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Die Musterung

Der Tag fing schon gut an.

Es kam eine stechige Sonne den Himmel herauf, und der Unterähr sagte, als er mit der Fahne auf der Kreuzstraße stand, wo wir uns sammelten: »Heut gibt's Profitwetter für die Brauerei!« Und zur Bestätigung seines Spruchs wischte er sich die ersten Schweißtropfen von der Stirn und aus dem weißgestärkten Kragen.

Punkt acht Uhr mußten wir im großen Saal im Storchen zu Hüningen sein, um uns mustern zu lassen.

»Frischgewaschen!« stand fettgedruckt im Gestellungsbefehl. Darum funkelte alles vor Kernseife, sogar unsere Laune. Und als wir nun abmarschierten, die Musik und die Fahne voran, und das Lied hinaussangen in den strahlenden Morgen:

So leb denn wohl, wir müssen Abschied nehmen,
die Kugel wird ins Flintenrohr gesteckt ...

und nachher, als der Sang vorbei war, und bei der Musik auf einmal der Schlegel gegen die dicke Trommel bollte und dann die Lebenslust herausschrie aus all dem gelben Messingblech und aus den schwarzen Klarinetten, daß sich die Füße von allein hoben und man meinte, tanzen zu können, oder grad hinauf in die Luft zu steigen, so wohl war einem, so leicht und ballonig, da, als das alles klang und sprang und tschätterte und schmetterte, traddibumms, traddira, ja, da taten sich wirklich die Türen und die Fenster auf, wie's in dem alten Kommislied heißt, und der Lustklang war so stark, daß es selbst den faulsten Siebenschlaf aus den warmen Bettüchern holte.

Ja, da guckten die Mädchen nach uns und schnoben die Luft ein und wären am liebsten jetzt mit uns auf und davon, statt in die langweilige Appretur oder in die lärmende Seidenbandwebe, und sogar die alten Krauter, die hinter den Gartenzäunen standen, selbst die mußten sagen: »Ja, ja, die Conscrits schwingen's! Es gibt halt doch nichts Schöneres, als jung sein!«

Jawohl, die alten Krauter haben recht: Es gibt wirklich nichts Schöneres, als jung sein!

Hinter der Fahne, die flatternd aufblüht, hinter einer Musik, die aufspielt, daß alle Gelenke sich wohltuend wiegen, und wissen, die Mädchen sind da und schauen einem nach, und vor allem die eine, die dich gern hat, die dir diese Unmasse bunter seidener Hutbänder geschenkt hat für den heutigen Tag, alles im gleichen Schritt und Tritt, so daß man nicht für sich ist, sondern ein großes, einziges, verbundenes Wesen bildet, wirklich, es gibt für einen Zwanzigjährigen nichts Schöneres.

Da staubte ein langgestreckter grauer Militärwagen an uns vorbei. Die Offiziere darin lachten, als sie uns sahen, und waren, kaum aufgetaucht, auch schon wieder verschwunden.

»Vor denen müssen wir heute noch strammstehen!« sagte Greder Heinrich, mein Nebenmann. »Das ist nämlich die Musterungskommission!« Da kam ich beim Schall seiner Stimme wie aus einem Traum zu mir und merkte, daß wir ja schon weit aus dem Dorf draußen waren, bereits den Akazienbuckel hinunter, halbwegs Hüningen.

Wir waren nicht die einzigen: weit vor uns marschierten bereits Conscrits aus den anderen Dörfern, Kolonne vor Kolonne, und hinter uns trug der Wind gewaltig viel Trommelschlag und Marschmusik her; von der Rosenau und von Kembs her kamen sie auch; überall, wo die großen Heerstraßen waren, Leben!

Alles, was zwanzigjährig war, drängte sich, um nach Hüningen hineinzukommen.

Um acht Uhr, auf die Minute genau, ging die Musterung an.

Der große Saal im Storchen war frei gemacht; alles ausgeräumt, bis auf ein paar Tische, Stühle und Bänke.

Vorn, neben dem Fenster, wo das beste Licht war, saß die Musterungskommission mit ihren Listen und den großen Tintengeschirren. Am Eingang schrie ein Feldwebel mit lauter Stimme die Ortschaften aus, nach den Ortschaften die Jahrgänge, nach den Jahrgängen die Namen der einzelnen Gestellungspflichtigen.

