Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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IX.

Es war ein feierlicher Augenblick, als in der Morgendämmerung die Dampfpfeife das Zeichen gab, daß die Firma Johannes Lenz & Komp. wieder am Leben sei und ihr Tagewerk beginne. Der dumpfe Ton ging Hans, der am Thor neben dem Spinnmeister und Hitschold dem Einzüge der Arbeiter beiwohnte, durch die Seele.

»Blüh' und gedeihe!« sagte er leise vor sich hin, und sein Auge umspannte die hohe Front der Fabrik. Es war ihm, als hörte er aus dem brausenden Signal die Stimme seines Vaters, die ihn aufmunterte, frisch und wohlgemut ans Werk zu gehen.

Hoffnungsfreudig sah er die Arbeiter einziehen, und doch schnürte ihm bei ihrem Anblick eine tiefe Traurigkeit die Kehle zu. Alle, ob jung oder alt, hatten sie die blasse Gesichtsfarbe der Fabrikarbeiter. Die Männer waren wohl stark und nervig, aber sahen abgezehrt und schlecht genährt aus; bei mehreren hatte sich in der schlechten Fabrikluft und bei der anstrengenden Arbeit der Schwindsuchtkeim entwickelt, und hüstelnd gingen sie vorüber. Fast noch kläglicher sahen die Frauen aus mit ihren hohlen Augen und der eingefallenen Brust. Sogar junge Mädchen hatten die frische Gesichtsfarbe und freie Haltung verloren. Die Kinder waren zumeist verkümmerte Jammergestalten mit umränderten Augen und bleichsüchtigen Wangen, und wie viele hatte Hans trotz ihrer Thränen abgewiesen, indem er sich auf das Gesetz berief.

»Ich will Euch ein guter Herr sein und für Euch sorgen,« gelobt er sich in dieser feierlichen Stunde.

Mit dem schweren, schleppenden Tritte von Menschen, die Lasten heben oder, immer auf den Füßen, die Arbeit einer Maschine leiten und vervollständigen, gingen sie alle vorbei, in der Hand das Blechgefäß mit dem Kaffee und im Munde die Pfeife, die sie mit einem stummen Bedauern in einen eigens dafür bestimmten Kasten am Thor aufhingen, denn das Rauchen in den Räumen der Spinnerei war strenge verboten. Da kamen die Saalaufseher, die im Gefühl ihrer Würde dem Prinzipal mit einem Glückwunsche fast kollegialisch die Hand schüttelten, die Spinner und Mechaniker, die sich mit höflichem Lüften ihrer Mütze vorüberdrückten, die Arbeiterinnen, von denen die jungen schüchtern erröthend, die alten mit lautem »'n Mo'jen!« dem Herrn zunickten. Nur die Ansetzerburschen und Schlosserlehrlinge suchten in der Scheu ihrer Flegeljahre womöglich unbemerkt vorbeizuhuschen, während sogar der mürrische Schlosser-Nante, der im Rufe eines großen Sozialdemokraten stand, einen freundlichen Gruß brummte. Der lustige Kardenschleifer aber machte vor Hans einen Luftsprung und schrie langhinhallend: »Juhu!«

»Gottes Segen!« rief Fabian dem Chef zu, als er mit seiner Lene zur Arbeit ging.

»Wird sich schon machen,« gab Herr Hinnen-Lotz zurück, der zur Feier des Tages eine neue Troddelmütze aufgesetzt. »Nur jeder Mann auf seinem Posten, sonst ist es schon gefehlt.« Dann nahm er seinen Schreiber am Ärmel und zog ihn mit in die Spinnerei.

