Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXI.

Hinter der Manege des Zirkus strömten in der Pause die Zuschauer zusammen, und die vier güldenen Riesenkronen des Amphitheaters warfen von der gewaltigen Kuppel ihr Flammenmeer auf leere Bänke und Sitze herab. Hinter der Brüstung des Kaiserpavillons, die mit dem von Genien getragenen Wappenschilde der Hohenzollern geschmückt war, zogen sich die hohen Herrschaften in den blendend erleuchteten Vorraum zurück. Auf der Musiktribüne waren die lustigen, schmetternden Märsche und Tänze verstummt, und die verlassenen Pauken, Posaunen und Klarinetten lehnten an den Pulten. Während die Reitbahn von den Dienern geharkt wurde, kreiste das Publikum in langsamem und oft stockendem Zuge durch die Stallungen, deren warme Luft der scharfe Pferdegeruch erfüllte. Aus ihrer Loge stiegen auch Lothar von Lenz und Wicky hernieder. Sie waren seit einiger Zeit unzertrennliche Zirkushabitués und mit dem Schauspiel vor und hinter der Manege gleich vertraut. Kaum eine Vorstellung dieses Winters hatten sie versäumt. Es war dem Dragonerleutnant gelungen, seiner nach weltstädtischen Sensationen lüsternen Begleiterin eine aufrichtige Turf- und Sportleidenschaft einzuflößen. Da Adelheid noch immer leidend war, fuhr er stets in ihrer Gesellschaft auf die Rennbahnen. Heller's Isabellen waren durch vier Harttraber ersetzt, Norfolker Zucht mit feingewölbten Rippen, muskulösem Vorarm und schönem, feueraugigem Kopf. Im Nu hatte Lothar seiner Kousine das Kutschieren beigebracht, und es war ihm eine Freude, wie stramm sie auf dem Bock die Zügel in den Händen hielt, nur dann und wann mit der Peitsche schmitzend, wie kunstgerecht sie die vier Tiere versammelte, den vorderen das Mundstück antrieb, den Stangenpferden die Leine gab. Kurz ein trefflicher four in hand-Kutscher. Ihre geschmackvoll einfache Eleganz erregte auch nicht mehr das Aufsehen aller Bummler, ihr Haar zeigte wieder sein natürliches Kastanienbraun, ihre Brillantohrringe waren für die Straße kleiner gewählt, sie trat mit mehr Zurückhaltung und größerer Sicherheit auf. Die Provinz hatte der Weltstadt Platz gemacht ... Darüber ging freilich ihre Gesundheit ganz zu Grunde. Ihre zarte Natur brach unter der Last der aufregenden Weltstadtfreuden und gesellschaftlichen Verpflichtungen zusammen. Vergeblich hatte sie ihr Gatte beschworen, sich dem wahnsinnigen Taumel zu entziehen, der sie aus einer Gesellschaft in die andere, von Bällen zu Soireen, von Konzerten in Theatervorstellungen hetzte, und auch die Warnungen ihres Arztes fruchteten nichts. Sie litt an Schlaflosigkeit, Zufällen, Schwindel, ihr ganzes Nervensystem war zerrüttet. Das Seebad hatte kaum eine Besserung gebracht, denn statt sich zu schonen und auszuruhen, setzte sie dort das gewohnte Leben fort. Dabei verfiel sie augenscheinlich, ein welker, kranker, vorzeitig alternder Zug erschien in ihrem Gesicht. Sie mußte wieder zur Schminke greifen, um wenigstens den Schein der verlorenen Jugendfrische und Gesundheit zu retten. Sogar dem flotten Dragoneroffizier wurde diese übertriebene Vergnügungssucht oft zur Last. Gewiß, er liebte ja ihre heitere Gesellschaft und zeigte sich gerne mit der eleganten jungen Kousine, der man so gar nichts Schlimmes nachsagen konnte, denn sie war ihrem ungeliebten Gatten ohne jeden Zweifel immer treu ... Ach ja, eigentlich ein komisches Mißgeschick, daß er da zwischen zwei so ganz und gar nicht weiblichen Weibern hin und her pendelte, wie ein platonischer Seladon, denn Wicky gab der Börsenamazone Leona an Tugendboldigkeit nichts nach. Nicht die geringste Unvorsichtigkeit, keine intimere Gunst, kein wärmerer Herzenston, – zwanzigstes Jahrhundert! Zum Glücke für ihn konnte er sich bei anderen erholen. Und war seine Adelheid nicht ein Engel, immer gleich an Sanftmut und Milde? Nur das Kindergeschrei vertrieb ihn von Hause. Zum Beispiel diesen Abend wieder.

