Theophil Zolling
Die Million
Theophil Zolling

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VIII.

Hans lud seine drei Hauptangestellten zum Besuche der Rennbahn in Charlottenburg ein, und um die Mittagsstunde hielt im Fabrikhof ein Kremser, der außer ihm noch den Spinnmeister Hinnen-Lotz, den Buchhalter und Kassierer Hitschold und den Cylindermacher Fabian, sämtlich im besten Sonntagsstaate, nach Westend entführte. Sie gehörten zwar zu den zuerst und viel zu früh Angekommenen, aber das hatte den Vorteil, daß sie die endlose Menschenkolonne auf der Berliner Chaussee heranziehen sahen. Besonders die Auffahrt der Wagen bot einen schönen Anblick. Vornehme Landauer, bescheidene Droschken und übervolle Kremser rollten die Allee heran, und zumal der pferdeliebende Hitschold konnte sich über die unzähligen Vierfüßer gar nicht beruhigen. Welch' wunderbare Paßpferde, Vollblüter, Zuckergespanne, Harttraber, sogar die Pferdebahn zeigte die Blüte des Pferdegeschlechts! Und dann die Viererzüger der Mail-Coaches mit Kavallerieoffizieren und sportfreundlichen Damen besetzt, und die englischen Cabs und russischen Troiken!

»Famose Rosse!« rief er in einem fort, »schöner nützt nichts!«

Sein Freund Hinnen-Lotz nahm die Sache viel kühler und lächelte nur über so viel Begeisterung. Er sah sich lieber bei Zeiten nach dem Buffett um, und als er schon von weitem eine Batterie Weinflaschen in Reservestellung entdeckte, war er beruhigt. So konnte er wenigstens in dieser glühenden Sandwüste nicht verdursten. Nur der Allerweltkünstler Fabian schien sich zu langweilen. Er fühlte sich fremd unter den feinen und sonntäglich geputzten Menschen und sehnte sich zurück nach seinen Instrumenten und Maschinen. Er trennte sich bald von seinen Begleitern, um unbemerkt nach Hause zu gehen.

Hans begnügte sich damit, seine Angestellten auf den ersten Platz zu führen und dann ihrem Schicksale zu überlassen. Er schloß sich seinem Onkel an, der im eigenen Landauer mit seiner Frau hergefahren war. Tante Lenz, eine blasse, kränkliche alte Dame, die der heißen Sommersonne ungeachtet sich fröstelnd in ihren Umhang hüllte, entstieg mühsam dem Wagen und war froh, einen stillen Logenplatz rechts vom Kaiserpavillon zu finden.

»Ist Lothar nicht da?« forschte sie.

»Noch nicht, Mama!« entgegnete ihr Gatte. »Der frischgebackene Ehemann wird vielleicht lieber im Tête-à-Tête bei seiner jungen Frau zu Hause bleiben.«

»Ja,« sagte sie beruhigt und drückte Hans freudestrahlend die Hand, »sie leben wie die Turteltäubchen – wie die Turteltäubchen!«

Indessen war es rings um die Tribünen lebendig geworden. Dichte Scharen von Herren und Damen drängten sich auf dem Platze zwischen dem zierlichen Holzbau des Totalisators und der Wagestube. Hier sah man die gesamte internationale Sportwelt, Inhaber von Rennpferden, Clubmen von der Schadowstraße, eine ganze Wolke von schwarzen, roten, blauen Offizieren, den Säbel schleppend, schnarrend, lachend, im Lederfutterale den Feldstecher um die Schulter. Die beiden Schweizer traten näher und warfen neugierige Blicke durch das Fenster. Aber welche Enttäuschung! Nicht die Pferde wurden hier gewogen, sondern nur die Jockeys. Mit ihrem Sattelzeug saßen sie im Korbstuhl, der von den Gewichten emporgezogen wurde, und jedesmal wenn ein Reiter abgewogen war, erschien seine Nummer draußen an der Tafel. Hitschold hätte sich das gern in der Nähe besehen, aber ein schwarzröckiger Beamter machte ihm höflich die Mitteilung, daß der Eintritt nur Vereinsmitgliedern gestattet sei. So schlich er beschämt hinaus, wo ihn das breite Lachen des schadenfrohen Spinnmeisters empfing.

