Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXIV.

Die Untersuchung ergab keine völlige Klarheit über die Entstehung des Unglücks, nur soviel wurde festgestellt, daß es kein Unfall durch die Schuld der Arbeitgeber, sondern die Folge eines Raufhandels war. Der Schlosser-Nante, der sofort entlassen wurde, blieb dabei, daß er von dem jungen Spinner hinterrücks angegriffen worden sei, und daß es dessen deutliche Absicht gewesen, ihn in das Triebwerk oder zwischen die Maschine zu stoßen. Er habe zwar bald die Oberhand gewonnen, aber in ihrem verzweifelten Ringen seien sie in die Nähe des Treibriemens geraten, der Hugo jäh erfaßte und emporriß. Vermutlich habe sein Gegner, als er die Unmöglichkeit erkannt, ihn zu verderben, selbst den Tod gesucht. Die Aussagen der Zeugen waren ohne Belang, denn zu spät hatten sie in dem Maschinenlärm und Abenddämmer den Streit bemerkt, doch sei ihnen Hugos wahnsinniges Drängen nach dem Triebwerke zu aufgefallen. Dies bestätigte auch der Ansetzer, der noch rechtzeitig den Fahrstuhl zurückgehalten, natürlich alles sozialdemokratische Zeugenbeeinflussung, um den bewährten »Genossen« zu retten, wie Hinnen-Lotz meinte. Zu seiner Genugthuung wurde aber der Schlosser trotz alledem in Untersuchungshaft genommen.

Unterdessen lag Hugo besinnungslos im Krankenhause. Vier Rippen waren gebrochen, schwere innere Verletzungen konstatiert, beide Beine mußten amputiert werden. Als er nach wochenlangem Schweben zwischen Tod und Leben sich so weit erholt hatte, um vernehmungsfähig zu sein, belastete er den Schlosser, der ihn »Schwein« geschimpft und mit Absicht in die Maschine gebracht habe. Als Lene, die ihn jeden Sonntag mit seiner Schwester Marie besuchte, ihm ins Gewissen redete, blieb er noch immer bei seiner Aussage.

»Schade, daß ich nicht umgekommen bin,« klagte er. »Jetzt kriegen sie den Schlosser bloß wegen Körperverletzung an, statt ihn lebenslänglich ins Zuchthaus zu bringen. Aber auch diese paar Jahre Sitzung werden ihm zu denken geben. Lore wird dann gewiß wieder nach Hause kommen.«

Der Unfall hatte einen tiefen Eindruck auf Hans gemacht. Er fragte nicht lange nach dem Gerede und ob das Unglück Absicht oder Ungeschick gewesen. Die Thatsache, daß einer seiner Arbeiter von einer Maschine erfaßt und verstümmelt worden, erinnerte ihn an seine Pflicht. Zwar hatte noch der alte Kaiser den Entwurf einer Alters- und Unfallversicherung bestimmt, um die Invaliden der Arbeit sicherzustellen, aber Jahre konnten noch hingehen, bis das Gesetz in Kraft treten würde. Darum wollte er nun in seinem kleinen Bereich ein ähnliches Institut ins Leben rufen, um seine Arbeiter zu schützen. Er sann Tag und Nacht darüber nach und legte schon die Grundbedingungen fest: Gleichstellung der Krankheiten mit den Unfällen, Gewährung des vollen Arbeitslohnes, wenn der Unfall durch die Schuld des Unternehmers geschah, und Eintritt der Unfallversicherung am vierten Tage nach dem Unglück. Die freiwillige Versicherungskasse sollte sich zur Hälfte aus den erhöhten Beiträgen der Arbeitgeber zur Krankenkasse, zur Hälfte aus den Lohnabzügen, Strafgeldern und Eintrittsgeldern der Arbeiter ergänzen. Unterstützt wurden hieraus nicht nur die Arbeitunfähigen, sondern auch ihre Familien, außer wenn eine Krankheit die Folge eines Raufhandels oder der Trunkenheit war. Schon für die nächsten Tage berief er den Arbeiterausschuß und legte ihm seinen Plan vor. Ach, es war nicht mehr die alte Vertretung! Durch Krankheit, Tod oder Verzug hatte der Ausschuß nacheinander mehrere Mitglieder verloren, und in die Lücken drängten sich die Strohmänner der Partei. Umsonst bemühten sich Hans und Hinnen-Lotz, die guten Mitglieder zu halten. Unter dem Einflusse Pinzgers und seiner Genossen kamen sie ins Wanken, wurden mundtot gemacht oder schieden aus. Mehr als einmal wollte Fabian auf den Vorsitz verzichten, nur Hans' Bitten veranlaßten ihn zum Ausharren. So wurde das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern immer gespannter. Der Ausschuß bemängelte jede Neuerung und nahm selbst Verbesserungen mißtrauisch auf. Die Geschenke und Stiftungen seien »verfluchte Pflicht und Schuldigkeit« oder »elende Almosen«, ganz kleine Gegenleistungen für ihre Arbeit, der Konsumverein liefere schlechte Ware, die Theestube wurde als Altweiberkaffee verspottet und die Kantine als teuer verschrien, die Bibliothek müsse die sozialdemokratischen Hauptwerke anschaffen, die Einsicht in die Sparbeträge der Arbeiterkasse werde wohl demnächst zur Herabsetzung der Löhne benutzt werden u.s.w. Als nun Hans seinen neuesten Plan vorlegte, meldete sich Pinzger schnell zum Wort und setzte in einer konfusen Rede auseinander, daß der Vorschlag zwar ein Entgegenkommen der Unternehmer bekunde, aber Doktor Flemminger habe noch in der letzten Parteisitzung dringend empfohlen, gegen jede Neuerung der Industriellen auf der Hut zu sein. Bevor man sich also über den Vorschlag ausspreche, müsse man notwendig bei der Partei anfragen ... Zornesröte färbte Hans' Antlitz.