Ein Gang hinter den Koulissen des Zirkus war fast interessanter, als das Schauspiel der Arena. Man traf im Stallgang ein merkwürdig gemischtes Publikum. Neben den Kavalieren in Uniform und Civil sah man zweifelhafte Gestalten mit gelbkarrierten Beinkleidern, blauen Halstüchern und roten Gesichtern, die sich auf Billet- und Pferdehandel gleich gut verstanden, und von denen niemand wußte, was sie eigentlich waren. Dazwischen Stallknechte mit ihren bunten Requisiten für die nächste Pièce und einige Künstler in ihrem Kostüm. Vornehme Damen kämpften um den Preis der Toiletten und Extravaganz mit leichtlebigen Fräulein. Kaum unterschied man noch die anständigen Frauen von den anderen und die Edelleute von den Seilspringern. Und da defilierten sie nun hinter der Elite des Pferdegeschlechts. Man sah feurige Trakehner, seidenglänzende Araber mit hundetreuen, menschenklugen Augen, schmal und edel gebautes Vollblut, die sechzehn arabischen Schimmelhengste, die sich vor ihrem Herrn und Meister auf die Hinterbeine stellen, die prächtigen Rappen zu den olympischen Spielen, Bim Baschi den Schaukler und Sophus das Springpferd, den alten bösen Treppenläufer Mahomed, der vor zehn Jahren seinem Dresseur die Hand durchgebissen, in einem besonderen Verschlage die leicht gefesselten galizischen Ponies Hans und Gretel, die in der Pantomime den Jubel der Kinderwelt erregen. Dann die Pferde der Miß Leona für die hohe Schule, die zwei Freiheitschimmel und das russische Dreigespann der im Schulritt nebeneinander gehenden Rappen. Aber Lothar und Wicky hielten sich nicht lang in den menschenüberfluteten Stallungen auf, doch bemerkten sie noch im Vorübergehen, wie vor dem Box des zuletzt gerittenen Pferdes ein Mann vor ihnen höflich zur Seite trat und tief grüßte.

»War das nicht unser Buchhalter?« fragte Wicky.

»Ja, der wird noch ganz zum Narren mit seiner Pferdemanie,« erwiderte Lothar. Und er hatte Recht, denn wer den langen Schweizer jeden Sonntag in den Ställen so herumrasen und das geringste Vorkommnis mit Kenneraugen beobachten sah, mußte ihn mindestens für einen Sonderling halten. Kaum war seine »Frau Prinzipalin« vorüber, so stand er wieder ganz tiefsinnig vor dem in Schweiß gebadeten Wallach, dem eben das Maul und die Nüstern gewaschen wurden. Er kannte sie alle, die herrlichen Tiere, und hatte immer die Taschen voll Zucker, den er die Woche hindurch von seinem Frühstück abgespart hatte. Wenn er an ihren Boxes vorüberging, drehten sie die Köpfe nach ihm um, und auch die Stalljungen kannten den komischen Herrn und ließen ihn gewähren, denn er that den Tieren nichts zu leide und warf jedesmal ein gutes »Trinkgeld für die Kutscher« in die Sammelbüchse. Nun sah er gespannt durch seine Brille zu, wie acht Burschen vom Stallpersonal den Körper des Renners mit sogenannten Schweißeisen rieben, daß die Schaumflocken nach allen Seiten herabrieselten. Dem Pferde machte die Massage Vergnügen, und es drehte sich wiehernd nach Hitschold um, der ein Stück Zucker aus seiner Tasche nahm.