Und immer drückender und lärmender wurde das Gewühl. Man sah Pferdehändler mit kupferroten Wangen und dicken Uhrketten, Berliner Dandies nach Pariser und Londoner Muster, staunende Provinzler. Auch die edle Weiblichkeit und ihr Gegenteil. Offizierfrauen und bürgerliche Damen, Künstlerinnen und Schönheiten, die zu Sportkreisen in irgend einem diskreten Zusammenhange standen, und fast alle waren sie nur gekommen, um der Spiellust zu fröhnen. Eifriges Geldklimpern ertönte aus einer lebhaften Gruppe älterer Frauen. Sie hatten die Stalljungen ausgefragt und einen Tip gekauft, aber diese Rennpropheten kamen ihnen noch immer nicht sicher genug vor. Endlich einigten sie sich auf ein Pferd und schossen unter Feilschen und Zanken markweise ihre Krone zusammen; nun galt es noch einen gutmütigen Kommissionär aufzutreiben, der für sie an dem ihnen verbotenen Totalisator setzte. Nur die Rennrieke spielte nicht. Diese verspätete Jungfrau, die hinter ihrem blauen Schleier verdächtig blühende Wangen und eine stattliche Nase verbarg und ein großes Bernsteinhalsband zur Schau trug, besuchte jedes Rennen nur der Pferde und ihrer Reiter wegen und verachtete das Spiel.

Vor dem Buffett hörte man viel Englisch. Es waren Pferdebesitzer, Jockeys a. D. und Buchmacher, die sich in schauderhaftem Berlinisch mit deutschen Kollegen über die Chancen der Pferde ereiferten. »Hornpipe gewinnt das Rennen, wie er will, oder ich heiße Matz.« – »Unsinn, Aba macht es. Paree meinen Kopf!« – »Aba? Ah bas! Der ist gleich ausgepumpt. Ich lasse mich hängen, wenn er gewinnt!« – »Wer nicht auf Kuratel setzt, muß unter Kuratel gestellt werden,« witzelte ein sich herandrängender Roßtäuscher, der lange Gollnow, und allgemeines Gelächter folgte. Da erscholl eine Glocke. Am Totalisator verdoppelte sich das Gedränge. Die Kronen und Doppelkronen rollten, die Banknoten flogen und die farbigen Tickets wurden als Quittung aus dem Schalter gereicht. Auch Hinnen-Lotz und sein Schreiber standen vor der Kasse und machten noch kurz vor Thorschluß ihren Einsatz, der Spinnmeister auf »Morgenrot«, weil der Name so hoffnungsvoll klang, sein sachverständiger Freund auf »Kuratel«, den er vorhin beim Probegalopp beobachtet hatte. Die Jockeys ritten in die Bahn, und die Tribünen füllten sich.

Im Sonnenbrande lag die Rennbahn ausgebreitet, eine Hochebene, von gelbbraunen Lehmhügeln gebildet, nur da und dort mit kränklichem Grün bewachsen. Ein Hufschlag und der nackte Sand trat zu Tage. Zwischen den Gattern und Flaggen zogen sich, aus der Ferne kaum erkennbar, die sauber geharkten und mit allerlei Erhöhungen und Schluchten, Gräben und Hecken versehenen Bahnlinien dahin, dann weitab gen Norden ein jäher Absturz, und dahinter lag die Spree gebettet mit ihren Schleusen und Brücken, Bagger- und Lastschiffen, Dampfern und Seglern. Die Haide verwuchs scheinbar mit dem Himmel, und nur von den Tribünen aus sah man etwas Wald, die zwei hohen roten Schlote von Plötzensee, links die Türme von Spandau und rechts die Kuppeln und Spitzen von Berlin, alles in einem Schleier von Dunst und Sonnenschein. Gerade gegenüber, jedoch jenseit zweier Bahnspuren, stand der Musikpavillon, aus dem von Zeit zu Zeit lustige Marsch- und Tanzweisen ertönten, die den Aufmarsch am Start und den Sieger begrüßten. Aber so weit war der Kiosk entfernt, daß man die Musik nur vernahm, wenn ein günstiger Wind die Klänge herüberwehte. Jetzt blies es stark aus entgegengesetzter Richtung, und da war es lustig zu sehen, wie der uniformierte Kapellmeister eifrig den Takt schlug zu einer Musik, von der man nicht das mindeste zu hören bekam.

