben zwischen der kommenden sozialen Revolution, die unsere ganze wirtschaftliche Kultur begräbt, oder dem Mitreden der Arbeiterausschüsse. Lieber also im Frieden solche bilden, um so leichter würde man sich dann in den Tagen des Kampfes verständigen.

Heller war gegen die Arbeiterausschüsse, weil sie das persönliche Verhältnis zu den Arbeitern zerstören, als stetes Kampfelement wirken, das Maulheldentum begünstigen und die Disziplin lockern. In ruhigen Zeiten würden Werkmeister und Aufseher gewählt, gegen die man oft die einzelnen Arbeiter schützen müsse, in unruhigen Zeiten aber Hetzer, die von außen sich beeinflussen ließen. Höchstens zur Interessenberatung, nicht aber zur Strafjustiz seien solche Ausschüsse tauglich, weil die Arbeiter nicht gegen Kameraden vorgehen wollen. So organisiere man bloß eine Opposition, die über Lohn- und Arbeitvertrag mitreden und demagogisch verhetze. Die großen Unternehmen müßten überhaupt militärisch, statt parlamentarisch organisiert sein. Indessen sei es in Berlin vielleicht anders als am Rhein. Hans möge den Versuch wagen.

Obgleich die sozialdemokratischen Anhänger dagegen eiferten, so gelang doch die Bildung eines Arbeiterausschusses, der die besten Elemente vereinigte. Den Vorsitz führte der wackere Fabian, und seiner freundlich vermittelnden Weise gelang es, alle Gegensätze auszugleichen und ein ersprießliches Zusammenarbeiten zu ermöglichen. Mit dieser Vertreterschaft unterhandelte Hans in Zukunft. Ihr legte er seine Pläne vor, und durch sie erhielt er Nachricht von den Meinungen seiner Arbeiter. Hinnen war sehr erstaunt, daß Hellers Prophezeiungen sich nicht erfüllten, aber er sah es gleichfalls voraus, wohin der Herr mit seiner Milde kommen würde. Item, er wolle auf seinem Beobachterposten ausharren und unablässig Warnsignale aufstecken. Vorläufig legte er eine schwarze Liste an, worauf der Schlosser-Nante und Pinzger an der Spitze standen, dann kamen Kindermann und Patow, der Spinner Mila, den er für einen unschädlichen Trunkenbold hielt, war mit einem Kreuz aufgeschrieben, und sogar dem Namen: Hugo Mila folgte ein gestrichenes Fragezeichen.

Der jüngste und beste Spinner war wirklich auf Abwege geraten. Aus Liebesgram hatte er sich der lockeren Gesellschaft des Tirolers angeschlossen und war gleich seinem Vater in der Durststillstation Stammgast geworden, wenn er auch mehr kannegießerte als trank. Seine Mutter hatte nun immer häufiger die Freude, Vater und Sohn zusammen aus der Destille zu holen und ihre wortreiche Strafpredigt zu verschwenden. Aber war sie nicht mit schuld an Hugos Verkommenheit? Hatte sie doch mit ihren Töchtern die kleine Fabian, die sein bester Halt war, in ihrer Sprödigkeit bestärkt und den Bruch durch ihr rohes Auftreten bei seinem Streite mit Pinzger unheilbar gemacht. Und weil ein Unglück nie allein kommt, so verlor sie nun auch noch ihre Jüngste.