Indes standen Lothar und Wicky vor der eisernen Treppe, die zur Garderobe der Artisten emporführte. Eine ältere Dame in schwarzem Seidenkleide, die Gattin des Zirkusdirektors, hieß sie einen Augenblick warten, da Miß Leona gleich erscheinen müsse. In der That wurden sie bald von der Schulreiterin begrüßt. Sie war bereits im Staat für ihre »Arbeit«: um die schlanke Figur das Amazonenkleid, auf dem hochblonden Haare den frischgebügelten Cylinder, eine weiße und rote Schicht über dem ganzen Gesichte, Schleppe und Gerte in der Linken.

» Good bye!« rief sie schon von weitem, schüttelte ihrer Helgoländer Freundin die Rechte und bot Lothar den kleinen Finger ihrer in gelben Stulpenglacés steckenden Hand. »Mehr kriegen Sie nicht, Sie Ungeheuer.« Der Reiteroffizier wollte sich über diese Mißgunst beschweren, doch da stürmte eine Alte aus der Garderobe und legte Leona den Otterpelzkragen auf die Schultern.

» Malheureuse,« keuchte sie, » tu veux donc t'enrhumer, hein

Wicky sah die in Rot und Blau gekleidete Dame gar nicht erstaunt an, denn sie war von ihr auf Helgoland zugleich mit Leona bemuttert worden und kannte ihre Eigenheiten. Ihr Mann hieß Frank oder Franke und war Leibkutscher eines entthronten deutschen Fürsten und später Stallknecht im Pariser Hippodrom, wo er die Parforcereiterin auf nacktem Pferde Leonie Delucheux von Mont de Marsan an der spanischen Grenze kennen lernte und heiratete. Als sie zu alt und ungeschickt für die Zirkusarbeit wurde, traten ihre mittlerweile herangewachsenen Töchter für sie ein, von denen Lorenzita später einen Pariser Sportman heiratete. Mit ihr, der jungen Leona, die Schulreiterin wurde, und den drei Söhnen, die Gymnastiker und Clowns und jetzt in England waren, bereiste die Alte nach dem Tod ihres Gatten jahrelang die Welt. Von ihrem Vater, der sich für einen Engländer ausgab, hatte Miß Leona ihr virtuos geradebrechtes Deutsch und Englisch, von ihrer Mutter einige spanische Brocken und ihr südlich angekränkeltes Französisch, sowie ihre Geldgier und Leidenschaft für das Spiel.

»Sie scheinen auf meinen Kousin sehr böse zu sein,« sagte Wicky, »daß Sie ihm sogar die shake-hand verweigern?«

»Natürlich, er ist ein Ungeheuer!« eiferte Miß Leona.

» Oui, oni, un monstre!« übersetzte die Alte unnötigerweise und ballte mit giftigem Blicke ihre Faust nach dem Leutnant.

»Was hat denn der Ärmste gethan?«

» M'en parlez-pas!« eiferte Miß Leona. »Er mag ja leidlich sein, aber sein Vater taugt nichts. Ja, Monsieur le Consul! Fauler Kopp, wie man in Berlin sagt. Während ich in Wien war, sind alle Papiere, die ich nach seiner Angabe kaufte, gefallen à faire peur. Fünfzigtausend Mark verspielt – ein Skandal!«

»Ereifern Sie sich nicht,« sagte Lothar etwas verlegen. »Ich verstehe zwar nichts vom Börsenspiel, und Papa ist längst nicht mehr Bankdirektor. Aber wenn Sie Verluste hatten, werde ich mit ihm reden ...«

»Reden ... reden!« unterbrach ihn die Alte ärgerlich. » ça ne suffit pas. Caramba, oui, vous êtes un monstre

Wütend eilte sie fort. Säbel und Sporen klirrten. Ein General und einige Reiteroffiziere nahten, von Lothar stramm salutiert. Im Nu war die angebetete Künstlerin umringt.