Der Start begann. Nur eine Person vielleicht von all den vielen Tausenden hatte kein Auge für das weite sonnige Feld, auf dem die Pferde mit ihren bunten Reitern dahin schossen. Sie suchte ihren Sohn, und mitten aus der Menge hatte sie ihn erkannt.

»Lothar ist hier,« rief die Frau Generalkonsul ihrem Gatten zu, der ruhig und doch gespannt, wie ein echter Spieler, den Pferden mit dem durch Brille und Zwicker geschärften Blicke folgte.

»Du irrst, Mama, er hätte sich bei uns gemeldet.«

»Nein, nein – dort! Warum kommt er nicht? Das hat etwas zu bedeuten.«

Sie zeigte mit ihrem schwarzen Spitzenfächer geradeaus in das Gewühl, wo in der That der blaue Dragonerleutnant neben seiner Frau und seinem Schwiegervater stand, umringt von Offizieren in Uniform und Zivil. Aber weder er noch Adelheid waren der Mittelpunkt dieses Kreises, sondern zwei exzentrisch in kühn gepuffte rote Foulardroben gekleidete Damen, in deren einer der Generalkonsul Miß Leona erkannte. Mit ihrer fuchsigen Mähne, die sich in wilden Ringeln über ihren Nacken ergoß, machte sie wirklich ihrem Namen alle Ehre, während die Reitgerte, womit sie die Luft peitschte, fast eher an eine Löwenbändigerin als an die graziöse Schulreiterin gemahnte. Hans eilte im Auftrage seiner Tante in ihre Nähe, um seinen Vetter zu rufen, aber er kam in eine durch das Rennen so gespannte Situation, daß er nicht stören wollte.

»Hundert Doppelkronen auf Kuratel, meine Herren,« rief Miß Leona, ihren Krimstecher absetzend, »wer hält die Wette?«

»Ich,« sagte Lothar.

» Well,« antwortete sie und schüttelte seine Hand. »Frau Baronin, Ihr Gatte hat hundert Doppelkronen verloren. Noch nicht, sagen Sie Herr Rittmeister? Wetten, daß? Sie kneifen? Ja, ich kenne Sie. Meine getreuste Opposition, aber wenn man Sie beim Worte nehmen will, sind Sie nicht zu haben. Ah, was hab' ich gesagt? Kuratel nimmt sich Zeit. Er schont seine fitness». Aber die Ersten werden die Letzten sein. Hier ist's umgekehrt. Ich kenne diesen blauen Jockey vom Derby und Grand Prix, aber er reitet immer und überall so. Erst bedächtig, eine miserable pace und läßt sich ruhig verwünschen und auspfeifen bis hart vors Ziel, dann aber, wenn die anderen schon ausgepumpt sind, fliegt er wie aus der Pistole geschossen an ihnen vorüber und als Erster durch.«

» Impossibel!« rief ein kleiner hagerer Kerl in karikiert modernem Anzug, das Schnurrbärtchen gewichst, das Glas im Auge.

»Selbst impossibel!« höhnte Leona. »Smith ist nichts impossibel

»So wetten Sie doch, Mister Burslem,« ermunterte der Rittmeister.

»Mit einem Kollegen nie!« rief die Schulreiterin, » au grand jamais! Treten Sie für ihn ein, Herr Rittmeister, wenn Sie Ihrer Sache so gewiß sind. Sehen Sie jetzt, wie weit der old fellow zurück ist? Ein heißer Favorit, und welche Papierform! Herrlich, mais c'est raide! Na, wetten, daß?«

»Fünfzig Kronen?«

»Nie unter hundert!« sagte die Schlange mit einem geringschätzigen Schmollen.

»Ich halte die Wette,« warf ein baumhoher Rittmeister von den Gardekürassieren ein.