»Welche Partei?« fragte er. »Wohl die Arbeiterpartei?«

»Ja, die sozialdemokratische.«

»Sie irren, Pinzger, wenn Sie alle Arbeiter dieser Partei zuweisen. Für Ihre Person mag das gelten, aber noch gibt es Hunderttausende deutscher Arbeiter, die keine Sozialdemokraten sind.«

»So ist es.« bestätigte Fabian. »Wir sind Arbeiter kurzweg.«

»Ich bestreite das,« rief der Tiroler. »Jedenfalls ist in der Spinnerei alles sozialdemokratisch, sogar die Maschinen.«

Pätow und Kindermann stimmten bei, die andern schwiegen, denn sie waren unsicher und ängstlich gemacht. Sie fürchteten sich vor der »Partei«. So hatte also Pinzger seinen Zweck erreicht und die Verhandlungen erschwert! Hans war nervös geworden, Hinnen gereizt und ausfallend, und Fabian verschob mit Recht alles weitere auf die nächste Tagung.

»Jetzt wäre es aber doch höchste Zeit, dem Tiroler zu künden,« bemerkte der Spinnmeister nach der Sitzung, und als Hans es auch diesmal ablehnte, fuhr er fort: »Die Sozialdemokraten bei uns werden ja immer frecher. Unsere Mauern schmieren sie rot an und schreiben ihre Wahlen darauf. Gestern haben sie dem Fabian sogar über den Schiller und Klopfstock die Bilder der hingerichteten Anarchisten von Chicago geklebt. Morgen ist wieder Radauversammlung in Moabit, und der Schleifer wird das große Wort führen. Unsere Leute sind besonders eingeladen, und ich fürchte, die Sozialdemokraten haben es just auf die Spinnerei abgesehen. Da wird gewiß zum Strike (Herr Hinnen sagte »Stricke«) gehetzt. Ja, lachet nur, Herr! Wir werden noch Gottes Wunder erleben! Und nicht besser wird es, als bis die Maschinen so vollkommen werden, daß wir gar keine Arbeiter mehr brauchen. Die Maschinen sind ja viel flinker, exakter, verläßlicher, billiger und ausdauernder. Also Automaten her, und hinaus mit den Menschen!«

»Das läßt sich hören,« sagte Hans gedankenvoll, »Der Mensch wird von dem Zwange befreit, als Maschine zu wirken. Aber ihn von der Arbeit erlösen – da sei Gott vor!«