»Wohl eine Kollegin?« fragte der General Miß Leona, indem er Wicky freundlich anblinzelte, Lothar beeilte sich, sie vorzustellen. »Kousine!« rief der General erstaunt und unterdrückte ein Lächeln. »Verzeihung, gnädige Frau. Hatte, glaub' ich, schon auf der Rennbahn den Vorzug ...«

Die Sache stimmte, und so begrüßte man sich wie Bekannte. Aber Wicky empfand, daß sie neben ihrer Freundin zurücktreten mußte. Waren die Herren liebenswürdig und galant gegen sie, so widmeten sie der Schulreiterin eine wahre Verehrung. Und doch war ihre Unterhaltung, wenigstens wenn sie mit Herren sprach, nichts weniger als geistreich oder amüsant, und ihr Kauderwelsch, das sie sich angewöhnt hatte, trotzdem sie ein ganz gutes Deutsch sprechen konnte, fiel einem schließlich auf die Nerven. Erst lachte man darüber, dann ärgerte es einen. Oder war es das sittsam ernste Kostüm der Schulreiterin, was die Herren reizte? Wohl kaum, denn sie war überschlank, und in der äußeren Erscheinung stand sie der jüngeren Wicky nach. Oder die Künstlerglorie? Der Reiz ihres lebensgefährlichen Berufs? Das mußte es sein, dachte sie und beneidete die Reiterin um diesen schönen, reinen Triumph, an dem das Weib keinen Anteil hatte. Nur mit halbem Ohr hörte sie auf die lebhaft geführte Unterhaltung. Sie sprachen bloß von Pferden, dazwischen ein banales Kompliment für die Künstlerin, aber glühende Blicke schienen ihr eng anliegendes Kleid zu durchbohren. Also war es wieder nichts mit der abstrakten Anbetung. Und doch hatte die Klatschsucht nicht den geringsten Anhalt für böses Gerede. Dies Weib war ihr ein Rätsel.

»Die Herren entschuldigen,« sagte Miß Leona plötzlich. »Meine Nummer kommt zuerst.« Und zu Wicky gewandt: »Kommen Sie mit in meine Garderobe? Messieurs, die Direktorin hält scharfe Hauspolizei. Vielleicht erwarten Sie uns im Stallgang.«

Sprachs, wandte sich ohne weiteres und entführte Wicky. Der arme Lothar! So schlecht behandelte sie ihn, und doch dauerte ihre stadtbekannte Liaison schon drei Jahre. Auch seine Verheiratung schien nichts daran geändert zu haben. Obwohl er damals im Wagen versichert hatte, daß er Leona nicht liebe, konnte sie diese Anhänglichkeit nicht begreifen und war manchmal beinah eifersüchtig auf diese Reiterin gewordene Sphinx.

Sie stiegen die eiserne Treppe empor. Linker Hand sah man den schmalen Gang, zu dessen beiden Seiten sich zellenartig die Ankleidezimmer der Herrengarderobe befanden. Ein Geruch von Schminke, Öl, verbrannten Haaren und Leder erfüllte den Raum, vermischt mit dem beißenden, warmen Pferdegeruch, der hier alles durchdrang. Miß Leona wies auf das Atelier des Haarkünstlers, von wo man das Schwirren einer Schere vernahm. Der Meister verfügt über achthundert Perücken und ganz unwahrscheinliche Quantitäten von Bartwolle, versicherte sie und ging nach links in die Requisitenkammer und Sattlerei, wo einige Arbeiter bereit standen, jeden im Laufe der Vorstellung sich ergebenden Schaden zu verbessern. Dort war auch eine Sammlung von Peitschen und Sätteln ausgestellt, Reitgerten mit zum Teil kostbaren Knöpfen, Wagen-, Hetz- und Hundepeitschen, Kardätschen und Knuten, daneben Paradesättel mit echt silbernen und vergoldeten Zieraten, gestickte Beduinenschabracken, brokatene Panneaux und andere wertvolle Prunkstücke. Von einem offenen Fenster aus sah man in den Stallgang hinab, der in elektrischem Feuer strahlte, und am Fuße der Treppe stand noch immer der General mit Lothar und den anderen Offizieren in lautem Gespräch.

