Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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XXXI.

Langsam wurde der Brandschutthaufen und Scherbenberg der Spinnerei abgetragen. Es war noch unentschieden, ob die Fabrik wieder aufgebaut würde, wie der Generalkonsul wünschte, der die Umwandlung der Firma in eine Aktiengesellschaft vorschlug. Heller, dem für die neu eingerichtete Weberei ein hoher Preis geboten wurde, war dem Verkaufe nicht abgeneigt, und Hans stimmte gleichfalls für die Parzellierung der ganzen Liegenschaft zu Bauplätzen. In schöner ländlicher Gegend dachte er sich die aus ihrer Asche auferstandene Fabrik, seine Arbeiter halb seßhafte Bauern, am Gewinne mitbeteiligt und dem schlimmen Einflüsse der Weltstadt entrückt. Dort würde jedem Angestellten ein Häuschen mit Feld und Garten zugeteilt, dessen Kaufpreis durch größere oder geringere Lohnabzüge im Laufe der Jahre erlegt werden könnte. Alsdann brauchte man weder sich selbst noch den Arbeitern Opfer oder Einbußen aufzuerlegen, weil die Landwirtschaft der Arbeitkraft vorzugsweise im Sommer bedarf, der toten Zeit für jede Spinnerei. Auch dem Kommerzienrate schienen die Vorteile einer solchen Verlegung auf das platte Land einleuchtend genug: die größere Ständigkeit und wachsende Tüchtigkeit der Arbeiter, die geringere Löhnung als Folge des billigeren Lebensunterhaltes, ein leichteres Überstehen von Geschäftskrisen, die Möglichkeit zu baulichen Erweiterungen ...

Bis das Schicksal der Spinnerei entschieden war, verblieben die Hauptangestellten auf ihren Posten. Hitschold hatte noch mit Bilanzen und Inventaren zu thun, Hinnen widmete sich ferner der Kaninchenzucht, Fabian photographierte, Jakob stellte tagelang den friedlichen Fischen der Spree nach. In diesen Stunden der Beschaulichkeit trat der Alpensohn auch Lene näher, die noch ab und zu in ihrem Kahne fuhr, und sein jugendliches Herz schlug höher. Um öfter in ihrer Nähe zu sein, ließ er sich von ihrem Vater in allen möglichen Stellungen und Anzügen mit oder ohne Angelrute photographieren. »Beim Eid ein schönes Bürschlein, der Schaggi!« rief sein Vater bewundernd, wenn er wieder ein Bild seines Stammhalters zum Geschenk erhielt.

Aber dieser Liebesfrühling sollte bald ein Ende nehmen, denn Lene hatte sich auf Wunsch ihrer Mutter als Kindermädchen in die Stadt verdingt und trat nächstens ihre Stelle an. Der brave Fabian aber, der sich während des Ausstandes seinen Brotherren gegenüber in einer schmerzlichen Zwangslage befunden, weil er als strikender Arbeiter gar keinen Anspruch auf die freie Wohnung erheben mochte, fühlte sich jetzt nach dem Brande noch mehr als zudringlicher Schmarotzer.

»Ich Faulenzer kann bei Ihnen ja gar nicht wohnen bleiben,« sagte er zu Hans, der sein Gewissen zu beruhigen suchte. »Wenn Sie denn doch keine Bezahlung annehmen, so will ich mich Ihnen auf andere Art nützlich erweisen. Dürfte ich vielleicht die außerordentliche Ehre haben, Sie und Ihre Frau Gemahlin abkonterfeien zu dürfen? Mit einem Photographen, der ein gehöriges Atelier besitzt, darf ich Dilettant mich allerdings nicht vergleichen, aber ich werde mein Möglichstes thun, um so hochgeschätzte Kundschaft zu befriedigen.«