Es mußte alles sehr schnell gehen.

Sobald der Feldwebel an der Tür den Namen der Ortschaft rief, hieß es: »Raus aus den Kleidern!« Aber schleunigst! Kam der Namensaufruf, so mußte man schon als nackter Adam unter der Meßstange stehen.

Ja, was dieser aufgeregte kleine Dicke mit dem Wurm auf der Achselklappe die geringen Brustkästen beschrie!

»Da sollen Lungen drin sein?« höhnte er. »Höchstens Fahrradschläuche, die man vergessen hat, aufzupumpen!«

Aber trotzdem nahm er den ganzen Jahrgang.

Als wir wieder auf die Straße kamen, war bereits der Jahrmarkt im Gange. Die Buden hatten aufgemacht, und da standen die Wagenleute und hängten einem beinahe mit Gewalt die großen, schreiendbunten Federnsträuße an und die glitzernden, goldgeschmückten Schilder, auf denen die Truppe stand, zu der man gezogen war.

Die Wirtschaften um den Platz hatten Hochbetrieb. Das Bier floß in Strömen.

Es ging so wusslig zu, wie in einem Bienenstock. Bald stoben die ersten Späne. Der Julo Oschger kam mit ein paar angetrunkenen Neudörflern ins Gemenge, und es hätte sicher böse Streiche gegeben, wenn nicht der Unterähr unter den Haufen gesprungen wäre und mit der Fahnenstange tüchtig für Ernüchterung gesorgt hätte.

»Ihr Türmel!« schrie er nachher, als alle schweratmend voreinander standen, »wollt ihr mit aller Gewalt ein paar Monate ins Loch?! Wißt ihr nicht mehr, daß ihr heute unter Kriegsgesetz steht? Da setzt es doppelte Portionen!«

Die Fäuste entballten sich. Die Neudörfler rückten die verschobenen Krawatten zurecht und sagten: »Aufgeschoben heißt nicht aufgehoben! Wir werden diesem Centimesfitzer die Hühnerbrüstler und die Wurmäßigen schon anstreichen!«

Kurz nach halb zwölf blies unsere Musik einen Tusch.

Jetzt hieß es losmarschieren, wenn wir noch zum Mittagspfiff vor den Fabriken sein wollten; denn das war der Glanzpunkt des Tages, die Parade vor unseren Mädchen.

Als wir kamen, stramm wie richtige Soldaten, standen schon alle die Schätze am langen Hag der Fabrik. All die Blonden, die Braunen, die Schwarzen im schönsten Sonntagsstaat, so hatten sie sich für uns herausgeputzt.

Die Trommel bollte, die Klarinetten schrieen, helle Marschjauchzer schallten, das Triangel klang und unser Fähnrich, der Unterähr, schwenkte die Fahne, daß sie ordentlich durch die Luft pfiff. Es war eine Lust für uns, das flatternde, knatternde Rotweiß so bunt und gesund über unsern bänderumwallten Hüten zu schauen.

Durch den halbstündigen Marsch von Hüningen her, war der Alkohol aus den jungen Schädeln verflogen; dafür war etwas Schlimmeres da, der Drang, sich vor den Mädchen groß zu machen.

Von der Kreuzstraße an, sollte die Fahne vom Bäckle getragen werden. Aber der Unterähr in seinem Schwingerstolz dachte gar nicht daran, sie aus den Händen zu geben. »Hab ich sie so lang getragen, kann ich sie auch noch die paar Schritt bis zur Wirtschaft weitertragen!« bellte er. Wahrscheinlich wäre er gar nicht so auf die Fahne versessen gewesen; aber er hatte neben dem Brunnen die kleine Weißhaar stehen sehen, und wenn die ihre Augen nach ihm warf, war's mit dem Unterähr aus.

Der Bäckle ließ nicht locker. Er pochte auf die Abrede und auf sein Recht. »Es ist meine Fahne!« schrie er. »Wer hat dazu das meiste Geld gegeben? Ich!« Es war nicht klug vom Bäckle, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt mit seines Vaters großem Portemonnaie zu winken. Wenigstens lief der Unterähr bei diesem Satz an, wie die Seide im Trog beim Rotfärben.