»Die Herren sind unter sich,« flüsterte Miß Leona, »da ist's immer am interessantesten.« Und sie zog Wicky ans Fenster, um zu lauschen. Die Offiziere schienen Lothar zu hänseln, er wehrte lachend, vielleicht durch die Gegenwart des Generals bewogen, irgend eine Zumutung ab.

»Nein, auf Ehre,« rief er jetzt, »weder Miß Leona noch die Kousine. Beide sind gleich kühl und streng, aber das Spiel mit ihnen gefällt mir. Es muß früher oder später, so oder so enden. Vorläufig verwende ich sie als Pacemacher.«

Schallendes Gelächter folgte dem Witz. Auch der General stimmte ein, aber die Sache war ihm wohl ein wenig zu toll, denn er machte seinen Rücken steif, drehte sich auf den Hacken und ging weiter. Die sporenklirrenden Schritte verhallten, und die Uniformen verschwanden in der Menge, die das rasselnde Klingelzeichen in die Arena zurückrief.

»Geht nun der »Pacemacher« auf Sie oder auf mich oder auf uns beide?« fragte Miß Leona und stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf. »Sie verstehen doch, was er mit dem Sportausdruck sagen wollte? Oft gibt der Besitzer einem Favorit ein Pferd bei, das dem voraussichtlichen Sieger vorangehen, ihn reizen und dann rechtzeitig zurückbleiben muß, während der Favorit durchs Ziel geht.«

»Empörender Vergleich!« rief Wicky.

»Das soll mir der petit monsieur bezahlen!« drohte die Schulreiterin. »Mein Trost ist nur, daß ich mir nichts vorzuwerfen habe. Er ist mein Bankier, voilà tout. Und ich garantiere ihm, daß ich weder als Favorit noch als Pacemacher tauge. Aber das fordert Rache. Bah, die beste Strafe ist, daß sein galanter Pferdevergleich nur eine unverschämte Renommage bleibt und niemals Wahrheit wird. Schwören wir es uns!«

Sie schüttelte der Freundin die Hand und zornig gingen sie weiter. Jetzt waren sie im Reiche der Artisten und Balletteusen. Man hörte Plaudern, Lachen, Singen, ab und zu huschte ein aufgebauschtes Gazeröckchen vorüber. Aus einer Zelle eilte eine Ankleiderin herbei und öffnete vor Miß Leona eine Thür. Sie traten in einen kleinen, mit Rosatapete bekleideten Raum. Am Fenster stand der Toilettentisch mit dem Krystallspiegel in Form eines Hufeisens, den Schminkbüchsen und zwei brennenden Kerzen, daneben eine spanische Wand, mit bunten Plakaten beklebt, und ein Garderobeständer. Riesenhafte Pantoffeln, offenbar nicht der Miß gehörig, und Wäschestücke lagen am Boden. Weder sie noch ihre Mutter, die sich hinter dem Wandschirme zu schaffen machte, entschuldigten sich für die Unordnung. Sie waren in ihrem ewigen Wanderleben so sehr daran gewöhnt, daß es ihnen wie etwas Selbstverständliches und Notwendiges vorkam. Sonst kein Schmuck, keine Blume, nicht einmal ein Bild an der Wand, nur alte Kurszettel trieben sich auf dem Sopha und den paar Stühlen herum.