Und jeder Mann war auf seinem Posten, als plötzlich die Maschinen zu brausen und die Treibriemen zu schwirren begannen, daß das ganze Gebäude zitterte. Die Hausknechte Zobel und Janko rollten die schweren Baumwollballen aus dem Magazin über den Hof, schoben sie mit Hilfe ihrer kurzen eisernen Haken auf den Aufzug, und Lux, der am oberen Ende stand, drückte auf den Hebel der Transmission, worauf der Holzwagen leicht und sicher auf der Rollbahn in den ersten Stock emporgezogen wurde. Von dort in den Vorraum des Battage waren nur zwei Handgriffe nötig, um die Ballen zur Stelle zu schaffen. Hinnen-Lotz, sein geheimnisvolles Taschenbuch in der Hand, verglich unter vielen unnötigen Schimpfreden die Zeichen der Ballen mit der Faktur und ordnete dann die Öffnung an. Die Eisenreifen wurden zerschnitten, daß sie klirrend zu Boden sprangen, und bald quoll aus der aufgetrennten Hülle in Flocken und Knäueln die Wolle heraus, nur dort, wo die Verpackung beschädigt war, grau und schmutzig und je weiter dem hartgepreßten Inneren zu, um so milchiger und weißer. Der Spinnmeister tauchte den ganzen Arm in die weiche, warme Masse, prüfte zupfend den Stapel, fluchte über den vielen Staub und die schwarzen Samenkörnchen und rief ärgerlich: »Hundware!«

Indessen der gewaltige Oberbefehlshaber der Arbeiterarmee, der sich gar zu gerne »Direktor« nennen hörte, die ägyptische, amerikanische und ostindische Baumwolle prüfte, die Mischung für das Gespinnst berechnete und dann die Spinnstühle unter Beihilfe des Mechanikers regulierte, hatte sich in seinem Bureau der pferdekundige Hitschold am Stehpult postirt und versah die neuen Bücher, die auf der ersten Seite das übliche »Mit Gott!« trugen, mit schönen Rundschrifttiteln: Liegenschafts-Konto – Baumwoll-Konto – Kapital-Konto – Garn-Konto – Betriebs-Konto ... Er schritt auch wohl ungeduldig zum feuerfesten »Arnheim«, wie um nachzusehen, ob er sich in der Zwischenzeit nicht von selbst gefüllt habe. Nur wenn er von draußen ein Wiehern oder Trappeln vernahm, sprang er eilig ans Fenster, oft mitten aus der längsten und schwierigsten Addition heraus, denn für die Pferde hatte er immer Zeit. Leider wurde ihm diese willkommene Unterbrechung selten zu Theil, denn die Charlottenburger Chaussee und Brücke mit ihrem Hin und Her von Pferden und Wagen war von hier aus unsichtbar, so daß ihm nur die wenigen Rollfuhrwerke und die Pferdebahn blieben, die am Thor vorüberklingelte, das blanke Koupee des nachbarlichen Freiherrn Von Berlow mit seinem alten Schimmel und die schweren Mietgäule der Spinnerei, wenn sie Baumwolle vom Güterbahnhof holten oder Garnladungen fortschafften. Schon nach einigen Wochen war er imstande, sämtliche Pferde der Nachbarschaft mit ihren Kutschern an dem Getrappel oder Peitschenknallen zu erkennen, was ihn freilich niemals davon abhielt, ans Fenster zu eilen und dem entschwindenden Fahrzeug einen prüfenden und fast wehmütigen Blick über seine Brille hinweg nachzusenden. Sonst fehlte es ihm wahrlich nicht an Beschäftigung. Er setzte die Liste der Arbeiter auf, trug die Spinnberichte der Saalaufseher für die sonnabendliche Löhnung ein, verwaltete die Krankenkasse und Sparbücher, und bis zum Überdruß oft kam Herr Hinnen-Lotz in die Schreibstube, um ihn und den Lehrburschen mit geschäftlichen und anderen Fragen zu behelligen. Seine üble Gewohnheit, die neue Mütze auch hier auf dem Kopfe zu behalten und niemand zu grüßen, gewöhnte ihm Hans bald ab, indem er sich einfach solche Unhöflichkeit verbat.

»Aber Herr Lenz, wozu die Umstände?« wandte der Spinnmeister mit erstauntem Lächeln ein, »der Konrad Hitschold ist ja nur mein Schreiber.«

»Das ist mir neu. Herr Hinnen,« lautete die Antwort. »Ihr Reich geht über die Arbeitsäle nicht hinaus, und unser Buchhalter und Kassierer ist Ihnen vollkommen gleichgestellt. Er steht nur unter meinem Kommando, wie Sie übrigens auch.«