Hans hatte andere Sorgen, doch um den braven Mann nicht zu beleidigen, erklärte er sich bereit, auf einen Sprung herüber zu kommen, um wenigstens seine Einrichtung zu besichtigen. In der That erschien er denn auch am Tage vor Lenens Abreise gegen Mittag im Fischerhaus und fand Vater und Tochter noch in voller Thätigkeit. Ein recht eigenartiges Atelier! ... Hinter dem Hause war es auf einer verwitterten Kegelbahn improvisiert. Wo ehemals die Kegel standen, befand sich der Podest für den Aufzunehmenden, ringsum mit Leinengardinen versehen, die je nach dem Sonnenstande gezogen werden konnten. Ein Stuhl, ein Tischchen, ein selbstgemalter landschaftlicher Hintergrund mit Tannenwäldern und Schneebergen, der die Kunst des Löwenmalers in ihrer Blüte sehen ließ, bildeten die ganze Einrichtung. Auch die Gerätschaften seines neuen Handwerkes waren meist, wie er sich ausdrückte, »im Hause gemacht«. So der sinnreich konstruierte Rückenhalter aus Holz und vor allem das Stativ mit dem Apparat. Bloß die Linsen, Platten und Chemikalien hatte er kaufen müssen.

»Früher,« sagte er zu Hans, der sich erstaunt umsah, »da lachte ich immer über die Künstleransprüche unserer Photographen. Ohne Sammtrock thut es ja keiner, und sie nennen Maler und Bildhauer ihre Brüder. Aber nun seh' ich ein, daß sie ihr Wams ehrlich verdienen. Frau Sonne ist launisch und boshaft. Sie will nicht immer, spielt Verstecken, verbrennt oder verschleiert die schönsten Platten, macht riesige Hände und lange Nasen. Man muß ihr mit Geduld und List beizukommen suchen, ihre Fehler verbessern, sie zur willigen Freundin und Helferin machen.«

»In Ihrer Lene haben Sie wohl eine gelehrige Schülerin?« fragte Hans, während das Mädchen über und über errötete.

»Ei ja, sie ist geschickt,« bestätigte Fabian, »und hat ein Auge mehr als ich. Ihre dünnen Finger eignen sich auch besser, als meine großen, rauhen Arbeiterpratzen. Ich überlasse ihr gerne das Entwickeln und Fixiren der Platten und habe immer meine Freude, wie sauber sie das macht.«

»Aber es macht nicht sauber,« unterbrach sie ihn scherzend und verbarg unter der Schürze ihre braunen Fingerspitzen mit einem Anfluge von Koketterie. »Man mag sie noch so lange waschen, man kriegt die Pyrogallussäure nicht mehr weg. Na, heute beschmutze ich mich ja zum letztenmal!«

Hans schien ihren Seufzer zu überhören und rollte eines der eben abgezogenen Bildnisse auf. »Ach, da ist Pinzger, unser Arbeiterführer! Ganz sein edles Profil, das geistsprühende Auge, der beredte Mund des Volkstribuns!«

»Ja,« antwortete Fabian, »zur Aufnahme hatte er Zeit, doch zum Abholen nicht mehr. Ihn schlugen die Häscher in Bande. Wie steht es eigentlich um seine Sache?«

»Schlimm genug. Die Polizei läßt ihn nicht mehr los, denn es ist sicher, daß er an jenem Sonntag im Fabrikhofe war und sich bei Ihnen photographieren ließ.«

»Das habe ich dem Untersuchungsrichter bestätigt,« erzählte Fabian. »Der lockere Zeisig war noch vom Frühschoppen angeheitert und konnte nicht still halten. Sechs teure Platten hat er mir verpfuscht. Nach der endlich gelungenen Aufnahme packte ich den Apparat auf die Schulter und ging mit ihm in den Hof hinüber, um einmal die Spinnerei im Mittagslicht aufzunehmen. Ach, ich ahnte nicht, daß es ihr letzter Tag war! Ich sehe den Tiroler noch, wie er mit der Strikekasse klimpernd von mir ging, dem alten Janko eine Liebeszigarre schenkte und mit einem Juchzer durch das Thor verschwand.«

»Und wie lange fehlt Ihnen das Uhrwerk schon?«

»Das weiß ich nicht. Ich hatte die Spielerei seit Jahren aufgegeben und schon vergessen. Meine Frau erinnert sich nur, daß sie die Uhr zum letztenmal in der Hand hielt, als Ihr Herr Onkel den Herrn Kommerzienrat in die Fabrik führte. Zwei Jahre mögen es bald her sein. Nicht wahr, Lene?«

Das Mädchen nickte, aber ihr unsteter Blick fiel Hans auf. »Du warst also dabei,« fragte er sie, »als die Herren sich das Uhrwerk besahen?«

»Ja.«

»Was sagten sie?«

»Ich weiß es nicht mehr.«

»Besinne Dich, Kind,« warf Fabian ein. »Du hast mir gesagt, daß der Herr Papa sich gar nicht dafür interessierte, aber der Herr Onkel umso mehr. Er nahm das Werk in die Hand, und bevor Du es wieder auf das Spind stelltest, mußtest Du es ihm erklären und sogar aufziehen.«

»Es kann sein,« sagte sie tonlos und wagte gar nicht aufzublicken.