» All right, mon prince,« erwiderte sie. »Fürst Saßnitz for ever

Jetzt schwieg die Gesellschaft, denn alle lugten atemlos mit Stechern und Lorgnetten aus, und diese Pause benützte Hans, um sich Lothar zu nähern. Doch dieser hatte ihn bereits gesehen. »Kousin,« sagte er halblaut, »führe doch nachher meine Frau zu meinen Eltern hinüber. Ich mag mich nicht zeigen, sonst gibt es Krach mit Mama. Ich reite unterdes für Graf Kölla.«

Die Unterhaltung ringsum wurde wieder lauter, diesmal gab aber die wie ein Zirkuspferd mit Seidenbändern behangene Mutter der Miß, die neben dem Baron Berkow stand, den Ton an, denn ihr bangte für die Wetten ihrer Tochter. Kuratel verlor immer mehr Terrain, und Adelheids Vater ermangelte nicht, die Zirkusmutter mit seinen Bemerkungen noch ängstlicher zu machen.

»Ich behaupte, das Pferd ist gut, aber der Jockey taugt nichts,« rief er.

»Jockey und Favorit sind herrlich,« schrie Miß Leona, siegesgewisser als je. »Ich bitte Sie: Kuratel von Mohamed aus der Etelka!«

» Ma fille, t'es fichu!« sagte die Mutter mit einem nervösen Zucken ihrer Mundwinkel, das ihre Aufregung verriet. Doch damit reizte sie nur die Keckheit der Schulreiterin.

»Ich wette noch immer und mehr als je,« rief sie. »Mit aller Welt! Kuratel for ever

Jetzt hatte Adelheid, die von einigen Kameraden ihres Gatten umringt war, Hans bemerkt. Sie machte schnell ihren Vater auf ihn aufmerksam und schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Willkommen in der Heimat!« sagte er.

»Wo ist Ihr Onkel?«

»Dort auf der Tribüne. Kommen Sie, meine Tante erwartet Sie.«

Ohne sich nach ihrem Gemahl umzusehen und in völliger Gleichgültigkeit für das Rennen nahm sie seinen Arm, und bald standen sie vor dem Generalkonsul, dessen Gemahlin die junge Schwiegertochter umarmte.

»Wo ist Lothar?« fragte sie.

»Er reitet.«

»Er reitet?« wiederholte der Konsul, während seine Frau einer Ohnmacht nahe war.

»Graf Kölla ist plötzlich erkrankt,« erklärte Adelheid. »Nun reitet Lothar an seiner statt Alastor.«

»Und das gibst Du zu, Adel?« rief die alte Dame erstaunt.

»Was kann ich thun? Lothar will. Lassen wir ihm seinen Willen.«

Ihre Unterhaltung wurde von der rings wachsenden Aufregung erstickt. Die Pferde schossen dem Ziele näher. Das Publikum schrie, jubelte, fluchte. Sportausdrücke flogen umher. Sogar die Gewohnheitspieler zitterten nervös, jeder ihrer Muskeln schien gespannt. Auch Lenz hatte seinen Sohn vergessen und schaute, über die Barriere gebeugt, mit seinen doppelten Gläsern auf die einherjagenden Pferde. Jetzt waren sie kurz vor dem Ziel. Die Jockeys schrieen und arbeiteten mit Händen und Füßen, mit Sporen und Gerte. Die Pulse der Spieler hämmerten fast hörbar, und stille, ganz stille wurde es plötzlich ringsum. Aba, bisher an der Spitze, verlor Terrain und warf sich unter den Hieben des Jockeys nach links und nach rechts. Die anderen überholten ihn. Ein wüstes Geschrei erhob sich. »Kuratel! Kuratel! Hip hip hip hurrah!« – »Schindmähre!« antworteten wütende Stimmen, aber alles Toben half nichts. Der blaue Jockey, ganz eins mit seinem edlen Pferde, hatte bisher seine Kraft gezügelt und geleitet; jetzt aber war es ein blindes Drauflosschießen mit rudernden Armen, wilden Gertenschlägen, heiserem Aufschreien. Da raste er als erster durchs Ziel ... Dann verließen die abgetriebenen Pferde und Reiter die Bahn, Applaus und Fanfaren begrüßten den Sieger.

Eine laute Gruppe von Turfkennern und Sonntagsreitern fand sich auf dem Sattelplatze zusammen und schimpfte auf einen bekannten Börsianer, den ewigen Baissier Moritz, der den Jockey beschuldigte, Aba zurückgehalten zu haben.