Herr Hinnen-Lotz stutzte einen Augenblick und machte dann in heiligem Eifer den Vorschlag, von jedem Arbeiter die schriftliche Verpflichtung zu fordern, daß er sich jeglicher Ausstandsbewegung enthalte und weder sozialdemokratische oder überhaupt solche Versammlungen, die den Interessen der Fabrik zuwiderlaufen, veranlasse oder besuche, bei Vermeidung sofortiger Entlassung. Aber Hans lehnte auch diese Maßregel ab, denn es widerstrebte seinem Gerechtigkeitgefühl, Ideen mit Polizeimaßregeln zu bekämpfen. Zumal jetzt, wo Staat und Gesellschaft alles daransetzen, die Verirrungen auf dem Wege der Vernunft und durch Abstellung berechtigter Beschwerden zu heilen, sei die Öffentlichkeit der einzige Weg hierzu, und darum wolle er nicht in das Arsenal der Polizeipraxis greifen.

Ihn drückten aber auch noch andere Geschäftssorgen. Unter seiner Leitung war die Firma Johannes Lenz & Komp. zwar zu hoher Blüte gelangt. Auf Monate hinaus lagen Aufträge vor, und die Spinnerei mußte oft zur Nachtarbeit schreiten, um die Lieferungsfristen einhalten zu können. Die Maschinen brausten, die Spindeln surrten, große Rollwagen brachten das Gespinst hochaufgetürmt in die Lagerhäuser und Güterbahnhöfe, und so war fast Tag und Nacht ein rastloses Leben. Aber allerlei Übelstände in der kaufmännischen Oberleitung waren vorhanden. Der Konsul, der die Beschaffung des Rohmaterials und den Verkehr mit dem Garnmarkt an sich gezogen, infolgedessen er über die Annahme der meist telegraphisch einlaufenden Garnbestellungen entschied, verschleuderte im Laufe des Sommers das Gespinst zu Preisen, die kaum die Herstellungskosten deckten. Hans machte ihm Vorstellungen, aber der Onkel sprach geheimnisvoll von drohenden Konjunkturen, bevorstehender Baisse, Überfüllung des Garnmarktes, unsicherer politischer Lage und meinte, man müsse unter solchen Umständen froh sein, recht schnell und glatt gegen bar zu verkaufen. Die Menge werde es bringen.

Eine zufällige Bemerkung des Spinnmeisters, warum neuerdings das schöne trockene Baumwolllager im Fabrikhofe so wenig benutzt werde, lenkte die Aufmerksamkeit von Hans auf einen anderen Übelstand. In der That kam der allwöchentliche Bedarf an Baumwolle nur noch in kleinen, fast täglichen Mengen herein, so daß das Lagerhaus, das früher von Ballen strotzte, meistens halb leer stand. Man lebte in der Spinnerei von der Hand in den Mund. So lange dadurch die Arbeit nicht gestört wurde, hatte es wenig auf sich, aber bei dieser schmal bemessenen Zufuhr konnte etwa infolge unvorhergesehener Verkehrstörung die Baumwolle leicht eines Tages ausgehen und der Betrieb eingestellt werden müssen, was schon um der zahlreichen Bestellungen willen von großem Nachteile sein würde, ganz abgesehen von den Rücksichten auf die Arbeiter und den Kredit. Sollte etwa, dachte Hans, die Firma auf dem Baumwollmarkte so schlecht angeschrieben sein, daß die Agenten für größere Posten überhaupt nicht mehr zu haben waren und immer nur kleinere »Gelegenheitpartien« anboten, um ihren Häusern ein allzu großes Risiko zu ersparen? Kaum wagte er es, seinen Verdacht abzuwehren, etwa mit dem schwachen Troste, daß der Onkel, wenn auch durch seinen Austritt aus der Niederdeutschen Bank geschädigt, schon durch seine kluge Vereinigung mit dem stadtkundigen Millionär Heller seinen Privatkredit wieder gehoben habe. Und wenn er unsicher stand, so konnte der Schwiegervater ihn und seine Spekulationen und die Firma Lenz leicht über Wasser halten.