Schon seit geraumer Zeit munkelte man in der Fabrik, daß Lore mit dem Schlosser-Nante gehe. Oft schlich sie von ihrem Haspel weg in die mechanische Werkstatt, und der schnüffelnde Spinnmeister hatte das Pärchen schon in allen Winkeln zusammen überrascht. Natürlich war er über diese »Untreue« sehr ungehalten, denn nicht nur seine Liebe, auch seine Eigenliebe litt darunter: wie konnte man nur einen andern dem Herrn Hinnen-Lotz vorziehen?! Aber es war nun einmal so, und all seine Strafen und Bußen und der Eltern Schelte und Schläge halfen nichts mehr. Machte Nante am Montag blau, so verschwand Lore lange vor Feierabend aus der Fabrik, gewiß um mit dem »Bräutigam« zusammenzutreffen, und wenn sie dann gegen Morgen nach Tabakrauch und Alkohol riechend nach Hause kam, so brachte sie der Mutter eine Menge Lügen vor. Eines Nachts kam sie überhaupt nicht wieder, und die folgenden Tage auch nicht. Die Polizei suchte sie vergeblich, und wenn man den Schlosser-Nante nach ihrem Verbleib fragte, zuckte er die Schultern, und sogar dann noch, als Frau Mila es ihm auf den Kopf zusagte, daß er um ihre Tochter wisse.

»Na ja, Mutter Mila'n,« antwortete der wüste Geselle, um endlich Ruhe vor ihr zu haben, »die Lore ist gar nicht ins Wasser gegangen, durchaus und durchum nicht, sondern lebt einen feinen Tag. Die lacht uns alle zusammen aus, daß wir uns hier in dem Arbeithaus noch abrackern mögen. Das Mädchen ist eben mit Spreewasser getauft, und wir Berliner haben das nu mal an uns, daß wir uns die Butter nicht von der Stulle nehmen lassen, wenn sie mit Schmalz beschmiert ist.«

Mehr als allgemeine Redensarten waren nicht aus ihm herauszubringen, auch Hugos Versuche scheiterten. Wie ein Blitzschlag hatte diesen das Verschwinden seiner Lieblingsschwester getroffen. Er wurde schwermütig und grübelte immer finster vor sich hin. Tausend Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Er wollte sie suchen, ihr ins Gewissen reden, sie mit Gewalt nach Hause führen ... Mit keinem Menschen sprach er mehr ein Wort, düster und freudlos verrichtete er seine Arbeit, und nach Feierabend und Sonntags verschwand er, niemand wußte wohin, und kam selten vor Tagesanbruch nach Hause, oft erst zum Arbeitbeginn. Wo trieb er sich herum? Der Schlosser behauptete, der Junge gehe ihm nach und spioniere ihn aus, aber er sei schlauer und lasse sich nicht in die Karten sehen. Frau Mila aber wurde ganz bange und meinte, Hugo schnappe gewiß noch über. Da konnte nur eine helfen und ihren Sohn wieder auf gute Wege bringen: Lene, und in ihrer Angst setzte sie sich mit Frau Fabian in Verbindung, die ja auch ihren Hugo gern hatte. Die brave Sächsin war ebenfalls der Ansicht, nur ihr Kind werde ihn aufrichten und bessern, und wenn auch ohne Liebe, rein nur aus Mitleid und Kameradschaft ihre Rolle als Rettungsengel durchführen. Sie riet ihr, den Pfingstmontag durch ein kleines Mahl zu feiern und die Kleine einzuladen.

Am nächsten Sonntage zog Frau Mila richtig eine weiße Schürze an und machte sich auf den Weg in die Villa. Leider traf sie es nicht gut, denn der freundliche Herr Hans war schon drüben im Kontor, und ein lautes Geschrei erfüllte das Haus. Der Kutscher, der vor dem Stalle den Landauer wusch, deutete an, die Gnädige sei wieder ganz »lititi«, und da werde das gequälte arme Wurm schwer abkommen können, aber er wolle es durch die Köchin bestellen lassen.