»Nein, nein, alles war ehrlich!« behauptete Gollnow, der Roßtäuscher.

»Was Ehrlichkeit!« rief der kleine Börsianer hohnvoll, »seit ich weiß, daß die Jockeys immer reicher und die Stallbesitzer immer ärmer werden, wette ich grundsätzlich nicht mehr. Der Teufel hole die Rennbahn und den Wettring! Tierquälerei und Hazardspiel mit Mogelei – weiter nischt!« Und bei diesen Worten warf der unverbesserliche Krakehler heimlich seine Wettkarten weg.

Unterdessen wurden dem gewiegten Pferdekenner Hitschold am Totalisator für seine Krone 1823 Mark ausgezahlt. Er traute seinen Augen kaum und wollte das Geld durchaus nicht annehmen, doch Hinnen raffte es für ihn ohne weiteres zusammen und steuerte ihn durch die Menge glücklich zum Buffett.

Vor den Tribünen tauchte jetzt der Kommerzienrat auf, der eben angekommen war. Er drängte sich mit seinen beiden Damen am Arm herbei, um den Generalkonsul und die Seinen zu begrüßen. Sie kannten die Frau Direktorin schon, aber Adelheid mußte sich vorstellen lassen. Die zwei jungen Damen standen in anscheinend eifrigem Gespräch neben einander, und Lenz warf mitten in seiner Unterhaltung mit Heller und Frau vergleichende Blicke auf sie. Vor der mit auffallender Eleganz gekleideten Wicky trat die einfachere Adelheid zurück, und auch neben ihrer aristokratisch regelmäßigen Schönheit konnte sich die Fabrikantentochter trotz ihrer kleineren Figur und des impertinenten Stumpfnäschens wohl sehen lassen.

»Denken Sie nur, mein Lothar reitet!« rief Frau Lenz, die sich noch immer nicht beruhigen konnte, und ihr Gatte gab sich alle Mühe, ihr die Ungefährlichkeit der Sache einzureden. Doch umsonst, die alte Dame, die zu klagen liebte, sprach von ihren schrecklichen Träumen in vergangener Nacht und sah ihren Liebling schon mit zerschmettertem Kopf auf dem Rasen liegen. Auch dem sich langweilenden Heller schien der Ritt eine unglaubliche Tollkühnheit, aber da er von dergleichen nichts verstand, so hielt er mit seinem Urteil zurück und erlaubte sich nur den bescheidenen Ausruf: »Ich dachte dafür sind die Jockeys!«

»Fürstenwalder Jagdrennen,« las Frau Viktoria ziemlich laut von ihrem Programm, um die naive Bemerkung ihres Gatten zu übertönen, »für vierjährige und ältere Pferde im Besitze von aktiven Offizieren der deutschen Armee und von solchen zu reiten. Ach, ich schwärme für das Herrenreiten. Es ist mir beim besten Willen unmöglich, mich für diese aufgeputzten Affen, die Jockeys, zu erwärmen. Es sind Leute vom Fach, Stalljungen, die mich nicht interessieren. Aber beim Herrenreiten ist es ganz etwas anderes. Ich bewundere die Geschicklichkeit dieser Reiter und ihren Wagemut umso mehr, als sie bloß Dilettanten, Amateurs sind, und es gar nicht nötig haben. Man wettet dabei auf den Reiter, nicht auf das Pferd.«

Wicky stimmte ihrer Mutter rückhaltlos bei und versicherte Adelheid einmal übers andere, wie sehr sie ihren Gatten bewundere.

»Ich beneide Sie um den Besitz eines solchen gentleman-rider« beteuerte sie und kam sich sehr weltstädtisch vor. »Natürlich wetten wir alle auf sein Pferd.«

Hans wollte noch schnell mit den Aufträgen der Damen zum Totalisator, doch Wicky und ihre Mutter, die jede ein Goldstück wagten, baten ihn, sie mitzunehmen, um den »Geschäftsgang« kennen zu lernen. Nebenbei hofften sie beide, Lothar doch noch zu sprechen oder wenigstens in seine Gesellschaft von Offizieren eingeführt zu werden. Um ihrer Sache gewisser zu sein, baten sie Adelheid, sich ihnen anzuschließen. Und damit ergriff Frau Viktoria ihren Arm, während Wicky Hans unterfaßte.