Übrigens war auch der Kommerzienrat nicht ganz zufrieden. Die Weberei konnte noch immer nicht in Betrieb gesetzt werden, weil die englischen Maschinenfabriken mit der Lieferung der Webstühle im Rückstande waren. Allwöchentlich beklagte sich der ungeduldige Heller bei dem Generalkonsul, aber dieser war immer mit guten Gründen bei der Hand. Wichtige Erfindungen und Entdeckungen seien in England gemacht worden, die den Webstühlen noch zu gute kommen sollten, der englische Kurs stehe gegenwärtig ungünstig, so daß eine spätere Regulierung große Vorteile brächte u.s.w. Bald darauf erhielt jedoch Hans die richtige Erklärung für all diese sonderbaren Vorkommnisse. Er traf eines Tages Schwarzbach, seinen ehemaligen Kollegen von der Niederdeutschen Bank auf der Straße an, und da er ihn seit längerer Zeit nicht mehr im Kontor seines Onkels getroffen hatte, ohne daß dieser vielleicht nur zufällige Umstand ihm aufgefallen wäre, so fragte er ihn, wie es im Geschäft ginge. Der Buchhalter sah ihn groß an, wobei sein Höcker sich ebenfalls zu dehnen und zu recken schien.

»Bei der Niederdeutschen?«

»Welche Frage! Bei uns, meine ich, also in der Firma Johannes Lenz & Komp. oder meinetwegen v. Lenz Separatkonto.«

»Das weiß ich nicht.«

»So überdiskret?« fragte Hans lächelnd. »Nun, ich will Sie auch gar nicht zu einem Vertrauensmißbrauch verleiten, trotzdem ich als Mitinhaber der Firma das unbestreitbare Recht hätte, von Ihnen jederzeit Aufklärung zu fordern.«

»Sie irren, Herr Lenz, ich bin nicht mehr im Kontor des Herrn Generalkonsuls, sondern längst wieder bei der Niederdeutschen Bank angestellt.«

»Also ausgetreten?«

»Nein, ausgetreten worden,« witzelte der Buchhalter. »Sollten Sie wahrhaftig nicht wissen, daß der Herr Generalkonsul mich Knall und Fall entlassen hat, als wäre ich ein Defraudant?«

»Kein Wort wußte ich davon,« versicherte Hans. »Nun, mein Onkel hatte auch gar nicht nötig, mir davon Mitteilung zu machen, denn Sie gehörten zu seinem Privatkontor, zum Separatkonto und dem Generalkonsulat, indessen ...«

»Und wollen Sie den Grund meiner Entlassung wissen?« unterbrach ihn der Kleine eifrig. »Wenn Sie sich an ihn wenden, wird er Ihnen gewiß was vormunkeln von Unpünktlichkeit, vielleicht gar von Unredlichkeit. Sind aber alles faule Fische.«

»Ich kenne Sie schon lange, Herr Schwarzbach,« sagte Hans mit Wärme, »und ich weiß, daß Sie einer Unredlichkeit nicht fähig wären.«

»Herzlichen Dank für diese kollegialische gute Meinung. Ich bin aber gerade zu ehrlich, und sehen Sie, das paßt dem Herrn Onkel nicht.«

»Erklären Sie sich deutlicher.«

Nun begann der Buchhalter ein langes Klageregister aufzuziehen. Gewiß, der Herr Konsul sei ein gutmütiger Mann, auch großmütig, aber er achte keinen Menschen und benutze und mißbrauche sie alle. Der richtige Spekulant. Dabei keine Arbeitkraft im eigentlichen Sinne. Der geringste Brief mache ihm Mühe. Ganze Vor- und Nachmittage verliere er mit dem Lesen von Zeitungen und Kursblättern und dem Empfange schwatzhafter Agenten, die ihn umscheicheln und ausbeuten, komme aber der Feierabend für ordentliche Kaufleute, so fange bei ihm die Arbeit an. Dann heiße es bis in die Nacht Briefe schreiben, Rechnungen ausziehen und mit leerem Magen auf seinem Posten stehen. Das habe den Kommis zuletzt mißmutig gemacht, und im Zorn habe er sein Herz erleichtert. Ein Wort habe das andere gegeben, wobei er allerdings die schuldige Achtung verletzte und ihm zuletzt sein Sündenkapitel herunterlas. Dies habe den Chef so verletzt, daß er ihn sofort ausbezahlt und unter dem cynischen Vorwand: sein Buckel bringe ihm ohnehin kein Glück mehr, entlassen habe.