»Die Kleine hat 'n schlechten Posten,« sagte er. »Schon von Anfang an waren die Dienstboten alle gegen sie und wollten sie fortgraulen, weil ein Fabrikmädchen nicht anständig sei. Du liebe Zeit! Besonders die Gesellschafterin, die Französin, die Leblanc, triezte sie bis aufs Blut. Noch mehr die Gnädige – die reine Hölle! Jetzt schenkt sie ihr seidene Kleider und Schmuck, was sie gar nicht tragen kann, und dann wirft sie ihr wieder alles Geschirr an den Kopf. Solche Beulen hat sie schon! Nanu bildet sich die Gnädige gar noch ein, daß sie es mit ihrem Mann hält. Lächerlich! Und ihre schönen schwarzen Augen sind ihr auch ein Greuel. Sie möchte sie ihr ausstechen.«

»Das Aas!« rief Frau Mila mit geballter Faust, und als nach langem Warten endlich Lene mit verweinten Augen im Flur erschien, fahl und abgemagert, aber propper und doch hübsch zum Anbeißen, da gestand sie der Kleinen ihr Unrecht ein, bat sie um Verzeihung und schüttete ihr Mutterherz aus. Ihre Erklärung war etwas zu lang für Lenens Urlaub, und so konnte diese nach kurzem Sträuben nur ihre Geneigtheit kundgeben und die Einladung für den Pfingstmontag annehmen, denn schon dröhnte das Geschrei der Gnädigen wieder durch das Haus.

»Kind, sei nicht dämlich.« sagte Frau Mila und ließ ihre Hand gar nicht mehr los, »und raus aus der Bude, oder es ist noch Dein Tod.«

»Nein, nein,« entgegnete sie und suchte vergeblich sich freizumachen. »Ich muß bleiben, ich muß!«

»Seh ich nicht ein, Mädchen. Na, denn beschwere dich mindestens beim Herrn.«

»Geht nicht. Ich habe Mitleid mit beiden. Sie ist krank und kann nicht dafür, und er hat schon so den Kopf voll.« Und sie riß sich los und verschwand, aber der »hellen« Frau Mila fiel es gleich auf, daß die Kleine ihr dabei gar nicht in die Augen sah. Die wird doch nicht wirklich in den Herrn verliebt sein? dachte sie beim Nachhausegehen, denn was würde dann erst aus ihrem Hugo!

Die Pfingsttage kamen. Frau Mila hatte aus Hackfleisch einen falschen Hasen bereitet, Hugos Leibgericht, und Fabians steuerten das Bier und den Kuchen bei. Zum Dessert trank man die Flasche Schaumwein, die Herr Hans dem Mädchen mitgegeben. Ganz allmählich taute da der arme Hugo auf, und selig sah er die Kleine an und schwor ihr hoch und teuer, sich nicht mehr um Lore zu grämen und wieder ein braver Mensch zu werden.