Der Spinnmeister war wie vom Donner gerührt. Kam er denn nicht gleich nach dem Herrgott? Nein, so viel Entschiedenheit hätte er wirklich von dem jungen Herrn nicht erwartet. Er ließ sich von nun an seltener im Kontor sehen. Dafür wählte er die mechanische Werkstatt in seinen freien Augenblicken zum Tummelplatz seiner sich langweilenden Laune. Da war wenigstens die Luft besser, als in den nach Maschinen- und Brennöl riechenden und von Baumwollstaub durchwirbelten Spinnsälen. Hier konnte er dem unheimlich schweigsamen Schlosser-Nante zusehen, der einen alten Banc-a-broches zu reparieren versuchte und so flink am Amboß, Schraubstock und Blasebalg hantierte, oder dem Cylindermacher, dem immer freundlichen Chemnitzer Fabian. Sein frommes und poetisches Gemüt war dem praktischen Schweizer zwar nicht entfernt wahlverwandt, da er jedoch die meist recht groben Stachelreden und Witze des Spinnmeisters gutmütig belächelte, auch wenn sie ihn selbst zur Zielscheibe nahmen, so vertrugen sich beide ganz gut mit einander. Gerne sah Hinnen dem fingerfertigen Manne zu, wie er die Stahlwalzen der Laminierstühle mit festgeklebten Streifen von Ledex oder geriffeltem roten Plüsch bekleidete, so daß der Baumwollfaden ohne harten Druck dennoch gepreßt wurde. Es war eine stille, friedliche, beschauliche Ecke in der geräuschvollen Spinnerei, wo man sogar das Ticktack der Schwarzwälderuhr vernahm und die kleine Lene geräuschlos ihre Hülsen drehte, und der Eidgenosse ließ hier seine Nerven ausruhen, wenn er überhaupt deren besaß. Die Bilder, womit der sinnige Fabian seine Wände beklebt, kannte Hinnen-Lotz bald auswendig, und sie verfolgten ihn schon bis in seinen Schlaf. Der »Klopfstock« und namentlich der Schiller fesselten ihn, aber warum trug der Mann nur so unbequem lange Haare? ... Auch der Kleistertopf, der nach frischgekochtem Leim duftete, zog ihn magisch an, und nie versäumte er daran zu riechen, wobei er immer behauptete, die »Pappe« sei sauer geworden, schmecke nach Scheidewasser und klebe nicht mehr.

»Die Mappe ist famos,« bekräftigte Fabian auf gut berlinisch, und ob es richtiger »Mappe« oder »Pappe« hieß, das war der tägliche Zankapfel zwischen den Beiden.

Übrigens weilte der Spinnmeister auch in der eigentlichen Spinnerei. Am liebsten im Haspelsaal, wo einige niedliche Berliner Blondköpfe ihr Garn mit flinken Händen aufhaspelten, und bei den Vorspinnmaschinen, die nur von Arbeiterinnen bedient wurden, war er gleichfalls wie zu Hause und gerne gesehen. Die Weiber, besonders die freche rote Lise, lachten über seine plumpen Witze, und er war auch wirklich ein gar gemütlicher Patron. Den Männern und Kindern gegenüber gab er sich minder liebenswürdig, sondern kurz und streng. Besonders die Ansetzerburschen zitterten vor ihm. Wehe dem Kleinen, der sich unbeobachtet glaubte und mit Kameraden am Fenster plauderte, er wurde von dem scharfen grauen Auge, das so gerne durch die Gucklöcher der Saalthüren zu spähen pflegte, gewiß gesehen. Dann setzte es Ohrfeigen für die Jungen, Geldstrafen für den Spinner und Vorwürfe für den Saalaufseher.