»Aber was konnten Sie ihm denn für große Sünden vorwerfen?« fragte Hans. »Der Onkel mag ein Spekulant sein, ist aber ein Ehrenmann.«

»Ein Ehrenmann, der seinen alten treuen Angestellten, den er bis aufs Mark ausgenützt hat, entläßt?« rief der Buchhalter aufgebracht. »Und ist das ehrlich, wie er gegen die Spinnerei handelt? Ganze Schiffsladungen Baumwolle hat er aufgekauft, aber für Ihre Fabrik bringt er kaum ein paar elende Bällchen zusammen, und auch die sind oft von befreundeten Firmen zur Aushülfe geborgt. Und wissen Sie, warum die Webstühle nicht kommen? Weil die Herren Engländer mißtrauisch geworden sind und nur noch gegen bar liefern. Da aber das Geld bei ihm knapp geworden, so muß der Herr Schwiegerpapa warten.«

»Nun, mein Onkel würde da gewiß Rat wissen und sich einfach an den Kommerzienrat wenden.«

Herr Schwarzbach lachte laut auf. »O, den hat er für dringendere Dinge nötig, auch ist dessen Kredit wahrlich schon nach Kräften ausgenutzt.« Und da Hans ihn groß ansah, brach er los: »Aber wissen Sie denn nicht, daß das ganze Vermögen des Kommerzienrats dem Konsul in die Finger geraten ist? Die Million der Mitgift und alle anderen! Erst lockte er sein Geld als Depot und zur sicheren Anlage in einheimischen Papieren heraus, aber das Börsenspiel und der Ankauf der Villa verschlangen das meiste. Die Fabrik, die Maschinen, die Grundstücke, Ihre Villa, alles ist mit Hypotheken bedeckt. Von den Garnagenten hat er sich sogenannte Gefälligkeitsaccepte geben lassen, um Wechselreiterei zu treiben. Für diesen Liebesdienst ziehen sie ihm wieder die Haut über die Ohren und verkaufen Ihr schönes Garn zu Schleuderpreisen. Und er gibt es um jeden Betrag her, wenn er dafür nur bare Anschaffung in die Hand bekommt. Ja, sogar das Geld für die Zahltage mußte ich mir oft in letzter Zeit bei seinen Freunden und Bekannten und allerlei Wucherjuden zusammenbetteln.«

Hans flimmerte es vor den Augen, und er mußte sich an einer Mauer halten. »So schlimm wird es nicht sein,« stammelte er, nur um etwas zu sagen. »Aber ich werde den Onkel zur Rede stellen.«

»Thun Sie's, jedoch wird er Ihnen auch reinen Wein einschenken?«

»Ich kann jederzeit einen Status verlangen.«

»Das bestreite ich nicht, aber er wird Sie hinhalten und Ihnen bis zum letzten Augenblicke blauen Dunst vormachen. Und dann hat er ja eine so gute Entschuldigung! Ihr Schwiegervater war mit seinen Spekulationen einverstanden und Teilnehmer daran.«

»Kein Wort weiß er davon.«

»Daß alles verspielt ist, nein, aber daß er spielte, ja. Er setzte eben voraus, daß solch ein genialer Kaufmann nie verlieren könne. Und nun hat er den Schaden mitzutragen. Aber ich muß in mein Bureau. Herr Hubacher wird ohnehin Gift und Galle speien. Ach wenn die Konzerte nicht wären! ... Na, falls Sie meiner bedürfen, stehe ich zu Diensten, wie immer, Herr Lenz. Meine Hochachtung!«

Und damit verschwand er mit fliegenden Locken. Es dauerte eine Weile, bis Hans sich gefaßt und gesammelt hatte. Was sollte er nun beginnen? O, sein Weg war ihm vorgezeichnet! In mächtiger innerer Aufregung eilte er in der Sonnenglut nach der Voßstraße zu seinem Onkel.

Der Konsul saß auf seinem Sofa in halbliegender Stellung und stützte den Kopf in die Hand. Als er draußen Hans' Stimme hörte, sprang er auf und öffnete ihm die Thüre.