Hierauf wurde ein gemeinsamer Spaziergang beschlossen, an dem nur Fabian und der alte Mila nicht teilnehmen wollten. Letzterer, weil er angeblich schläfrig war, aber er verlangte gewiß nur in die Durststillstation, und darum blieb auch seine Frau, die seine Absicht durchschaute, zur Bewachung zurück. Marie, Lene und ihre Mutter stellten sich unter Hugos Führung, aber wohin sollte die Fahrt gehen? Lene schlug einen Spaziergang in den Grunewald vor, denn sie sehnte sich nach der Natur und dem Frühling; Marie wollte Eisenbahn fahren, Frau Fabian in die Hasenheide, von der sie schon so viel Wunder gehört, und Hugo verlangte auch nach leichter Zerstreuung. So wurde also Lene überstimmt. Das Ziel war die Hasenheide, aber mit dem Umweg über die Linden, damit Marie ihre Eisenbahn haben konnte. Und die Karawane setzte sich in Bewegung. Voran Hugo und Lene, die ein hellblaues Kleid und einen Strohhut trug, Geschenke ihrer Gnädigen, und hinterher folgten die fast ärmlich gekleidete, stark altjüngferliche Marie mit Frau Fabian, die ihr braungefärbtes Hochzeitskleid angezogen hatte und auf dem Kopfe eine stattliche Riesenhaube balancierte. Am Stadtbahnhof erstürmten sie einen überfüllten Wagen, und Marie Mila glühte vor Freude, als der Zug ins Rollen kam, nur schade, daß das Vergnügen gar so kurz war! Schon hieß es aussteigen, und bald standen sie mitten im Stoßen und Hasten der von Menschen wimmelnden Friedrichstraße, wo alles im pfingstgrünen Schmucke prangte. Wagen und Pferde zeigten den schimmernden Birkenzweig, die Fußgänger hatten Hüte und Knopfloch mit Maienlaub oder Blumen versehen, sogar vom kahlen Gerüste der Neubauten nickte das junge Grün. Und auch Hugo kaufte drei Maiblumensträuße, die sich seine »Damens« gleich vorsteckten, und noch ein duftiges Veilchensträußchen extra für Lene. ... Nur an ihr Fabrikleben gewöhnt, kamen sich die drei Weiber wie neugeboren, wie verwandelt vor, und mit hilflosen Augen blickten sie sich um. Zum Glücke für sie wußte Hugo Bescheid, und so eroberten sie springend und schreiend eine Droschke zweiter Klasse, und Hugo erkletterte den Bock, damit die Damen bequemer sitzen konnten. Nach einer endlosen Fahrt in dem Humpelkasten kamen sie auf eine lange staubige Landstraße mit Gastgärten, Mietkasernen, Bretter- und Leinwandbuden, Kiefernwäldchen und kleinen Sandflächen. Sie stiegen aus und schwammen langsam mit der Menschenflut vorwärts. Alle Gartenwirtschaften und Kneipen waren überfüllt mit Arbeitern, kleinen Beamten, Handwerkern, Soldaten, und fast sah man mehr Weiber als Männer. Und nun ging es im Gedräng an den lustig knatternden Schießständen, den vom Leierkasten durchbrausten Karussellen, den rauchenden Wurst- und Waffelküchen und den bemalten Leinwandbuden und ihrer Janitscharenmusik vorüber, daß ihnen Hören und Sehen verging. Und mitten durch all das Treiben der Volksmenge, das Schlachtgeheul der Wilden, das Brüllen der Bestien, das Geknall der Kraftmesserschläge, das Klingeln der Pferdebahn, das Geschrei der Ausrufer und Kinder, das Trompeten, Pfeifen und Brausen zog wie eine ernste Todesmahnung ein schwarzer Leichenwagen mit seinem hochaufgebahrten gelben Sarg, mit Kränzen, Trauerflor und verweinten Leidtragenden.

Sie besuchten das größte Panorama der Welt und das erste europäische Flohtheater, sahen sich eine Menagerie und eine Riesendame und die abgerichteten Affen und Papageien, die Löwen und Elefanten an, ließen sich photographieren, wahrsagen und wiegen, elektrisieren und die Lungen- und Faustkraft prüfen, und die Glücksräder bescherten ihnen Blumentöpfe, Vasen, Papierlaternen und Pfefferkuchen. Im »Bagno« gruselten sie sich vor den französischen Galerensträflingen, der schwarze Wüstenkönig Hungorillo fraß in ihrer Gegenwart lebendige Kaninchen, und Esmeralda, die wahnsinnige »Blume des Westens«, erkannte mit gellendem Schrei ihr geliebtes Kind. Drinnen und draußen fielen die Witze der immer ironischen Zuschauer hageldicht auf die Ausrufer und Erklärer nieder, und mehr als einer von diesen mußte vor dem wortbehenden Berliner Witz das Feld räumen. Dann traten sie in einen Gastgarten, der vielversprechend die neue Welt hieß, und Frau Fabian verschwand mit ihrem Körbchen, worin sie eine Tüte Kaffee, Zucker und Kuchen hatte, in die Kaffeeküche, um ihren Mokka brauen zu lassen. Unterdessen hörten Hugo und die beiden Mädchen der Militärkapelle zu und sahen sich auch die anderen Herrlichkeiten an, den Irrgarten, das Puppentheater, die Singspielhalle, die schwedische Rutschbahn und fuhren auf der neuen deutschen Reichsschaukel und sogar in einem Karussellwagen, Hugo auf einem Leoparden stolz voran als Spitzreiter. Auch auf dem Tanzboden im »Ball Schampeter« drehten sich Lene mit Hugo und Marie mit dem Erstenbesten im furchtbaren Gedränge, wobei sie ihren Tänzern ihr Taschentuch boten, damit die schwitzende Hand nicht ihr Kleid an der Taille beschmutzte. Dann aber holten sie die Mutter Fabian mit ihrem weißen Kaffeegeschirr im Triumph aus der Küche, und weil alle Tische und Bänke besetzt waren, nahmen sie drin im Konzertsaale Platz und ließen sich die Vesper herrlich schmecken.