Auch unten im Hofraume bei den Hausknechten gefiel es dem Spinnmeister. Das harmonische Zusammenarbeiten der drei Herkulesse hätte aber auch ein härteres Gemüt angesprochen. Besonders wenn es galt, die Ballen und Kisten auf- oder abzuladen, leistete das Kleeblatt in Takt und Schick das denkbar Beste. Eine wahre Akrobatenleistung. Zobel kletterte auf den Wagen, und Janko und Lux schoben den Ballen die Leiter hinauf oder hinunter, je nachdem, aber immer mit Eleganz. Sie hatten schon unter dem Vater Lenz so präzis zusammengearbeitet, daß es eine Lust war, und freuten sich jetzt, nach glücklich überwundenem Stillstand wieder zum gemeinsamen Tagewerk vereinigt zu sein. Dabei waren es gar keine Dutzendmenschen, sondern jeder war ein Original, an dem der Spinnmeister seinen Zeitvertreib und seine Freude haben konnte. Janko, ein schlauer, »polit'scher« Patron, war seines Zeichens Maurer und schwärmte noch jetzt von der schönen Handwerksburschenzeit, die ihn durch halb Europa führte. Er hatte etwas künstlerischen Sinn, der sich allerdings bloß in der symmetrischen Aufstellung der Baumwollballen und peinlichen Ordnung des Hofes bethätigte. Aber wenn er mit Pinsel und Farbtopf die Garnballen und Kisten mit der Fabrikmarke JL & K zeichnen durfte, tauschte er mit keinem Raphael. Der eigentliche Kraftmensch des Hofes war der langbärtige Berliner Koloß Zobel, der so stolz seine steife Soldatenmütze trug und Sonntags sein eisernes Kreuz. Ein gedienter Mann, hatte er alle drei Kriege mitgemacht, in Frankreich sogar seine Korporalschaft geführt, und war unerschöpflich, wenn er von seinen blutigen Erlebnissen erzählte. Nur Lux, den sie als ehemaligen Schneider hänselten, war still und wortkarg, hatte aber Wissensdrang und las viel. Er war der Gelehrte des Hofes. Stundenlang hätte Hinnen-Lotz bei den drei Gewaltigen sitzen können; leider hatte er unten nichts zu suchen, und Herr Hans that immer so unangenehm verwundert, wenn er ihn dort traf. Zu seinem Ärger war der Chef aber fast überall zugleich und nichts entging ihm. Eben kletterte er noch im Magazin zwischen Baumwollballen und Bobinenkisten herum, und schon einen Augenblick später stand er neben der ihre Hülsen drehenden Lene; glaubte ihn jedoch Hinnen-Loh bei den Mechanikern gelassen zu haben, so brütete er längst wieder neben Hitschold über den Büchern. Es war, als ob er die Rutschbahn durch alle Stockwerke für seinen Privatgebrauch verlängert hatte und nun unsichtbar mit Dampfkraft auf- und niederführe, um in alle Fenster zu steigen, durch alle Thüren zu gucken, an allen Mauern zu lauschen.

Täglich zur bestimmten Zeit ließ sich auch der Kommerzienrat in der Fabrik sehen, und jedesmal hatte er seine Freude an dem Eifer Aller. Sein Kommen verkündigte stets das Gehumpel einer Droschke zweiter Klasse; dann stürzte Lux heran, und ohne erst einen Blick durch das Gitterfensterchen im Thore zu werfen, riß er vor dem »Herrn Papa« den Thorflügel weit auf, indeß der Kutscher wieder leer zurückfuhr. »Der Herr Papa!« So nannte man den trefflichen Alten in der ganzen Fabrik, denn die Verlobung seiner Tochter mit dem »jungen Herrn« war sofort bekannt geworden. Und beliebt war der gute Fabrikherr! Alle grüßten ihn strahlend, denn für Jeden hatte er ein freundlich aufmunterndes Wort, und willig folgten sie seinen Winken.

An einem schönen Tage der ersten Arbeitwochen erhielt die Spinnerei den Besuch ihrer zukünftigen Herrin. Er war längst angekündigt, aber stets wieder verschoben worden, weil den Damen immer eine Verhinderung in die Quere kam. Jetzt ließ er sich nicht mehr vertagen, denn Mutter und Tochter reisten für einige Wochen nach Helgoland. Gleich nach ihrer Heimkehr sollte die Hochzeit stattfinden.

So fuhr denn eines Abends die Familie Heller im neuen Landauer vor, den der Kommerzienrat nebst zwei Isabellen zu diesem feierlichen Anlaß hatte anschaffen müssen. Zobel öffnete das Thor und salutierte militärisch, und der herbeigeeilte Hans hob seine Zukünftige aus dem Wagen. Die Damen in hellen Toiletten mit knallroten Sonnenschirmen sahen sich den Hof und die unsauberen Hausknechte durch die Lorgnette an, worauf unter Hans' und Hellers Führung der Gang durch die Spinnerei angetreten wurde. An der Thüre zum ersten Saale prallten sie aber schon zurück.