»Wer sind denn dort jene zwei roten Damen, mit denen Ihr Herr Papa spricht?«

»Miß Leona, die berühmte Schulreiterin, und ihre Mutter,« gab Adelheid zur Antwort.

»Ach, eine Schulreiterin, wie interessant! Bitte, stellen Sie uns vor.«

Es geschah, und die beiden Damen aus der Rheinprovinz maßen die imposante Schönheit und ihre mütterliche Karikatur mit großen Augen. Die Miß kümmerte sich wenig um sie, denn mit Damen konnte man ja nicht wetten. Umso eifriger wandte sie sich an die Offiziere. Bloß den alten Baron von Berkow verschonte sie, denn sie kannte ihn als geizig.

»Es ist selbstverständlich, meine Herren, daß Sie auf Alastor wetten?« rief sie aus.

»Gewiß,« war die allseitige Antwort.

»Wir auch!« warf Frau Viktoria mit Wichtigkeit ein.

»Was der Tausend, Sie auch?« fragte Leona nicht ohne Ironie.

»Ja, gehen Sie, Herr Lenz, ehe die Kasse geschlossen wird.«

Ein habgieriger Zug zeigte sich in dem geschminkten Gesichte der Zirkusdame. »Voyons, Sie werden doch nicht am Totalisator spielen?« rief sie entrüstet. »Eine Institution, die so ungalant ist, die Damen auszuschließen, sollen wir nicht unterstützen.«

»Da haben Sie eigentlich Recht.«

»Also helfen wir uns selbst und richten wir einen Privattotalisator ein, indem wir unter einander auf Laufen oder Zahlen wetten.«

Wicky und ihre Mutter fanden das sehr sinnreich, trotzdem ihnen die Sache nicht klar war. Die Miß schien es zu merken, und erklärte sich deutlicher.

»Sie wollten eben am Totalisator auf Alastor setzen, Madame. Wieviel war's doch?« »Zusammen vierzig Mark.«

» Bon, ich wette eben so viel, daß Alastor verliert. Halten Sie die Wette, ja?«

Frau Viktoria errötete bis unter ihren weißen Spitzenhut und wußte eigentlich nicht warum. Vielleicht über die ungewohnte Situation. Aber Miß Leona half ihr darüber weg und hielt ihr die Rechte hin, die sich wie eine Krallentatze um ihre Hand schloß, sobald sie einschlug.

»Das ist der wahre Totalisator,« sagte sie lächelnd, drehte ihr den Rücken zu und wettete mit den übrigen. Nur Adelheid weigerte sich, für oder gegen Alastor zu spielen, was die alte Zirkusmutter, die abergläubisch war, sehr lebhaft billigte.

Unterdessen suchte Hitschold vergeblich, den Spinnmeister den Freuden des Buffetts zu entführen. Er hatte dem deutschen Schaumwein Geschmack abgewonnen und trank ihn wie Wasser, denn er war an schwerere Tropfen gewöhnt. Er ließ sich denn auch nicht eher von der Stelle bringen, als bis drei Flaschen leer waren, und so kamen sie zu spät, um noch mit Kennerblick die Pferde prüfen und wetten zu können. Fluchend stand Hinnen-Lotz vor dem geschlossenen Totalisator. In diesem Augenblicke senkte sich drüben die Fahne, und der wilde Ritt begann. Es war ein weiter, beschwerlicher Weg zwischen den roten und weißen Wendeflaggen, die Sandhügel auf und ab, an 4500 Meter. Und mit welcher tückischen Kunst war die Bahn durch Hindernisse und Hürden gesperrt und noch schwieriger gemacht! Vierzehn Sprünge über Wassergräben, Koppelricks, lebende Hecken, Hürden, Wälle und Steinmauern mußten zurückgelegt werden, indes die Reiter in rasendem Galopp die Hügel empor- und niederhasteten, die Zügel nicht zu locker, um das Pferd zu führen, und nicht zu straff, um der Schnelligkeit keinen Eintrag zu thun. Und so ging es im gestreckten Lauf über die gelbe Haide. Jetzt blitzte der Rudel Pferde einen Sandhügel hinauf, glitt in eine Bodenfalte, daß nur die Mützen und Pferdeköpfe zu sehen waren, verschwand gänzlich und flog querfeldein, um in einem weiten Bogen wieder in der Ferne zu erscheinen. Den Krimstecher vor der Brille, verfolgte der Generalkonsul die am Horizonte verschwindenden und auftauchenden Reiter.