»Dem Untersuchungsrichter hast Du es bezeugt,« eiferte Fabian, »und das war recht. In einem solchen Fall ist es eine Sünde, wenn man nicht alles sagt, was man weiß, weil schon ein unbedeutender Umstand Licht bringen kann.«

Hans fiel unwillkürlich Lothars Ausruf ein: »Hat's Papa angezündet?« und er verstummte in schweren Gedanken.

»Sehen Sie, Herr Lenz,« sagte Fabian nach einer Weile, »das Photographieren ist jetzt meine ganze Freude. Wenn aber die Fabrik wieder aufgebaut ist, wird auf Ihren ersten Ruf auch Ihr Cylindermacher sich wieder einstellen.«

Hans drückte dem braven Arbeiter die Hand. »Wer weiß, ob es dazu kommen wird. Wir haben bessere Zeiten miteinander verlebt, Fabian. Gedenken Sie noch unserer Musikabende?«

»Ach die waren schön! Und Ihre Sonate!«

»Vorbei, vorbei!« seufzte Hans.

»Wer hindert uns, sie wieder aufzunehmen, Herr?« warf der Alte ein, und sein einziges Auge glühte für zwei. »Wohl haben Sie es abgeschworen, um Ihr Geschäft nicht zu vernachlässigen, aber nun alles hier stockt, versäumen Sie nichts. Herr Hans,« bat er herzlich, »machen Sie mir, machen Sie uns allen die Freude, und musizieren wir wieder an einem dieser Abende. Ihre Geige liegt oben. Mein altes Klavier ist auch noch am Leben.«

»Ach bitte, bitte!« drängte Lene, und die Sehnsucht zitterte in ihren Worten.

»Die Stimmung ist fort, Ihr guten Menschen.«

»Wir zaubern sie wieder her,« rief der Alte mit Zuversicht. Hans lächelte unschlüssig, und in seinem sanften, offenen Gesichte spiegelte sich der innere Kampf.

»Nun vielleicht,« sagte er, »vielleicht heut Abend zu Lenens Abschied. Meine Frau will in die Stadt fahren zu ihren Eltern. Ist sie fort, komm' ich bestimmt.«

Ein langsamer Schritt ließ sich hören, und an der Gartenthür erschien die hohe Gestalt des Generalkonsuls, mühsam auf einen Stock gestützt. Hans erkannte ihn kaum wieder. Das feine Diplomatengesicht war aschgrau und eingefallen, und die Augen hatten etwas Starres und Geisterhaftes.

»Es geht mir schlecht,« antwortete er auf die teilnehmende Frage seines Neffen. »Ein Gichtanfall ... mit Fieber ... dazu die Aufregungen der letzten Zeit ...« Er ergriff seinen Arm, und sie gingen langsam im Hof auf und nieder. »Stelle Dir vor ... aber nein, es ist zu dumm! Irgend ein Feind von mir, und ich habe deren so viele – natürlich lauter Leute, denen ich Gutes gethan ... also man hat die Versicherungsgesellschaften und die Polizei aufgehetzt. Kurz, ich bin vernommen worden ... ins Kreuzverhör, wie ein Verbrecher! Und was wollten meine Inquisitoren nicht alles wissen! Zum Beispiel, was ich an einem bestimmten Tage vor zwei Jahren trieb. Excusez du peu.«