»Sie scheinen hier alles Ewig-Weibliche zu vermissen,« sagte sie, indem sie die Gedanken ihrer Besucherin erriet. » Oh je suis si peu femme! So viele Verehrer und Bewunderer, aber nicht einen Geliebten. Ich bin zu stolz dazu, viel zu frei und stark. Weder Favorite noch Favorit!«

Sie lachte, aber verstummte plötzlich, denn Wicky wechselte jäh die Farbe und sank vor dem Toilettentisch auf einen Stuhl. War es der Ärger von vorhin oder der starke Geruch der Schönheitmittel und Parfüms? Mama Frank sprang schnell hinter ihrem Wandschirm hervor und hielt der Ohnmächtigen ein Fläschchen unter die Nase. Fast augenblicklich wurde ihr besser.

»Ihre Nerven sind entzwei,« sagte Miß Leona. » Pauv' petite femme! Thun Sie doch wie ich und helfen Sie sich so ...« Sie zeigte auf eine kleine Spritze, die zwischen den Tiegeln und Fläschchen lag. Wicky sah sie fragend an. »Das ist la force de ma vie, – meine Morphiumspritze. En usez-vous pas? Eine Weltdame mit all ihren Aufregungen ist ohne diese kleinen Stiche einfach unmöglich. Und wo sollen wir vom Zirkus die Kraft zu unserer Arbeit hernehmen? Das reibt uns auf. Also hier heißt es: Tod den Nerven! Versuchen Sie nur.«

Sie ergriff das kleine Ding von Silber und Glas und stieß die Spitze der nur halb Widerstrebenden über dem langen Handschuh in den Arm. Wicky empfand kaum den Schmerz eines Nadelstiches, aber ihr wurde sehr ängstlich dabei.

» Petite sotte!« spottete Leona. »Sie werden die Wirkung sehen und bald nicht mehr ohne das leben können. Ich gebe Ihnen die Adresse meines Lieferanten. Ihre Nerven brauchen die kleine Stärkung und Betäubung. Wir sind hier alle morphiomanes und dabei frisch, gelenkig, stark, glücklich. Jawohl, toujours le bonheur et sans les hommes

Sie lachte, und ein Echo antwortete ihr hinter dem Wandschirm, wo Mama Frank über einer zu starken Injektion halb eingenickt war, aber in ihrer wohligen Betäubung doch alles hörte und verstand. Wicky schauderte, indes die Reiterin wieder nach ihrer Reitpeitsche griff und glättend über die Glacés an ihrer Hand strich.

»Sehen Sie hier die einzige Liebe, die einzige Leidenschaft meines Lebens,« sagte sie und wies mit der Gerte auf die Kurszettel am Boden. »Ohne das Spiel ist mein Dasein nichts. Die Männer sind höchstens mein Zeitvertreib. Ich will mich von ihnen nicht lieben, nehmen, beherrschen lassen. Ich will keine Liebende sein, nicht einmal eine Geliebte. Ich will mein eigenes Leben leben. Siegen die Männer durch Stärke und brutale Gewalt, so siegen wir durch List, Entschlossenheit in der Wahl der Waffen, durch zähen, kräftigen Willen. Die Frauen von früher wollten auch herrschen, aber durch den Mann, der deshalb groß sein mußte. Wir herrschen gegen und über den Mann, der darum klein sein und klein bleiben muß. Die Frau, die einem Mann auch nur die geringste Gunst gewährt, ist verloren. Gott sei Dank, ich habe mich vom Fleisch emanzipiert und herrsche über die Männer, die sich alle als schuldige Egoisten fühlen. Und so bin ich eine erbarmungslose Rächerin unseres durch Jahrhunderte mißhandelten Geschlechts!«

Sie hieb dabei mit ihrer Gerte einen sausenden Streich durch die Luft, als stände das ganze Männergeschlecht mit entblößtem Rücken vor ihr, und kreischte ihren Zirkusschrei: Hoplah!

Die Unterhaltung wurde durch einen kleinen, häßlichen Clown gestört, der mit weißangestrichenem Gesicht, dicken Augenbrauen und bis zu den Ohren reichenden Purpurlippen hereintrat. Seine Beine waren so krumm, daß der Pudel, der ihm folgte, sie als Reifen hätte betrachten können, und sein Gang war breit, als wollte er jeden Augenblick einen Trampolinsprung ausführen.