»Was, Geld?« schrie er zurück. »An einem solchen Tag Geld? Hier hast du dein Geld!« und schon hatte er die Fahnenstange übers Knie genommenem drei Stücke zerbrochen und diese Stücke dem Bäckle ins Gesicht geworfen.

Was darauf folgte, wissen nicht einmal die genau, die mitten drin gewesen sind und nachher von der Polizei als Zeugen vernommen wurden.

Die Kreuzstraße war auf einmal zu einem Haufen dreinschlagender Menschen geworden. Wer weiß, wie lange die Schlägerei gedauert haben würde, wenn nicht auf einmal die kleine Weißhaar vom Brunnen her aufgeschrien hätte. Ein unheimlich hoher schriller Ton war das, der einem das Ohr zerriß. Ein Ton, so angefüllt mit Entsetzen, daß alle von einander abließen und die zuhauenden Hände vor Schrecken erstarrten.

Noch ehe jemand recht begriffen hatte, was gewesen sein konnte, rannte der Bäckle die Basler Straße hinauf, der Grenze zu, ein offenes Messer in der Hand. Alle waren starr vor Überraschung.

Es dachte keiner daran, ihm den Weg zu verstellen oder gar, ihm nachzusetzen.

Auf dem Boden aber, über der zerbrochenen weißroten Fahne, lag erstochen der Unterähr, beide Hände in den Kalk der Straße vergraben, als ob er ein Stück vom Pflaster losreißen wollte.

Als die Sanitäter kamen, hoben die vier Mann behutsam den Unterähr auf. Doch sie hätten ihn nicht so vorsichtig anzufassen brauchen. Er war ja schon tot.

Wir Conscrits standen da mitten auf der Kreuzstraße im Sonnenlicht und sahen einander an wie die Blöden. Keiner wußte, wo er seine Hände lassen sollte.

Sarrasins Fabrik hatte inzwischen längst wieder zur Arbeit gepfiffen; doch noch immer harrten die Leute aus, als könnten sie sich von der Unglücksstelle nicht trennen. Erst als der Dischler kam und unsere zerrissene, zerbrochene Rekrutenfahne wegnahm, verliefen sich die Neugierigen.

Sie haben nicht recht daran getan.

Denn kurz danach kam von der Grenze her der Viehhändler mit seinem Kälberwagen angerumpelt, den Messerstecher Bäckle hinter sich im Netz.

»Dicht vor der Grenze, keine fünfzig Schritt vom Herion, ist er mir ins Gai gelaufen!« berichtete aufgeregt der Haas. »Und am Messer, das er schwang, hab ich gesehen, daß irgend etwas an der Kiste nicht sauber ist. Also hab ich ihn freundlichst eingeladen, bis auf weiteres in meinem Wagen Platz zu nehmen!«

Während der Viehhändler noch dabei war, seine Heldentat recht breit auszumalen, während er schilderte, wie ein paar Tritte notwendig gewesen seien, um den Messerstecher zum Besteigen des Viehwagens zu ermuntern, gab's auf einmal einen dumpfen Schlag.

Auf dem Wagen, hinter dem Netz, knickte etwas wie ein geschlagenes Kalb zusammen.

Auf der Radnabe stand die kleine Weißhaar und hatte einen Stein in der Hand.

Den ließ sie jetzt fallen und schritt wieder zum Brunnen.

Alles schrie wild durcheinander, am lautesten der Haas.

»Wohin jetzt mit ihm?!« schimpfte er. »Ich kann doch zu Hüningen im Loch keinen Toten abliefern!«

Wir schoben auf diesen Schrei hin sofort ab; denn aus dem Gemeindehaus kam wieder der Dischler, und keiner hatte Lust, zu allem hin auch noch Zeuge zu sein. Zudem war höchste Zeit zum Essen. Schon zweimal hatte der Lemius seine Saaltochter nach uns geschickt.

Als wir aber nachher in der Wirtschaft an der schöngedeckten Rekrutentafel saßen und in den Braten einhauen wollten, quoll uns jeder Bissen im Munde.

Mit dem Tanz und mit dem Lustigsein war es Essig für heute.

Auch die Musik fing keinen mehr zu schmettern an.

Jeder spürte, es saßen die beiden Toten mit an dem Tisch. Wahrhaftig, da standen noch ihre Teller!


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