»Vor zwei Jahren?«

»Ja, die Herren hatten herausgetiftelt, daß ich an jenem Tage zum erstenmale die Spinnerei mit Deinem Schwiegervater besuchte. Da soll ich bei unserem Cylindermacher Fabian eingetreten sein und das verwünschte Uhrwerk bewundert haben, das auf der Brandstätte gefunden wurde. Möglich, ich weiß nichts mehr davon. Es ist zu lange her. Denn daß ich meinen Kopf für anderes als solche Lappalien brauche, das begreift nur ein Polizeibeamter nicht. Diesen Herren, die in jedem Menschen einen Verbrecher wittern, ist es sehr verdächtig, daß jenes Uhrwerk seit meinem damaligen Besuche verschwunden sein soll, um erst in den Trümmern der Spinnerei aufgefunden zu werden. Als ließe sich das nicht einfach damit erklären, daß Fabian es in seine Werkstatt mitgenommen und dort irgendwo liegen gelassen hat, bis es nach dem Brande wieder zum Vorscheine kam.«

»Gewiß, Onkel, das ist wohl denkbar,« bekräftigte Hans.

»Sogar meinen Hochnotpeinlichen leuchtete es halbwegs ein, und sie ließen daher diese Räubergeschichte fallen. Aber nun eine andere Frage! »Wo waren Sie am vorletzten Sonntag, zehn Stunden bevor der Brand ausbrach, also Punkt elf Uhr Vormittags?« Damit setzte mir der Untersuchungsrichter eine neue Pistole auf die Brust. Ich war bei dieser unerwarteten Frage etwas erschrocken. »Besinnen Sie sich wohl!« rief mein freundlicher Gönner mit einer unheimlichen Betonung. Ich antwortete: An jenem Sonntag Vormittag fuhr ich nach Charlottenburg hinaus, um meinen Sohn zu sprechen, den ich bei seiner Kousine vermutete. Ich verfehlte ihn aber, denn er war mit meiner Nichte und ihrem Gatten in die Stadt gefahren.« Hans nickte bestätigend, denn sie hatten wirklich alle drei einen Kunstsalon besucht. »»Und sind Sie gleich wieder in die Stadt zurück?« fragte der Neugierige. – Erst etwa eine halbe Stunde später, gab ich zur Antwort, denn ich ruhte mich auf einer Bank im Garten etwas aus. Noch vor zwölf Uhr nahm ich die Pferdebahn und fuhr nach Hause.«

»Das stimmt nicht ganz,« bemerkte Hans. »Wir waren schon um elf wieder zu Hause. Aber gleichviel ... beruhigten sich die Herren damit?«

»Ja, nachdem ich noch ausdrücklich bezeugt, daß ich die Fabrik an jenem Sonntage nicht betreten. Aber angegriffen hat mich der schlechte Scherz doch.«

Im langsamen Auf und Nieder waren sie wieder zur Kegelbahn gekommen, wo Fabian noch immer mit Lene in seinem Atelier beschäftigt war. Der Konsul sah den Stuhl neben ihm und nahm erschöpft darauf Platz.

»Mein Onkel hat von Ihren photographischen Künsten gehört, Fabian,« sagte Hans. »Zeigen Sie uns doch Ihre letzte Aufnahme der Fabrik.«

Der Alte brachte die kleine Glasplatte und hielt sie gegen die Mittagssonne, so daß sich die zarten Linien des Negativs scharf ausprägten, und die beiden Herren besahen sich das Bild und lobten die saubere Arbeit. »Da sehen Sie, die Uhr über der Thüre zeigt auf Elf.«

»Hier oben am Fenster des Battage geht gerade eine menschliche Gestalt vorüber,« sagte Hans. »Haben Sie keine Lupe, Fabian?«

»Wahrscheinlich Lux, der seine Runde macht,« meinte der Photograph und gab ihm ein großes rundes Glas.

»Nein, der ist es nicht,« erwiderte Hans nach kurzer Prüfung. »Ein Herr mit Cylinderhut vielmehr. Sehen Sie selbst, Fabian.« Er reichte Bild und Lupe dem Alten, der die Platte aufmerksam besah.

»Ei ja, weiß Gott, ein Herr!« rief er aus. »Aber undeutlich, denn es ist ein Augenblicksbild. Und der Cylinder war grau oder weiß, denn im Negativ erscheint er schwarz ... Herr Generalkonsul, waren Sie vielleicht an jenem Sonntagvormittag in der Spinnerei?«

»Welche Idee!«

»Ich meine nur des Hutes wegen,« fuhr Fabian fort und warf einen Blick auf des Konsuls schwarzumflorten grauen Cylinder. »Und der Fremde ist ebenfalls in Trauer ... Was hatte ein Fremder in der Fabrik zu thun? Wenn das der Brandstifter wäre! Aber die Thorhüter mußten ihn passieren lassen ... Nicht doch, er konnte sich auf dem Privatwege von der Villa und von rückwärts durch die Schlosserei einschleichen! O ich muß der Sache auf die Spur kommen!«

»Thun Sie das, lieber Fabian,« sagte der Konsul trocken, und Hans, dessen Arm er ergriffen, fühlte das Zittern seines ganzen Körpers.

