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Weiß Gott, wer dem alten Unternehr die Marotte in den Kopf gesetzt hatte; aber als er am frühen Morgen erwachte und das viele Licht sah, das ihm die Sonne auf die Bettdecke gelegt hatte, blinzelte er ein wenig mit seinen trüben Augen, hob die gekrümmte rechte Hand davor, als könne er die Helligkeit nicht mehr so recht vertragen, und sagte: »Gut, daß du gekommen bist, Sonnenlicht; denn heute muß ich sterben!«
Dann stand er auf und kleidete sich sonntäglich an.
Fertig geworden, rieb er sich Hände und Gesicht am feuchtgemachten Handtuch ab, ging in das Gärtlein vorm Haus, spazierte ein paar Schritte und setzte sich dann, eine große abgebrochene Lilie haltend, auf die Bank.
Aus der Lilie in seiner Hand stieg ein köstlicher Duft auf, und der Unternehr, der sonst nur wenig auf den Geruch von Blumen gab, konnte nicht anders, er steckte seine Nase tief in den Kelch der Blume und sog ihre Süßigkeit ein.
Lilien waren die Lieblingsblumen seiner Frau gewesen. Wo sie im Grabe lag, an der Südwand des Kirchhofs, gleich neben dem Missionskreuz, da stand jetzt ein ganzer Busch davon. Auch auf seinem Grab sollten sie stehen, aufrecht, Iilienmäßig und standhaft.
Da kam, mit einem roten Zettel in der Hand, der Polizeidiener Dischler den Weg herauf und wunderte sich nicht wenig, den Alten im Garten sitzen zu sehen.
»Was ist das mit Euch, Unternehr?« fragte er. »Habt Ihr in der Lotterie gewonnen, oder geht Ihr auf eine Hochzeit, daß Ihr Euch so in Staat geworfen habt?«
»Gut, daß du da bist, Dischler, aber deinen Mahnzettel kannst du wieder mitnehmen; ich zahl doch nichts! Denn heute muß ich sterben!« sagte der Unternehr und steckte die Nase von neuem in die Blüte.
»Macht keine Witze, Unternehr!« lachte der Polizeidiener. »Ein Mann wie Ihr, und schon sterben! Das wär' gelacht! Was sind sechsundsiebzig Jährlein! Andere tragen mehr. Und wenn man Euch sieht, wie Dir im Garten herumwerkt oder das Gras schneidet in den Neudörfler Wiesen, so hat man seine Freude daran und sagt, schaut nur den Unternehr, der nimmt's noch auf mit den Jungen!«
Der Alte hatte diese Lobrede wohlgefällig angehört, dann schüttelte er den Kopf, daß die paar weißen Haarsträhnen im Lichte zitterten und hielt dawider:
»Dischler, ich weiß, was ich weiß. Glaub mir, heut muss ich sterben!«
Da steckte der Polizeidiener den Steuermahnzettel, den er bisher unschlüssig in der Hand gehalten hatte, endgültig ein und ging den Weg ins Dorf zurück.
Bald danach wußte es das ganze Dorf. Der alte Unternehr stirbt! Der alte Unternehr stirbt!
Die Männer waren auf den Feldern oder in der Fabrik, die Weiber auch; die Kinder saßen in der Schule, so waren denn nur ein paar alte verhutzelte Mütterchen da und drei, vier alte, an Krücken gehende Männer, die Sterbegesellschaft sein konnten.
Die weiße, geschwätzige Schneibele hatte die rechte Witterung. Sie lief ins Pfarrhaus hinunter.
Die anderen humpelten hin zu Unternehrs Haus.
Der Alte war inzwischen nicht müßig gewesen, sondern war in die Beete gegangen und hatte da alles abgerissen, was er an Lilien fand. So hatte er den ganzen Arm voll der starken Stengel, so viel er nur fassen konnte, und mit diesem Schatz stand er nun vor der Türe, als die Karawane der Alten kam.
»Es ist schön von euch, daß ihr mich aufsucht«, sagte er.
»Ich höre, du willst sterben?« forschte der rothaarige Dieterle.