»Welche Luft, lieber Schwiegersohn!« rief Frau Viktoria naserümpfend. »Könnte man nicht die Fenster öffnen?«

»Sie sind schon offen,« erwiderte Hans, »aber der Ölgeruch haftet dem Boden, den Wänden, den Maschinen an und läßt sich nicht austreiben.«

»Schrecklich!« rief sie. »Und dann die Ausdünstung von all den Menschen in Negligé. Die meisten tragen ja weder Schuhe noch Strümpfe!«

»Entschuldige, Mutter,« warf Heller etwas ärgerlich ein, »aber in einer Fabrik kann es nicht nach Kölnisch Wasser riechen.«

Nun waren sie neben dem eisernen Wolf, vor dem ein Arbeiter den Inhalt der Baumwollballen zusammenraffte und seitwärts in eine klaffende runde Öffnung warf. Heller erinnerte sich, wie still damals bei seinem ersten Besuche dieses Ungetüm dagestanden, und jetzt stöhnte, stampfte und wirbelte es in seinem Bauche, wo die Verdauung der Baumwolle blitzschnell vor sich ging. Die Damen hielten sich die Ohren zu, und Hans lächelte.

»Das ist der Opener,« erklärte er seiner Braut. »Seine Schläger fassen die Baumwolle und schleudern sie so gewaltsam hin und her, daß aller Staub herausgeklopft und nach dem Thurm ins Freie gejagt wird. Zwölfhundert Umdrehungen in der Minute.«

Doch die Damen verstanden ihn offenbar nicht, denn sie hielten sich noch immer die Ohren zu, weshalb er nur pantomimisch auf den entgegengesetzten Kanal zeigte, wo die gereinigte Baumwolle locker und blank ausgespieen wurde. Allein Mutter und Tochter flüchteten sich abseit zwischen die riesenhaften Flockmaschinen, auf die sie kaum einen flüchtigen Blick warfen. »Der Schläger macht in der Minute fünfzehnhundert Umdrehungen,« erklärte Heller, »und die Baumwolle kommt mehrmals unter die Preßwalzen, Siebtrommeln und Schlagvorrichtungen. Da seht, wie aus der Baumwolle schon eine regelmäßige Watte geworden ist.«

Die Damen näherten sich vorsichtig der Dupliermaschine, und Heller schlug mit der flachen Hand auf die langsam sich abrollende Wolle, die einem grauen Tuche zu vergleichen war. Dann gingen sie weiter.

»Achtung auf das Triebrad!« rief Hans, um die Damenkleider vor der schnurrenden Transmission zu bewahren, die schleifenförmig vom Boden bis zur Decke ging. »Was von diesem Rad erfaßt wird, reißt der Treibriemen nach oben.«

»Und muß man dann sterben?« fragte Wicky ihren Bräutigam und schmiegte sich ängstlich an ihn. Das etwas geziert Kindliche stand ihr sehr gut.

»Zum mindesten wird man ein Krüppel.«

»Entsetzlich!« riefen die Damen wie aus einem Munde, rafften ihre bauschenden Röcke zusammen und drückten sich scheu vorüber. Sie hatten kein Auge, keinen Sinn für die Grüße dieser Umgebung: wie die Dampfmaschine ihre riesigen Kräfte durch den ganzen Raum ausströmte, Dutzende von schweren Maschinen und Hunderte von Menschen in Atem und Bewegung hielt; wie die scheinbare Unordnung planvoll und zweckmäßig war und der Betrieb exakt ineinander griff, und wie die hereinfallende Sonne die kreisenden Räder und diese armen Menschen und sogar all den Schmutz vergoldete. Erst als die Damen draußen waren, atmeten sie auf. Lachend eilte der alte Heller ihnen voran und die Treppen so schnell empor, daß die Gesellschaft kaum zu folgen vermochte. Er öffnete die abgegriffene, ölige Thür, und nun standen sie in der Karderie, deren große, breite Maschinen in langsamer, stiller Thätigkeit waren. Die sie bedienenden Männer, die das Abnehmen und Wenden der Wolle besorgten, standen auf erhöhtem Podium, um durch den aufgeschlagenen Deckel den Gang des Kratzwerkes beaufsichtigen zu können. Aber Heller selbst zog fast beschämt die Zuschauerinnen fort und entschuldigte sich für die alten, aber sonst noch tüchtigen Maschinen.