»Aber freilich, wie kann ich dem Burschen beikommen?« rief Fabian nach einigem Sinnen verzweifelt. »Das Bild ist zu klein und auch im Abdrucke zu undeutlich.«

»Wäre keine Vergrößerung möglich?« fragte Hans, der das entgeisterte Gesicht seines Onkels nicht aus den Augen verlor.

»Ei ja, eine fünfzehnfache sogar,« bestätigte Fabian. »Aber man bedarf dazu eines Vergrößerungsapparates. Ich besitze keinen, denn ich scheute die Ausgabe. Aber halt! ich weiß einen Ausweg! Ich bringe das Negativ einem beliebigen Photographen zum Vergrößern. Das kostet einige Mark, und so werden wir uns wenigstens den Herrn in der Nähe besehen können.«

»Geben Sie her, Fabian, ich will es für Sie besorgen,« sagte Hans schnell, und der Konsul, einer Ohnmacht nahe, klammerte sich an seinen Stuhl und sah mit starrem Blicke, wie die kleine Scheibe in der Brusttasche seines Neffen verschwand. Dann erhoben sie sich und gingen schweigend der Spree zu, die ihre trüben Wellen pfeilschnell dahin rollte.

»Onkel,« sagte Hans, plötzlich stehen bleibend, »die Sonne bringt es an den Tag!«

Der Konsul erwachte wie aus einem schweren Traum, und röchelnde Laute kamen aus seiner Brust. »Gib mir die Platte, Hans!« flehte er.

Ohne ein Wort nahm der Neffe die schwarze Scheibe, zerbrach sie in seinen Fingern und schleuderte die Scherben in den Strom, der hoch aufspritzte. Hierauf zog er ein rotes Papier aus der Tasche, entfaltete es langsam, zerriß es und warf die Schnitzel dem Glase nach in die Wellen. Der Onkel hatte das falsche Konossement erkannt, und er verbarg reuevoll sein Gesicht und weinte herzlich. Dann gingen sie stumm nebeneinander in den Hof zurück und trennten sich. Noch lange sah Hans dem Wagen nach, der ihn für immer entführte, den gebrochenen, toten Mann! ...

Und noch drei Augen folgten ihnen.

»Ob er wohl kommen wird, heut Abend?« fragte Lene ihren Vater.

»Nur wenn seine Frau es nicht hören kann! antwortete er bitter und packte seinen Apparat zusammen. »O das Scheusal! Den besten und edelsten Menschen so unglücklich zu machen! Ich könnte sie umbringen.«

Sie erkannte ihren Vater kaum wieder. Der sanfte, fromme Alte bebte vor Wut und ballte die Faust mit einem schrecklichen Fluch ... Dann kehrten sie ins Haus zurück, denn die Mutter hatte zu Tische gerufen, und noch oft wiederholte Lene an diesem Tag ihre Frage, ob er wohl kommen werde. Aber die Nacht brach herein, und sie warteten vergeblich. Fabian setzte sich nach dem Abendbrote traurig an sein Klavier und phantasierte. So ganz versunken war er in seine tönenden Gedanken, daß er es nicht hörte, wie sein Kind nebenan das Fenster öffnete und hinauslehnte, als ob die kalte, dunkle Nacht einem friedlosen Herzen Trost und Versöhnung geben könnte.

Der Himmel draußen wurde immer klarer und heller, und man wußte nicht, woher all der Glanz kam. Jetzt blitzte da und dort ein Stern auf, doch ihr Flimmern konnte unmöglich diese Glut hervorrufen. Da stieg mit einemmale der Mond über den schwarzen Wipfeln der Jungfernheide auf und übergoß mit seinem Scheine die Nebel, die in langen Streifen wie ein wogender See sich langsam über der Sandebene und dem Kanal ausbreiteten, bis Luft und Erde allüberall in flüssigem Golde schwammen. Und still und berückend sah der bleiche Freund von oben hernieder, wie ganz voll Heiligenschein, und ihr war, als riefe er sie, und fest und mutig, ohne sich noch einmal nach ihrem Vater umzusehen, ging sie in all dem Glanz und Wohlklang hinaus in die Nacht ...