»Ja, ja, es ist so. Heut muß ich sterben!«
»Schmeckt dir der Tabak nicht mehr?« fragte Dieudonné, der Veteran, und grub sein Holzbein in den Kies des Gartenwegs.
»Nein, mir schmeckt nichts mehr, der Tabak nicht und die Schweizerstumpen auch nicht!«
»Hm, Hm.« Und die beiden alten Soldaten, der Dieterle und der Dieudonne, sahen sich an und hoben die Augenbrauen. Wenn schon der Tabak nicht mehr schmeckte und die Schweizerstumpen auch nicht, holla, dann war alles gefehlt!
Da kam der Pfarrer, ganz rot im Gesicht vom eiligen Laufen. Die Leute merkten ihn erst, als das Gartentor hinter ihm ins Schloß schlug. Sie wichen aus und machten respektvoll Platz.
Der alte Unternehr ging dem Pfarrer ein paar Schritte entgegen. Der gab ihm freundlich die Hand und setzte dann den alten Mann auf die Bank hin.
Dabei fielen diesem die Lilien aus der Hand und bedeckten den Boden, wie das Muster des Teppichs in dem französischen Schloß, in dem der Unternehr in seinen jungen Jahren einmal Bursche gewesen war.
»Was habt Ihr für dumme Gedanken, Unternehr, Ihr und sterben! Und gerade heute, wo alles so schön ist! Hört nur, wie die Vögel singen! Schaut nur, wie lustig die Wolken gehn, wie warm ist die Sonne, und die Erde zerplatzt schier vor Herrlichkeit, und Ihr wollt davon gehen?!« redete der Pfarrherr auf den Alten ein.
»Ich will nicht, aber ich muß!« sagte der, und seine Augen schauten steifaus einem Vogel nach, der sich mit jedem Flügelschlag näher zum Himmel hob und schließlich ganz im unendlichen Blau verging. »Ja, ich muß, Herr Pfarrer! Ich habe in der Nacht eine Erscheinung gehabt! Meine Frau ist dagewesen, jung, wie sie als Mädchen gewesen ist, und lang angeschaut hat sie mich und gesagt: ›Unternehr, es ist Zeit!‹«
Die Alten hatten einen ehrfürchtigen Kreis um die Beiden gezogen und horchten offenen Mundes auf Unternehrs Rede.
Seine Frau war ihm erschienen. Als junges Mädchen. Mit Erscheinungen hat's etwas auf sich. Aber muß es deswegen gerade der Tod sein?!
»Macht Euch weiter keine trüben Gedanken!« redete tröstend der Pfarrer auf den Unternehr ein. »Wer weiß ...«
»Ja, wer weiß ...« sagte der Alte beistimmend und hob wiederum die abgeschaffte, ledrige Hand, als scheine die Sonne zu hell, und sein Kopf wandte sich zur Seite, als lausche er in der Ferne nach einer Gegend hin, aus der ihn jemand rufe.
Er stand auf.
Aber gleich beim ersten Schritt tat er die Arme weit auseinander, und stürzte jäh zu Boden.
Drinnen in der Stube legten der Pfarrer und die Weiber den Ohnmächtigen aufs Bett.
Die Weiber knieten hin am Boden und fingen an, zum heiligen Herzen Jesu zu beten.
Dieterle nahm den Hut ab, und sein feuriges Haar brannte im Halbdunkel des Raumes auf wie eine Flamme, in die knisternd der Wind fährt.
Dieudonné stand ohne Regung in der Ecke, als fürchte er sich, mit seinem Holzbein die Stille des Sterbezimmers zu stören.
Der Pfarrer war mit langen Schritten davon gegangen, um die letzte Ölung zu holen ...
Am Abend, als der Unternehr wieder zu sich kam, saß nur noch der rote Dieterle an seinem Bett.