»Da seht Euch lieber die englischen Walzenkarden an,« rief er stolz, als sie an den blitzblanken Maschinen vorübergehen wollten. Namentlich Wicky sah nun mit Verwunderung, wie gleichmäßig sich die Walzen und Wender, die Wolle kratzend und zupfend, über der großen Trommelwelle drehten, wie die Planeten um die Sonne, und Hans schleppte einen neuen Kardenbogen herbei, an dem er das System von hakenartigen Drähten zeigte, welche, nach rechts bewegt, die Wolle so lange kämmen und kratzen, bis diese sich gereinigt und gelockert in ein äußerst zartes Vließ verwandelte.

»Hier ist die Baumwolle ein Band geworden,« sagte Heller, und zeigte auf den Trichter einer anderen Maschine, aus dem ein weißes Band spiralförmig in ein langes, schmales Blechrohr niederfiel.

»Reizend!« riefen Mutter und Tochter, aber als ihr Gatte und Vater ihnen noch an den Nebenmaschinen zeigen wollte, wie dies Band auf den Laminierstühlen gestreckt wurde, um den Fasern eine vollständig gleiche Lage zu geben, und wie die Maschine von selber stillstand, sobald ein Band riß, da war ihr Interesse schon wieder verflogen. Wicky sprach an dem Arm ihres Bräutigams von den Stadtneuigkeiten, und ihre Mutter gähnte verstohlen. Nicht einmal vor den neuen Mulemaschinen wollten sie länger verweilen. Zwar setzte Heller ihnen auseinander, wie auf dem doppeltgebauten Stuhl das Garn von den Spulen und hundertzwanzig Spindeln 3600 bis 4500 mal in der Minute gedreht und dann gewickelt wird, als er sich indes nach seinen Zuhörerinnen umwandte, sah er mit großem Ärger, daß nur Frau Mila, die Mutter des kleinen Hugo, lächelnd neben ihm stand.

»Ein unausstehlicher Lärm!« rief draußen zu ihrer Entschuldigung Frau Viktoria. »Man versteht ja sein eigenes Wort nicht.«

Besser gefiel es ihr bei den Hasplerinnen, wo keine Maschinen, keine Ölflecken, keine barfüßigen Männer mit bloßer Brust, sondern nur Frauen und Mädchen waren, die neugierig nach der »Millionenbraut« guckten, und in Fabians stillem Winkel.

»Was machen Sie da?« fragte Wicky die sie von der Seite betrachtende Lene, die über ihren Tisch gebeugt saß.

»Röhrchen.«

»Aha!« machten die Damen. Sie waren zwar so klug wie zuvor, aber es war ihnen langweilig, sich über eine gleichgültige Sache belehren zu lassen. »Ich dächte, wir schenkten uns das übrige,« erklärte Frau Kommerzienrat, als sie nach Luft ringend in den Treppenflur hinaustrat. Darob große Entrüstung ihres Gatten. Gerade die Selfaktorsäle seien das Interessanteste. »Damit wir uns unnötig schmutzig machen?« versetzte sie. »Nein, ich danke schön, wir haben genug Fabrikstaub geatmet.«

Auch Wicky war dieser Meinung. Sie hing sich schnell an Hans' Arm, und so gingen sie über den Hof.

»Aber Eines sei Euch nicht geschenkt!« sagte Heller. »Ich muß Euch notwendig meine Hexenküche zeigen.« Und mit gemütlichem Lächeln drängte er sich zwischen die Damen, faßte eine jede von ihnen am Arm und zog sie zum Kesselhaus. »Sie ist eben erst fertig geworden, und Ihr könnt sie gleich einweihen.«

Hans folgte, denn er war begierig zu erfahren, was der Schwiegerpapa in den letzten Tagen mit Maurer und Schlosser so Geheimnisvolles geschaffen hatte, daß selbst ihm der Eintritt verwehrt worden war. Sie kamen in das Maschinenhaus, wo Heizer und Maschinist den gewaltig dampfenden Kessel umstanden und, vom roten Scheine der Esse überflammt, immer neue Kohlen in die Glut warfen. Scheu drückten sich die feinen Damen an den rußigen Gesellen und von Öl und Wasser triefenden Maschinen vorbei, die sämtlich neu und verstärkt waren, um auch die elektrische Beleuchtung zu liefern, und folgten dem Papa in einen frisch ausgemauerten kahlen Nebenraum, dessen Wände von Feuchtigkeit glänzten. Aus der Mitte des zementierten Bodens spritzte plötzlich auf einen Druck plätschernd ein heißer Springbrunnen empor, dessen brodelnder Dampf bald den engen Raum mit einer feuchten Wolke erfüllte.