»Mein Kollege Burslem,« sagte die Schulreiterin, wahrend er sich grinsend verbeugte und seinen hochstehenden roten Zopf mit der Hand nach vorne stieß, so daß er noch eine Weile hin und her pendelte. »Aber Sie kennen ihn ja schon von der Rennbahn.«

Gewiß kannte sie den häßlichen Spaßmacher, der zugleich Parterrespringer, Jongleur, Balletttänzer, Kautschukmann, Dresseur und Groteskreiter war. Nebenbei ein vielseitiger Musiker, Er war Gymnastiker auf und mit der Geige, konzertierte mit Schlittengeläuten, Weingläsern und Holzstücken und spielte unter den erschwerendsten equilibristischen Umständen auf der Mandoline und Ziehharmonika. Nichts Menschenmögliches war ihm fremd.

» Come on, Leona,« kreischte das Scheusal, schon ganz im Charakter seiner Rolle, » 't is ready«. Er bot ihr mit grotesker Verbeugung seinen Arm und führte sie ohne weiteres hinaus, und Wicky konnte ihm die Unhöflichkeit nicht übelnehmen, denn er schnitt dabei eine so urkomische Grimasse, daß sie auflachen mußte.

» O cet homme!« rief die aus ihren Träumen aufgeschreckte Mutter tragisch, und sah dem sonderbaren Pärchen mit geballter Faust nach. Wie eine Erlösung hatte Wicky das Bekenntnis ihrer Freundin geklungen, und jetzt? Sollte auch die männerfeindliche Leona in diesem Hansnarren ihren Meister gefunden haben? Gedankenvoll schloß sie sich den beiden an, gefolgt von der Alten, die den Schulterkragen ihrer Tochter überm Arme trug.

In seinem Box stand Leona's Fuchshengst schon aufgezäumt und gesattelt, und die Stallmänner führten das edle Tier in den Vorraum der Manege, wo die Schulreiterin mit ihrem Clown vertraulich plauderte und lachte. Die Musik drang in brausenden Tonwellen durch die Gardine, und der feurige Renner spitzte die Ohren und schlug ungeduldig mit dem langen Schweif. Der Clown hob die Reiterin wie eine Feder in den Sattel, und ihre lange Schleppe wallte ihr gleich einem Trauermantel nach. Jetzt war das Tier kaum mehr zu bändigen. Der Schaum trat zwischen der silbernen Kandare in weißen Flocken hervor, die Nüstern sprühten, die schlanken, glänzenden Beine bewegten sich schon im Trab des spanischen Tritts, ein »Hoplah!« und mit mächtigem Sprunge stürmte das Pferd in die Arena. Die elegante Gestalt der Reiterin bog sich bei jedem Satze zurück, mit den Spitzen der Hand warf sie lächelnd Kußhände, und wie ein wüster Satyr mit krummen Beinen und hinkendem Gange, das Gesicht zur gräulichen Fratze verzerrt, trottete der Clown mit der Schaar Stalldiener hinter ihr her. Ein Jubelsturm durchbrauste das Haus, und schmetternd fielen die Trompeten ein. »Gehen wir in die Manege oder erwarten wir sie hier nach ihrem Triumph?« fragte Lothar.

»Mir ist nicht wohl.« gab Wicky zurück, »ich will nach Hause.«

»Das wird vorübergehen,« sagte er, denn er entschlüpfte nur ungern Leonas Zauberkreise. »Vielleicht genügt ein Gang in die frische Luft ...«

»Ich will es!« antwortete sie und stampfte mit dem Fuß auf. Er sah sie groß an. Diese Bewegung kannte er. Die mußte sie Leona abgeguckt haben. Das fehlte gerade noch, daß auch dieses Püppchen da die Manieren der Amazone annahm! Mißmutig gab er ihr den Arm und führte sie hinaus.


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