»Gelobt sei Jesus Christus!« sagte er, als er sah, daß der Unternehr die Augen aufschlug. »He, der Pfarrer war hier und hat dich versehen. Willst du noch etwas?«
Der Unternehr nickte mit dem Kopfe. Es kostete ihm sichtlich Mühe, zu sprechen; aber doch verstand der Dieterle klar und deutlich:
»Schampus ... eine Flasche Schampus!«
»Was?«
Dieterles Mund wollte sich vor Erstaunen gar nicht mehr schließen. »Schampus? Jetzt Schampus? Am Sterben sein und Schampus trinken wollen?! Oho!«
So schnell ihn sein Stelzbein trug, humpelte er davon, um den letzten Wunsch des Sterbenden zu erfüllen. Letzte Wünsche sind etwas Heiliges. Es lebt unter uns Sundgauern die Meinung, wer einem Abscheidenden etwas versage, müsse nach dem Tode umgehen. Und davor schrecken alle zurück.
Der Pfarrer, den der Dieterle mit zitternden Händen herausschellte, ging mit in den Schwanen hinüber, und der Schwanenwirt sagte: »Dem alten Unternehr will ich seinen letzten Wunsch gern erfüllen; denn er hat manchen Sonntag auf eine Stunde bei mir gesessen und ein Krimmerle Roten gelüpft oder auch zwei. Hier, Dieterle, habt Ihr einen echten Französischen, er knallt wie eine kleine Kanone drüben auf dem Isteiner Klotz, wenn die Vierzehner pfeffern!«
Derweil so verhandelt wurde, lag der alte Unternehr im Bett, schaute die weißgekalkte Decke an, in der die Sprünge und Risse hin- und herliefen, wie Straßen und Wege auf einer Landkarte, und wunderte sich in seinen engen Gedanke, daß er jetzt hier auf dem Bett liege und sich nicht rühren könne. Wie ein Kind, das die Mutter braucht. Und wie merkwürdig es sei, daß er gerade jetzt auf einmal Lust auf Schampus kriege. Beim Eid, er war kein Schlemmer gewesen, sein ganzes Leben lang nicht. Er hatte geschafft, was der Buckel und was die Hände nur aushielten, und das Beste, was er sich je gegönnt hatte, war ein Schoppen Roter gewesen, oder ein Liter, je nachdem. Schampanjer, das war etwas Feines, für die Herrschaften, nicht für die gewöhnlichen Leute. O ja, denkt der Unternehr, der Dieudonné, der ist ja viel länger als ich in Frankreich gewesen. Der hat dort, er sagt es selber, mehr Schampanjer getrunken als Wasser. Noch heute, wenn der Dieudonné davon erzählt, zieht er die Augen zusammen und klopft sich auf die Schenkel. Schampanjer muß also etwas Gutes sein. Vielleicht das Beste, was die Welt überhaupt bietet! Da ist es sicher keine Sünde, ein Glas davon zu versuchen, ehe man stirbt! Wie frisch mußte das schmecken! Wie feurig! Ordentlich jung machen mußte es einen!
Da stand schon der Pfarrer mit seinem grauen Kopf im Zimmer, und der Dieterle holte ein Glas aus der Küche.
Hei, gab das einen Knall, als der Draht gelöst war und der Pfropfen aus der Flasche sprang!
Nein, der Pfarrer brauchte sich gar keine Mühe zu geben, den alten Unternehr aufzurichten, und ihm ein Kissen hinter den Rücken zu stopfen, nein, das kann er selber noch, das wäre noch schöner! Und seine Augen funkelten verlangend dem gefüllten Glase entgegen, das der Dieterle brachte. O, jetzt hielt er das Glas in Händen!
Wie die Schaumperlen stiegen!
Jetzt setzte er an!
Jetzt trank er!
In einem langen durstigen Zug!
Das war Champagner?
Das war das Getränk, das der Dieudonné oft so begeistert gepriesen hatte?
Das also, das?!
Wie fade das schmeckte! Wie Leim blieb es an seinen Lippen kleben.
Und seiner Hand entsank das Glas und klatschte in Scherben nieder.
Er fiel zurück.
Der Pfarrer drückte ihm behutsam die Augen zu, kniete neben den Scherben nieder und sprach die uralten Totengebete.
Dem roten Dieterle aber lachte das Leben.
Mit der geleerten Flasche im Arm hat ihn nachher der Pfarrer beim Heimgang im vordersten Gartenbeete gefunden.