»Abscheulich!« rief Frau Viktoria, indem sie ihr Kleid zusammenraffte und laut kreischend entfloh, gefolgt von der ihr Beispiel nachahmenden Tochter und den beiden lachenden Herren. Draußen in der frischen Luft schnappte sie auf, aber sie war über den Scherz ihres Mannes außer sich, denn der feine Wasserstaub hatte ihr und Wicky die frisch gebrannten Stirnhaare durchtränkt, so daß sie in steifen Strähnen auf die Augen hingen, was nicht geringen Verdruß bereitete.

»Nein, das war kein Scherz,« versicherte Heller, »sondern etwas sehr Ernstes, Wichtiges, das größte Geschäftsgeheimnis der Firma Johannes Lenz A Komp. Hier wird das Garn feucht und schwer gemacht, bevor man es verpackt. Es ist weniger des unbedeutenden Gewichtes wegen, das man dabei gewinnt, als weil das angefeuchtete Garn schöner aussieht und sich besser hält. Ihr werdet von Betrug reden, aber ich kann mich damit entschuldigen, daß es in allen Spinnereien geschieht.«

Die Damen achteten kaum auf seine Erklärung, sondern strichen sich die feuchten Bänder und Rüschen glatt und eilten ins Freie. Nur Hans schüttelte sinnend den Kopf. Der brave, rechtliche Schwiegerpapa lobte also diesen zweifelhaften Geschäftskniff, der durch den Hinweis auf die allgemeine Übung wahrlich nicht besser wurde. Aber was war denn das ganze Kaufmannsgewerbe anderes als die Kunst, den Käufer zu übervorteilen? Ein Ekel vor seinem Lebensberuf erfaßte ihn. O wie viel schöner und reiner war doch die Kunst!

»Einmal und nicht wieder!« sagte Frau Viktoria. »Mit diesem Gelübde schloß ich meinen ersten und einzigen Fabrikbesuch in Burtscheid. Ich meine, Wicky, Du wirst ihn hier erneuern.«

»Gewiß, Mama,« sagte das Fräulein und öffnete ihren roten Schirm vor der Sonne. »Mir wurde in diesem Lärm ganz schlimm. Und dann das Wirbeln von Baumwollfasern in der Luft! Sie setzen sich einem in die Lunge. Da ersticke ich schon wieder!«

Vater und Mutter beeilten sich, ihrem krampfhaft hustenden Töchterchen den Rücken zu klopfen. Gottlob, der Anfall ging vorüber.

»Armer Hans!« sagte Wicky, mit einem zärtlichen Blick, als sie sich erholt hatte. »In solcher Luft leben zu müssen!«

»Man gewöhnt es sich.«

»Es wäre mein Tod!« rief sie tragisch.

Sie waren aus dem Kesselhause getreten und um die ganze Spinnerei gekommen. Nun standen sie unvermerkt auf einer seltsamen Wiese, deren Gräser, Blumen und Büsche weiß waren. Wicky bemerkte dieses Naturwunder mitten in ihrem Geplauder und blieb vor Erstaunen stehen.

»Der Staubturm,« sagte Hans und zeigte auf ein altes windschiefes Gartenhäuschen mit geschlossenen Läden, aus dem es wie feiner Schnee flog. Und der weiße Staub und alle die Fasern und Flocken, die der Wolf fortgewirbelt, fielen hier mitten in die blühende und grünende Welt und bedeckten alles Leben mit ihrem weißen Gespinnst. Und während Wicky hustend forthüpfte, dachte Hans unwillkürlich, daß dieser Staub auch seine Natur ersticken werde.