Langsam brach der Abend herein, und das Plaudern, Lachen und all die tosende Freude wollte noch kein Ende nehmen. Aber Frau Fabian sah die leeren Tassen, Seidel und Streuselkuchenteller, wickelte den endlosen Strumpf um die Stricknadeln und mahnte zum Aufbruch. Sie hatte genug von dem Lärm und »diesem Volk«, wie sie geringschätzig sagte, und wollte gern auf die venezianische Nacht und den Brand Roms mit allem Feuerwerke verzichten. Sie sehnte sich zwar noch nicht nach Haus, aber nach gebildeter Gesellschaft. Hugo schlug also vor, in die Lindengegend zurückzufahren, und sie brachen auf. Am Eingange stieß der lustige Kardenschleifer zu ihnen, natürlich pikfein im Wichs, mit kleinem Hut und Federstutz, Zigarre und Spazierstöckchen. Er war mit der roten Liese hergekommen, aber sie warf allen Männern Blicke zu, so daß er sie abschüttelte.

»Ich habe sie versetzt,« erzählte er. »Ich sagte ihr, sie soll mit der Luftbahn fahren, ich sei schwindlich, sie möge nur allein rutschen. Das war aber bloß Falle. Und als sie mir im Rutschen Kußhände zuwarf, bin ich ihr ausgerückt. O, die wird hier nicht verloren gehen! Die läßt sich von jedem finden.« Er hatte kaum gesprochen, als ein Getöse in der Luft ihre Köpfe und Blicke nach oben lenkte, und richtig! da schossen hoch über dem Teich und dem Springbrunnen zwei menschenüberfüllte Wagen an ihren Seilen vorüber, und in einem davon saß die rote Liese in ihrem grasgrünen Kleid und winkte ihnen mit dem Sonnenschirme zu. »Nu aber raus!« mahnte der Schleifer, als das drohende Luftbild verschwunden war.

Die Gesellschaft lachte über die versetzte Braut, und der Tiroler reichte Marie Mila den Arm und übernahm die Führung. Und er verstand sich darauf, denn er war auf der Hasenheide wie zu Hause. Im Vorübergehen zeigte er ihnen den schwarzen Turnvater Jahn auf seiner Steinpyramide, und weiter ging es bis zum Rollkrug, wo sie den eben abfahrenden Pferdebahnwagen bestiegen. Bald standen sie wieder im Gewühle der Friedrichstadt, doch war es schon dunkel geworden. Die elektrischen Lichter flammten auf, wie von Geisterhänden entzündet, und da trieb man mit dem Menschenstrom in die Passage und ins Panoptikum hinein.

»Genossinnen, heute geht's aus meiner Tasche!« sagte Pinzger und drängte sie an der Kasse vorbei. Und staunend begafften sie die Wachspuppen und sahen der Sängergesellschaft zu, die in bunten Fähnchen die Geige kratzte, das Tambourin schlug und die Guitarre kniff und dazu sang und tanzte. Hier gefiel es der musikalischen Lene sehr, aber Marie erklärte, sie bekomme von dem Lärmen Kopfschmerz, und sie habe schon genug an dem Getöse in der Spinnerei. Frau Fabian jedoch ärgerte sich, daß sie von allem dem Singen und Schnattern kein Sterbenswort verstand, wie scharf sie auch aufhorchte. Ja, wollte man sie denn zum besten halten?

»Das ist italienisch,« erklärte ihr Lene.