»Lothar macht's,« sagte er zu seiner Frau. »Er sucht in der findigen Ausnützung des Terrains seinen Meister und hat die Führung. Aber jetzt kommt der irische Wall. Gut gesprungen! Da stiegt der rote Husar in den Wassergraben. Das spritzt nur so.«

»Um Gotteswillen!« schrie seine Frau. »Und Lothar?«

»Ist längst über alle Berge.«

Am Horizonte flatterte die Weiße Rotfahne auf, die den Arzt herbeirief, und man sah, wie die Beamten zur Unglücksstätte eilten, um dem Reiter Beistand zu leisten und das davonstürmende ledige Pferd einzusaugen.

»Da kommen sie wieder,« sagte der Konsul ruhig.

Und wirklich sah man jetzt die kühne Haß in geringer Entfernung vorübersausen, allen voran Lothar.

Die Zuschauer in den Logen waren in der Erregung von ihren Sitzen aufgeschnellt, und auf dem Rasen eilte alles an die Barriere und sprang auf die Sessel, um besser zu sehen.

»Ist es jetzt zu Ende?« fragte die Frau Generalkonsul ihren Gatten.

»Noch nicht, Mama,« antwortete er, ohne den Stecher von den Augen zu ziehen. »Sie haben erst die Hälfte der Bahn. Da schau, wie sie den Hügel stürmen. Hopp! Hopp! Schon wieder eine Hürde! Und nun sind sie wieder bloße Punkte am Horizont.«

Die Aufregung der Zuschauer wuchs, je näher die Reiter dem Ziele kamen. Jetzt rasten sie wieder in einer scharfen Wendung von Osten daher, immer größer wurden die Pferde, immer deutlicher die Farben der Reiter. Spielend setzten sie über eine lebende Hecke mit Ricks, doch mehr als einer war erschöpft, und der Ulan fiel beim Sprung fast vornüber, sammelte sich aber schnell, indessen Lothar ihm weit voran flog. Nun entstand ein Kampf. Mit Armen und Füßen trieben die Reiter an, die Gerten zischten über die dampfenden Schultern, Geschrei, Hopp! Da noch eine letzte Hürde und das Verhängnis! Alastor nahm den Sprung zu kurz, blieb mit einem Hinterbein hängen, riß die Wand von dürren Sträuchern zu Boden und fiel. Sein Reiter flog in den hoch aufstäubenden Sand, während die anderen an ihm vorüberstürmten.

Ein Schrei des Entsetzens durchhallte die schwüle, staubige Luft. Er kam nicht von Adelheid, wie Hans bemerkte, sondern von seiner Tante, die ohnmächtig in ihren Stuhl sank. Während ihre Angehörigen sich um sie bemühten, schossen die dampfenden Rosse über das Ziel hinaus, und alles rannte von den Tribünen hinab, um den Grafen Hocke II. vom Regiment Gardes du Corps als Sieger zu begrüßen.

Die Mehrzahl der Zuschauer war über den Ausgang des Rennens entrüstet, denn man hatte fast allgemein auf Lothars Pferd gewettet. Die zerrissenen Tickets flogen in die Luft, und kräftige Verwünschungen wurden laut, aber als jetzt der Sieger bleich, schweißbedeckt und atemlos auf seinem dampfenden Pferd hereinritt, da mischte sich in den Tusch der Kapelle ein brausendes: Hoch! für das der Reiter mit einem matten Lächeln dankte.

Jetzt erst kümmerte man sich um die Verunglückten. »Beide sind gut gefallen,« ging es von Mund zu Mund, »aber Alastor ist hin.« In der That war Lothar längst wieder leidlich auf den Füßen und ging, auf sein Pech fluchend, den teilnehmenden Freunden entgegen. Auch die Seinigen drängten sich heran. Ohne sich um ihn zu kümmern, jubelten Miß Leona und ihre Mutter noch immer über ihre gewonnenen Wetten und strichen die Gewinne lachend ein.