Jetzt standen sie vor dem Wohnhause, das die Damen zu besichtigen wünschten. Es war von seinem Vater zwar nur einstöckig, aber größer gebaut worden, als für seine und seines Sohnes Bedürfnisse nötig war. Er wollte Hans jung verheiratet sehen, damit an die Stelle der alten, bequemen Haushälterin eine jugendfrische Frau einziehen sollte. Die Einrichtung war einfach, jedoch wohnlich und bequem, und sein eigenes Zimmer hatte Hans zu einem Sanktuarium gemacht, in das die Prosa und der Lärm und Schmutz der Fabrik nie eindringen sollten. An den Wänden sah man die vorzugsweise musikalische Bücherei und in einer Nische hinter dem Schreibtische das Bild seiner Mutter und die Gipsbüste Beethovens.

Die beiden Damen fanden die Räume beschränkt und die Einrichtung altmodisch und verblaßt, was Hans ein wenig kränkte. Vor dem Bildnisse seines Vaters im Salon rümpfte Frau Viktoria die Nase, denn sie wurde nicht gern an den bankbrüchigen Verwandten erinnert. Überhaupt machte ihnen das ganze Haus einen zu junggesellenhaften Eindruck. Erst als sie in das Eßzimmer traten und einen blumengeschmückten Tisch sahen, auf den Frau Fabian bereits Kaffee und Kuchen gestellt hatte, heiterten sich ihre Mienen auf. Leider fand der Kaffee keine Gnade vor ihrem verwöhnten Geschmack. Sie erklärten einstimmig, er rieche nach Öl. Frau Fabian, die eigens eine frische Spitzenhaube angezogen, ärgerte sich sehr darüber.

»Um Vergebung, das ist Viersträhniger,« sagte sie, »und kein sächsischer Blümchenkaffee, der vor Schwäche nicht allein aus der Kanne laufen kann.«

»Wir haben noch die Fabrikluft in der Kehle,« erklärte Wicky begütigend.

Sie erhoben sich von den Stühlen und traten ans Fenster. Eine freudlose Aussicht, eine trostlose Gegend! Der Fabrikhof mit seinen Holz- und Kohlenhaufen, Frau Fabians Gärtchen mit ein paar Blumen und etwas Suppengrün, und dahinter die gelbe Sandfläche der Jungfernheide. Noch war es Sommer, aber alles gemahnte an den Herbst, die nebelige Luft, das dampfende Wasser, der frische Wind, der die graue Rauchsäule des Fabrikschlotes zerriß. Drüben mitten zwischen den öden Bauplätzen der Sandwüste hatte man ein kleines Kartoffelfeld angelegt, ohne Zaun und offen für Wind und Diebe, und tiefgebeugte Männer und Frauen gruben die schmutzigen Knollen aus der harten, gelben Scholle; langsam rückten sie vor, und noch langsamer füllten sich die Säcke hinter ihnen. Am anderen Ende wurde der Acker umgepflügt und wieder besät, und schon erhoben sich bräunliche Spitzen aus dem sauber mit der Egge gekämmten Boden. Abseits stocherte ein altes Mütterchen auf einem Schuttlager nach Papier, Blech, Holz und sonstigen verwendbaren Schätzen, und drei laut krächzende Raben sahen ihr flügelschlagend von einem geborstenen Baumstamme zu ... Wicky fühlte etwas von der Schwermut dieser Landschaft in ihr Herz ziehen und wandte sich gelangweilt ab, doch ihre Mutter hatte dort unter der versinkenden Sonne zwischen den grünen Erlen ein freundliches Haus entdeckt und zeigte es ihr.

»Wem gehört jene reizende Villa?

»Baron von Berkow,« antwortete Hans seiner Braut.

»Dem Vater Deiner neuen Kousine?« fragte sie ihn mit einem eigentümlich forschenden Blick. »Richtig, sie war ja Deine Nachbarin, erzählte sie mir auf der Rennbahn.« Hans schwieg verlegen. Sie aber blieb träumerisch am Fenster stehen, während ihre Mutter sich in ihren Umhang hüllte, denn die Abende waren kühl und die Fahrt im Wagen lang.

»Die Wohnung ist zu klein und primitiv, Herr Schwiegersohn,« so faßte sie ihr Urteil zusammen. »Für den Anfang mag es ja genügen. Eine Hütte und ein Herz. Aber später, nach den Flitterwochen, müssen Sie bauen lassen, damit alles standesgemäß sei, oder eine Stadtwohnung nehmen.«

»Ach, dort drüben in der Villa wär' es freilich schöner!« seufzte Wicky.

Mit einem Seufzer endete dieser erste Besuch.


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