Aber kam da nicht jemand? Ein dumpfes Pochen auf dem Kies schlug an ihr Ohr. Ach, sie wußte, wer das war! Jeden Abend kam er ja und setzte sich still neben seine Krücken und blickte sie traurig an. O nur jetzt ihn nicht sehen, den armen Krüppel! War sie nicht schon elend genug? Fort! Fort! Und schneller eilte sie dem aufschimmernden Flusse zu, und ihr war, als hörte sie hinter sich Hugo's Stimme: »Lene! Lene!« Ach, dieser furchtbare Klang, der sie durchschauerte!

Nun schritt sie auf dem ausgetreteten Wege dahin und stand am Ufer, ohne zu wissen, wie und warum sie sich hier befand. Der Kahn war angekettet und schaukelte heftig im hochgehenden Strome. Der letzte warme Regen hatte alles Eis mit fortgeschwemmt, und der Fluß freute sich seiner Freiheit und schlug mit den Wellen ungestüm an die Ufer. Sie sprang in den Nachen und blickte groß um sich. Wie konnte es doch in dem goldenen Glanze ringsum soviel Elend, Unglück und Verbrechen geben! O die schlechte Welt, und wieviel Leid war ihr darinnen zu Teil geworden! Liebend und ungeliebt, begehrt von anderen, die sie nicht liebte und unglücklich machte, eine öde Vergangenheit in der Fabrik, nur in der Nähe ihres Vaters erträglich, eine dunkle Zukunft ohne ihn, als dienende Magd bei fremden Leuten ... Und aus der Ferne sollte sie nun sehen, wie jener Herrliche, von allen betrogen und verlassen, zu Grunde ging, wie das Verbrechen ihn streifte und ihn hinunterriß? O mit einem Wort hätte sie den Elenden entlarven können, der sie alle brotlos machte, denn sie hatte ihn ja von ihrer Kammer aus belauscht, wie er an jenem Morgen den Flur betrat und das Kästchen vom Spinde nahm und in der Fabrik verschwand, wieder nach einer Weile erschien, gleich einem Gespenst im Sonnenschein, und von den Baumschatten der Villa verschlungen wurde. Aber sollte und konnte sie sprechen, ohne den Einzigen namenlos zu betrüben? ... So schwieg sie also, auch wenn ein anderer darunter litt.

O diese Welt, diese Welt! Nur fort, hinaus, gleichviel wohin! ...

Ein Rascheln erschreckte sie, daß sie mit einem leisen Schrei zusammenfuhr. Von drüben unter den Bäumen im Kies kam es her ... Stimmen näherten sich ... eine Männerstimme ... ein hoher Sopran ... Lene wußte, wer es war, denn die hatte sie oft zusammen gesehen, hier im Park und drüben in der Villa. O wie haßte sie die Ehrvergessenen, die den edelsten Mann, das beste Weib so unglücklich machten! ... »Und so was lebt noch!« murmelte sie. »Vater hat Recht. Auch ich könnte sie mit Wonne umbringen. Es wäre eine gute That an zwei guten Menschen!« ... Doch still, nun kamen die Stimmen näher! Jedes Wort konnte man hören ...