»Gut, daß Du kommst,« rief er ihm entgegen, »ich habe mit Dir zu reden.«

»Auch ich mit Dir, Onkel.«

Der Spekulant stutzte einen Augenblick bei dem ernsten Klange dieser Stimme, und als er in das blasse Gesicht sah, fühlte er ein menschliches Rühren, und er schüttelte dem Kummervollen die Hand. Er glaubte erraten zu haben, was ihn bedrückte, und so kam er ihm zuvor. »Es schwirren allerlei Gerüchte in der Stadt. Hast Du auch schon davon gehört, Hans?«

»Ja. Eben deshalb komme ich.«

»Wie steht es also in Wirklichkeit?«

»Das wollte ich Dich fragen.«

»Komische Antwort,« sagte der Generalkonsul lächelnd, »aber die Ehemänner sind überall dieselben.«

»Ich begreife nicht, wie Du mich als Ehemann mit Deiner Geschäftsleitung in Verbindung setzen kannst,« entgegnete Hans. »Wir bekommen keine Baumwolle mehr, die Webstühle liefert man uns nicht, das schwer erarbeitete Vermögen meines Schwiegervaters ist verspielt, die Fabrik und Villa überschuldet, und wir stehen vor dem Bankrott.«

Das schien dem Konsul überraschend zu kommen, und er wandte sich ab. Hans glaubte an seine tiefe innere Bewegung, und eine weichere Stimmung breitete sich über sein Herz. »Onkel,« sagte er innig, »ich bin nicht da, um Dir Vorwürfe zu machen und Dich in Deinem Unglücke zu schmähen, denn ich weiß, was ich alles Dir danke. Du warst mir wie ein zweiter Vater, hast immer mein Bestes gewollt und mir die Möglichkeit gewährt, die Ehre meines Vaters zu retten, und auch ihm, dem teuren Toten, warst Du ein treuer, liebender Bruder, aber dies alles muß ich mir vor die Seele rufen, wenn ich die Kraft finden soll, ruhig und freundlich mit Dir zu reden ... Onkel,« sagte er dringender, »jetzt ist keine Zeit zu Vorwürfen. Ich frage nicht, wie Du Hellers anvertraute Gelder wagen, wie Du alles, unser ganzes Glück und Vermögen auf eine Karte setzen konntest, ich bitte Dich nur, rette was noch zu retten ist ... ich will Dir helfen, Tag und Nacht arbeiten ... wir wollen den Kopf nicht verlieren ... und vor allem dem armen Alten nichts gesagt ... er würde diesen Schlag vielleicht nicht überleben.«

Während dieser leidenschaftlichen Rede des jungen Mannes hatte Lenz seine volle Geistesgegenwart und Willenskraft wiedergewonnen. Langsam zündete er seine ausgegangene Upman an und atmete ihren Duft ein.

»Es ist wahr, Hans,« sagte er mit einem treuherzigen Klang in seiner Stimme. »Ich habe schwer gekämpft. Die gesteigerte Produktion erforderte neue Absatzgebiete. Zu diesem Zweck habe ich Agenturen in der Provinz errichtet, um die Zwischenhändler zu umgehen und mit den Webern in unmittelbaren Verkehr zu treten. Schon beherrscht ja unser Charlottenburger Gespinst einzelne Plätze vollständig, verdrängt die englischen Garne und erschwert den großen sächsischen und rheinischen Fabriken den Berliner Wettbewerb. Freilich hat dieser direkte Verkehr auch seine Nachteile. Während der Händler für seine schlechteren Preise sofort Kasse oder Wechsel gab, verlangen die Weber auf fünf bis sechs Monat offene Rechnung. Und doch ist dabei die Fabrik konkurrenzfähig geblieben, ohne einen Bankkredit in Anspruch zu nehmen. Die Börse hat uns geholfen. Freilich nicht immer. In letzter Zeit hatte ich Pech, und so sind augenblicklich unsere Mittel etwas festgelegt. Indessen wenn man mir Zeit läßt, mich in meinen Kombinationen nicht stört ...«

»Schweige mir von Deinen Kombinationen!« brauste Hans auf, »sie bringen uns an den Bettelstab. Ich beschwöre Dich, gib das tolle Spiel auf. Nur die Arbeit rettet uns.«

»Das ist zu spät,« sagte er bestimmt. »Nur ein Coup rettet uns noch. Aber ich werde mich herausrappeln. Glänzend, sag' ich Dir. Ich plane etwas. Wenn es gelingt ...«

»Und wenn es nicht gelingt, sind wir verloren. Aber sind wir's denn nicht schon jetzt?«

»Kleingläubiger,« rief er, »glaube doch an mich, wie alle Welt!«

»Gerne wollt' ich es, aber ich habe kein Vertrauen mehr.«

»Dann störe mich wenigstens nicht. Das ist alles, was ich verlange. Ich weiß, es muß gelingen. Die Konjunktur ist günstig. Ich habe sichere Depeschen aus Amerika. Mehr sage ich nicht. Ich darf keinen Vertrauten haben, sonst geht es schief.«

Mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und ab, doch Hans vertrat ihm plötzlich den Weg. »Nein, nein, Onkel, ich kann Dich nicht ins Verderben rennen lassen, mit Deinem, mit unser aller Glück und Ehre! Noch einmal beschwöre ich Dich ...«

»Es ist zu spät,« sagte er und wehrte den Dränger ab. »Ich wage noch diesen letzten Zug, der uns retten muß.«

»Ich bitte Dich ...«

»Laß mich,« unterbrach er ihn heftig, »ich sage Dir's noch einmal.«

»Nein, sonst gestehe ich alles meinem Schwiegervater!«

»Schweig, Unglücklicher,« rief er aus, »und kümmere Dich um Deine Angelegenheiten ...«

»Onkel!« schrie Hans auf und faßte seine Hand.

»Wahrlich. Du hast Besseres zu thun, als mir die Ohren vollzujammern,« sagte der Konsul und riß sich los. »Jeder kehre vor seiner Thür. Auch Du. Namentlich Du. Als Ehemann, wie ich vorhin schon sagte. Wenn Du Dich mehr um Deine Frau und weniger um meine Geschäfte kümmertest, wäre uns beiden geholfen.«

Hans griff sich an die Stirn, eine Bewegung, die sein Onkel über die Zigarre weg nicht ohne inneres Vergnügen beobachtete.

»Was willst Du damit sagen?«

»Was ich Dir schon vorher sagen wollte, Hans, als Du mich mit Deinen Vorwürfen unterbrachest. Die ganze Stadt spricht schon davon, und das schadet nicht nur dem Ehemanne. auch der Firma, unserm Kredit! Du natürlich hast keine Ahnung von dem peinlichen Aufsehen, das es erregt, wenn man in allen Theatern, Konzerten, Zirkusvorstellungen immer Deine Frau in Gesellschaft meines Sohnes sieht. Ich habe Lothar schon ernste Vorstellungen gemacht. Er schwor mir, die Sache sei viel harmloser als sie aussehe, und versprach mir, sich zu bessern. Thue auch Du als Gatte das Deinige und lies Deiner Frau den Text. Und wenn gerade Deine Schwiegermama dabei ist, so kann sie einen Teil Deiner Vorwürfe abbekommen. Die verdrehte Schraube würde es verdienen, denn von ihr hat Wicky die kopflose Vergnügungssucht, und ihr magst Du es auch zuschreiben, wenn Du wenigstens vor der Welt in der immer lächerlichen Rolle eines betrogenen Ehemannes dastehst.«

Hans wirbelte der Kopf. Was sagte er da? Wer war betrogen? Er als Gatte. Er verbarg sein Gesicht in den Händen, und der Onkel fühlte etwas wie Mitleid, denn er legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte in herzlichem Tone zu ihm:

»Fasse Dich, Hans. Noch scheint es ja nicht schlimm zu stehen.« – Aber über seine Züge wetterleuchtete eine heimliche Schadenfreude: Und dieser arme Sünder wollte mein Richter sein!

In diesem Augenblicke krachte ein dumpfer Schlag. Beide sprangen auf, und vor der aufgerissenen Thüre lag die Frau Generalkonsul langhingestreckt. Sie hatte ohne Zweifel wieder gehorcht, und der Schreck über die heftige Auseinandersetzung hatte sie niedergeworfen. Onkel und Neffe riefen nach der Dienerschaft und richteten den gebrochenen Oberkörper auf, von dem der fahle, greise Kopf kraftlos herunterhing, aber die Augen waren weit aufgerissen und starrten mit furchtbarem Ausdruck auf Hans, der ihren Vorwurf verstand. Also auf solche Weise hielt er seinen Schwur! Statt zu ihrem guten Manne zu halten, nur Schelte, Drohungen, als wäre nicht für alle der sichere Ruin ohne ihn, den Großen, Herrlichen ... o die undankbare, schlechte Welt!

»Es geht zu Ende,« murmelte Lenz, als sie die Leblose auf das Sofa betteten und Hans nach dem Arzt eilte. »Mit ihr verläßt mich mein Glück!«


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