Nur Alastor lag mit gebrochener Vorderfessel hilflos am Boden, und seine Augen schienen nach Rettung zu suchen. Ganz vorn im Kreise der Umstehenden war Hitschold voll herzlichen Kummers um das edle Tier, das nur der Tod von seinen Leiden befreien konnte. Doch da blieb keine Zeit zu empfindsamen Betrachtungen. Auf dem Turf ist man auf solche Unfälle vorbereitet. Schweigsam erschien ein Angestellter des Vereins für Hindernisrennen, seine Doppelflinte in der Hand. Er legte sie an die Wange und begann das gefallene Roß zu umkreisen, um einen guten Zielpunkt zu finden. Der arme Alastor ahnte nichts Gutes und wich mit dem Kopfe den blinkenden Läufen des Gewehres aus. Seine großen schönen Augen richteten sich, wie um Hilfe flehend, noch einmal auf seinen Stallknecht, der in der Nähe stand. Da krachte der Schuß. Das zu Tode getroffene Tier bäumte sich noch einmal auf, schlug mit Hufen und Schweif den Boden und lag starr ausgestreckt da.

»O, die Schinder!« rief Hitschold entrüstet. »Das gute Roß! schöner nützt nichts!«

Obgleich die Familien Lenz und Heller nicht Zeugen dieses traurigen Schauspiels waren und auch Lothar nur mit dem Schrecken davongekommen, so war ihnen doch die Lust, länger zu bleiben, gründlich vergangen. Es gelang sogar, den Leutnant, der trotzdem noch bleiben wollte, zum Mitgehen zu veranlassen, und so fuhren sie alle in einem riesigen offenen Klubwagen, den Lothar lenkte, in die Stadt zum gemeinsamen Mahl. Die Stimmung heiterte sich bald wieder auf, bloß die Frau Generalkonsul war noch immer mehr tot als lebendig. Sie schloß die Augen und schlug sie nur noch von Zeit zu Zeit auf, um nach ihrem Lothar zu sehen. Gott sei Dank, da thronte er ja auf dem Bock, gesund und munter, und warf Wicky ein Scherzwort zu, ein Tausendsassa, für den alle Weiber schwärmen mußten und der eigentlich viel zu früh geheiratet hatte. Aber dann sah sie wieder seinen entsetzlichen Sturz und schaudernd betete sie: Lieber Gott, lasse mich nur vor ihm sterben!

»Kousine,« sagte Hans in einem unbewachten Augenblicke leise zu Adelheid, »sind Sie glücklich?«

»Ja,« erwiderte sie mit fester Stimme.

»Sie wissen, daß man auch mich vermählen will?«

»Dann wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen alles Glück.«

Er sah sie scharf an, um in ihrer Seele zu lesen. Sie wich seinem Blicke nicht aus. So ruhig und fast heiter schien sie! Gewiß, das war das Glück, das auch sie ihm wünschte. Wohlan, so wollte auch er seinem Jugendtraum ein Ende machen. Er küßte ihr die Hand und wandte sich zu Viktoria Heller, die ihm schon den ganzen Nachmittag ermunternd zugelächelt hatte. Sie wußte ja, was im Werke war. Auch sie mißfiel ihm nicht, namentlich jetzt, wo er nicht mehr an die andere denken durfte. Gewiß ein munteres, oberflächliches Weltkind, sagte er sich, aber leicht zu leiten und nach Wunsch zu erziehen! ... Die Kommerzienrätin beobachtete verstohlen das Pärchen, wobei sie nicht aufhörte, eifrig auf die alte Dame einzureden, die noch immer jammerte, ihr Lothar habe sich gewiß einen inneren Schaden zugefügt. Lenz und Heller sprachen von Geschäften. Als sie Unter den Linden ausstiegen und das Restaurant betraten, war Hans mit Wicky schon im Reinen. Er sagte seinem Onkel leis ein Wörtchen, der es an Heller weiter gab, und die beiden Alten schüttelten sich lächelnd die Hände. Bald saßen sie alle um den gedeckten Tisch. Beim Dessert klopfte der Kommerzienrat an sein Glas und proklamierte die Verlobung seiner Tochter mit Hans Lenz, und jubelnd ließ man auch die Firma Johannes Lenz & Komp. leben.


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