»Und verstehst Du es etwa?«

»Fast glaub' ich's.«

Das fand ihre Mutter sehr überspannt, und alles Überspannte war ihr in den Tod verhaßt, und so trank man in dem Gewühle schnell sein Bier aus und ging. Aber schon ein Haus weiter in der Friedrichstraße drängte sie der Schleifer in ein hell erleuchtetes Thor. Dies da sei das rechte Panoptikum, versicherte er, und da hatte er auch schon die ganze Gesellschaft mit sich die Treppe hinaufgezogen. Drinnen war aber wieder dieselbe Geschichte. Wachspuppen, Bilder, Waffen, nur daß statt der italienischen Volkssänger zwanzig Wiener Damen in roten Seidenblousen musizierten. Und man setzte sich wieder zum Bier und sah den alten und jungen Geigenspielerinnen zu, wie sie an einemfort fiedelten und mit den Herren kokettierten. Der spaßige Tiroler wußte einen Vers darauf und summte vor sich hin:

»Die die von die Damenkapell',
Die die mit die großen Tschinell'n,
Die die geht im Kopf mir herum,
Macht mir im Herzen bum bum!«

Die Gäste an den Nebentischen, die es gehört, stimmten ein, und Pinzger ließ noch mehr Bier kommen und noch mehr, und als die Seidel leer waren, ging es schon auf zehn Uhr, und man brach ganz erschrocken über diese Entdeckung auf.

Wohin jetzt? ... Nein, in einer Gesellschaft, deren Anführer der fidele Schleifer war, stellte man diese Frage gewiß nicht, denn der war nie in Verlegenheit. Und trotz der protestierenden Frau Fabian, die nach Hause zu ihrem einsamen Alten verlangte, schleppte er die ganze Gesellschaft in menschenwimmelnde Bierpaläste, wo in allen Stockwerken getrunken wurde, in Singspielhallen mit aufgedonnerten Kellnerinnen und Sängerinnen, roten Ampeln und bunten Gardinen und zuletzt noch hinüber in ein von Patschuli durchduftetes Nachtkaffee, wo ein baumhoher Portier mit langem schwarzen Bart drohend an der Thür Wache hielt und geschminkte und in Seide und Samt gehüllte Damen mit feinen Herren um die kleinen Marmortische saßen, Kaffee tranken und Zigarretten rauchten. Aber was war das? Da sprang ja plötzlich Hugo von seinem Stuhl auf und eilte zu einem der nächsten Tische. Kennt er denn die Dame im roten Plüschkleid und Federhut? Muß wohl sein, denn er spricht ja mit ihr ... »Herrjeh, die Lore!«

Marie hatte ihre Schwester trotz des tollen Aufzuges erkannt, und ehe noch Pinzger es verhindern konnte, war auch sie aufgesprungen. Aber schon hatte Hugo seine sich weigernde Schwester am Arm gefaßt ... ein Herr sprang dazwischen und noch einer ... ein Langer mit einem großen blonden Bart ...

»Der Schlosser-Nante!« rief Frau Fabian. Ein kurzes Ringen, Geschrei, Hin- und Herlaufen ...

»Meine Schwester!« schrie Hugo und schlug blind um sich. »Ich will meine Schwester!«

Man rief nach der Polizei, aber schon hatte sich der große Thürhüter und Wächter der Moral eingefunden und beförderte die ganze störende Gesellschaft mit Hurra an die Luft ... Draußen, in dem Auflaufe von Menschen stand nun wirklich die Polizei, und da half alles Widerstreben nichts. Die Ruhestörer wurden auf die nächste Revierwache geführt, wo man ihre Namen aufschrieb. Hugo sollte sich noch besonders wegen Hausfriedensbruch vor Gericht verantworten.