»Kousinchen, nur keine Illusionen mehr. Es ist alles aus. Also lieber weit weg nach Afrika oder nach Amerika. Dort gründe ich mir eine neue Existenz.« Er verstummte, und eine Weile vernahm man nichts als ihre knarrenden Schritte auf dem harten Kies ... »Was sollte mich auch hier noch zurückhalten?« fuhr' er fort. »Etwa Papa, bei dem ich in Ungnade gefallen bin und der es selbst nicht mehr lange treibt? Oder meine Frau, die nicht zu mir paßt? Oder gar Du, Kousine? ...« Abermals schwieg er, und die Pause wurde länger ... »Oft glaubte ich, Du liebtest mich auch, aber es war Täuschung. Du bist Weltstädterin geworden ganz und gar, ein herzloses Wesen, eine richtige Salondame, ein Weib nach der neuen Art, das keine Liebe und keine Pflichten kennt. Du willst nur glänzen, herrschen, Dich unterhalten, weder Mutter noch Geliebte sein. Aber Du hast die goldene Regel mißachtet: Meide auch den bösen Schein. Jetzt bist Du in Deinem eigenen Netze gefangen, und viel schlimmer daran, als wenn Du einer Leidenschaft und der Liebe zum Opfer gefallen wärest ...« Sie sagte noch immer nichts, und das reizte ihn wohl, denn der Ton seiner Stimme wurde schärfer, dringender ... »Es thut mir leid, wenn Du das noch nicht einsiehst. Du bist in der Gesellschaft unmöglich. Der Skandal hat sich Deiner bemächtigt, und ich wette meinen Kopf, daß Du nächstesmal von fünfzig Einladungen dreißig Absagen erhältst. Was sich noch bei Dir zeigen wird, sind Junggesellen, die keine Skrupeln zu haben brauchen, Musiker und Litteraten, die immer gerne schmarotzen, Herren ohne ihre Damen, und vor allem die Klatschgeschwister, die Dich beobachten. Sie wollen sehen, wie Du Dich benehmen wirst, schuldbewußt oder unbefangen, wie ein Opfer oder als harthäutiges Reptil, fröhlich oder niedergeschlagen, und ob diese Heiterkeit echt oder gemacht ist, und wie Du sie spielst, ob schülerhaft oder als Meisterin.«

Jetzt unterbrach sie ihn. »Nur keine Sorge,« rief sie aus. »Ich werde meinem Lehrmeister Ehre machen und vorzüglich heucheln, denn die Ironie, die Du mich gelehrt hast, hebt mich über alles hinweg. Ihre Entrüstung und ihr Haß wird niemals bis zur Höhe meiner Verachtung reichen.«

»Gut,« antwortete er, »also die Gesellschaft fürchtest Du nicht, Kousine, aber wie steht es mit Deiner Familie?«

Ein silberhelles Lachen ertönte. »Die alten Eltern vergöttern mich. Dein Vater hat mir nichts zu befehlen. Und Hans?« ... Sie mußte eine Geberde an die Stelle ihrer Worte gesetzt haben, denn jetzt fiel der andere ein.

»Täusche Dich nicht, Kousinchen. Was er will, setzt er durch, denn er hat einen eisernen Willen. Wird ihm der Skandal zu arg, läßt er sich von Dir scheiden. Ganz kaltblütig, sag' ich Dir, und wenn er zum Bettler werden sollte.«

»Dann habe ich meine Freiheit wieder,« antwortete sie. »Muß ich durchaus eine Ehesklavin sein, so fehlt es mir an Freiern gewiß nicht.«

»Ja, so lange Du reich bist. Aber damit ist es vorbei. Mein Vater hat alles verspielt, sein Vermögen und seine Ehre, Deines Mannes Fabrik und die Millionen Deines Vaters. Du bist arm!«

Jetzt entstand eine Pause, und sogar die Schritte verstummten. Lene sah zur Rampe empor und erblickte beide. Sie waren aus den Bäumen herausgetreten und standen nun im vollen Mondlicht oben. Ihre zarte Gestalt, auf dem Kopf ein Spitzentuch, war gehüllt in einen weißen Mantel mit hellgelbem Pelzbesatz und lehnte sich einen Augenblick wie im Taumel an den schimmernden Stamm einer Linde.

»Wicky,« sagte er dringender, indem er auf ihre Ergriffenheit zählte, »wirf den ganzen Plunder von Dir, der nichts mehr wert ist. Fort aus diesem Sodom, für das Dein Geist zu blasiert, Dein Körper zu schwach ist. Deine zerrütteten Nerven halten Dich nicht länger aufrecht, das entsetzliche Gift, das Du zum Leben brauchst, bringt Dir den sicheren Tod. Komm mit mir in die freie Natur – nach Amerika! Ein neuer Adam und ein neues Leben! ...«

Sie schüttelte heftig den Kopf ... »Ich könnte der anderen dort begegnen, die Du auch geliebt hast. Weder Favorite, noch Favorit, sagte sie, aber ich, ich halte meinen Schwur!«

»Wicky, laß diese Possen und folge mir. Räumen wir den andern beiden das Feld ... Hans und Adelheid ... Sie werden uns aus der Ferne dafür segnen. Das bringt Glück!«

»Nein,« sagte sie scharf.