Das war eine traurige Heimfahrt und ein wüstes Ende des schönen Pfingstfestes! Die Maiblumensträuße waren geknickt oder entrissen, die Blumentöpfe und Vasen zerschlagen und alle Freude dahin. Und ihr Verheimlichen half nichts. Am folgenden Morgen wußte die ganze Fabrik von dem Abenteuer, und daß man den Schlosser-Nante mit Lore Mila, die in Samt und Seide ging, in einem Nachtkaffee der Friedrichstraße gesehen habe. Also Dirne und Zuhälter! Frau Mila verging fast vor Scham und klagte Hans in beredten Worten ihr Leid. Als er ihr aber den Vorwurf nicht ersparte, daß sie das Mädchen strenger hätte beaufsichtigen sollen, da lachte sie höhnisch:

»Beaufsichtigen! Sie haben ja so recht! Gewiß, ich hätte sie beaufsichtigen können, denn wir waren ja immer zusammen, nicht wahr? Wir schliefen in demselben Zimmer, sie nahm ihr Abendbrot mit uns ein und arbeitete in der gleichen Fabrike. Und doch sah ich sie so selten! Wir arbeiteten ja nicht im nämlichen Saal, drei Stockwerke trennten mich von ihr, und ohne Erlaubnis durfte ich nicht hinauf und sie nicht zu mir. Nur zur Mittagpause kamen wir in der Kantine oder im Hofe mit den anderen Genossen flüchtig zusammen und schluckten unsere Suppe herunter. Am Feierabend stürmten wir nach Hause und schleppten uns den weiten Weg lang und die vielen Treppen rauf. »Na, Kinder, da wären wir ja alle! – Was gibt es zu präpeln? – Ich habe Hunger! – Ich auch, Mutterchen.« Wir denn nun eins, zwei, drei essen unser aufgeschobenes Mittagbrot. Aber nicht bloß Hunger haben wir, müde sind wir auch zum Umfallen. Zehn Minuten später rührt man das Stroh in der Matratze auf, wirft sich drüber und schläft ein. Am Morgen steht man noch ganz duselig vom Boden auf und sputet sich, um keine Ordnungstrafe zu kriegen, und so läuft man im Sturmschritt zur Arbeit. Und das Tagewerk fängt an und die Maschinen lärmen. Man kann nicht plaudern, und sogar das Denken vergeht einem. Man bloß arbeiten, elf Stunden auf derselben Stelle, jeden Tag dasselbe, von früh bis spät die gleichen Bewegungen, haspeln, zupfen, ansetzen und scharf zusehen, damit es nicht stockt und der Faden nicht reißt. Wie kann ich da auf meine Kinder aufpassen, lieber Herr? Die Verführung von der Straße setzt sich in der Fabrike fort. Und da wundern Sie sich noch, wenn so 'n armes Wurm mit jungem, heißem Blute strauchelt! Beaufsichtigen! Ja hat sich was! Erst lassen Sie uns für 'n momentanen Augenblick Zeit, und denn reden Sie!«

Hans schwieg betroffen. Wahrlich, die arme Frau hatte recht, und ihre Klage wurde zur Anklage und traf auch ihn. Die Not hatte diese armen Weiber aus der Familie verjagt. Sie waren nur noch Arbeiter und opferten so ihre Gesundheit, ihre Kraft, ihren Frohsinn und mit ihrem Recht auch ihre Pflicht. Und es wurde ihm zur Gewißheit, daß die Maschine, die das Handwerk vernichtet und aus den freien, selbständigen Arbeitern abhängige Lohnsklaven macht, kein Segen ist. Dieser Dämon mit den langen, schwarzen, ruhelosen Armen übt seinen Druck auf Leib und Seele des Arbeiters aus, preßt ihn, zerquetscht ihn, – ein Drache, der mit seinen eisernen Kiefern und dem unersättlichen Schlunde das arme Volk und Tugend und Glück verschlingt und die Klagen der hilflosen Opfer mit seinem Stampfen und Brausen übertönt. Nie mehr konnte Hans an dem keuchenden Wolf vorüber, ohne daß es ihm wie der Notschrei der verschlungenen Geschlechter klang, und er dachte an die Sage vom ehernen Stier des Phalaris, aus dessen glühendem Inneren der Todesruf der brennenden Opfer ertönte.


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