»Also ließest Du mich gelassen scheiden, und doch hielt ich immer treu zu Dir?«

»Und trägst an meiner Schande die Schuld!« unterbrach sie ihn vorwurfsvoll. »O Du hast redlich mitgeholfen, mich krank und arm zu machen!«

»Gewiß, es war ein tolles Leben, mein Kind, aber eine schöne Kameradschaft. Und gerade darum kannst Du mich nicht allein ziehen lassen. Du bist auf mich angewiesen. Wir gehören zusammen.«

»Nein, nein!« schrie sie.

»Wicky, ich beschwöre Dich!« rief er leidenschaftlich und schloß sie in die Arme.

»Nein, nein, nein!« schrie sie wieder, aber ihr fehlte die Kraft, sich ihm zu entwinden. In diesem Augenblicke tauchte Lene das Ruder klatschend ins Wasser, und bei dem Geräusche fuhr das Paar auseinander.

»Ei ei, die kleine Fischerin!« sagte Lothar lachend, und von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, fragte er: »Kousine, fahren wir nach dem Schloßpark? Die Kleine rudert uns hinüber.«

Sie starrte das Mädchen wie geistesabwesend an, und im Mondlicht funkelten ihre Augensterne grünlich, wie die Pupillen einer Katze. Leise murmelte sie etwas und wandte sich ab, indem sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte.

»Nun, Kousine?« fragte er mit einem festen Klang in der Stimme.

»Die Augen ... die Augen!« ... hauchte sie schaudernd vor sich hin, doch er faßte die Widerstrebende um den schlanken Leib und trug sie in den Kahn. Nun kauerte sie fröstelnd im Pelzmantel neben ihm auf der Ruderbank und starrte unverwandt Lenen an.

»Vorwärts, Kleine!« ...

Die Kette fällt klirrend ins Schiff. Fast willenlos greift Lene nach dem Ruder und stößt vom Lande. Die Wellen umfangen rauschend das Schiff und tragen es fort. Der Mond tanzt in tausend blitzenden Lichtern um sie und übergießt die drei Menschen, den Kahn und die Flut mit seinem goldenen Scheine. Keines spricht ein Wort. Hand in Hand sitzen sie da, unter dem traumverlorenen Blicke der Kleinen. Ein paar Ruderstöße noch, und sie sind am Hafen des Parks ...

Da dringt voll und weich ein schmelzender Klang durch die Luft, und noch einer, eine ganze Flut von Tönen, und so sehnend und schwermutvoll, wie eine klagende Stimme des Mondenscheins.

»Zu traurig!« sagt er. »Irgend ein armer Geiger.«

Die Kleine weiß es besser, und bei diesen Tönen sieht sie den guten, blassen Menschen wieder und jenes edle blonde Weib, sie beide von diesen hier getrennt, betrogen, elend gemacht, und der Haß steigt kochend in ihr auf ... Sind die da fort, sind jene glücklich! blitzt es ihr durch den Kopf.

»Die Augen ... die Augen!« winselt die junge Frau mit unverwandtem Blicke.

»Du steuerst vorbei, Kleine!« ruft Lothar.

Sie antwortet nicht und läßt das Ruder fahren, das vom Strome fortgerissen wird, und ihm nach das Schiff und die Menschen darin. Und nun fliegt es pfeilschnell dahin, kehrt sich im Lauf und neigt sich zur Seite, daß sie erschrocken nach der anderen sich lehnen ... und dreht sich wieder ... Dort ein schwarzes Ungeheuer im Wasser mit gelber Flamme am Mast ... und am Buge des Obstkahnes zerschellt das kleine Fahrzeug mit einem dumpfen Krach ... Ein einziger Schrei aus drei erstickenden Kehlen. Die junge Frau klammert sich im Sinken an ihn, der einen Augenblick noch schwimmend die eisige Strömung theilt, dann umschlingen sie seine beiden Arme fester, und die Wellen, die schon die todesmutige Kleine fortgetragen, reißen auch sie im klingenden Mondlicht dahin.


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