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Die Schlacht

Die letzte Stunde an jedem Mittwoch war Religion.

Zu diesem Unterricht kam in der letzten Zeit jedesmal der Pfarrer; zum ersten, weil er den neuen Lehrer unter Aufsicht halten wollte, zum andern, weil er meinte, wenn er nicht da wäre, fehlte das rechte Salz an unserem Christentum.

An diesem Mittwoch fehlte es uns ohnehin.

Kein Wunder, denn gerade beim Schellen hatte der rote Klumpen den Kopf zur Tür hereingestreckt und geschrien: »Heut geht's los gegen die Hüninger!«

Gegen die Hüninger! Das war das Signal zur längst fälligen Schlacht!

Unter diesen Umständen war uns die Erleuchtung durch Gottes Wort aus dem Munde unseres Lehrers Bläsy ziemlich schnorz, und statt aufzupassen, fieberten wir mit allen Nerven dem Krach dieses Nachmittags entgegen.

Bläsy schien unsere Kampflust gemerkt zu haben. Von Sauls entlaufener Eselin, die eigentlich dran war, schwenkte er ohne Überleitung ins Neue Testament ab und hielt eine Rede im Sinne der Bergpredigt: »Seid sanftmütig! Liebet eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen!«

Doch heute hatten wir gar nicht die Ruhe und innere Bereitschaft, Bläsys Predigt zu folgen. Darum versanken die gutgemeinten Gotteslehren zweier Jahrtausende als nichtig und wesenlos. Für uns gab es augenblicklich keine Bergpredigt in der Welt, keine Erlöserstimme, keinen Fahrplan zu einem geruhigen gottseligen Leben, sondern nur den kommenden Zusammenstoß mit den Hüningern.

In diesem Alter ist Kampf etwas Herrlicheres, als Beschauung und Lobpreisung der Friedfertigkeit.

Schon die Schlägereien von Straße zu Straße sind was Schönes!

Aber neben einer Bolzerei mit den Hüningern wirken sie nur unbedeutend.

Ein Treffen mit den Hüningern ist eine richtige Schlacht. Jeder Junge, der etwas auf sich hält, muß da mit dabei sein. Daher überlegte ich mir, wie ich's diesen Nachmittag wohl am besten anstellen könne, um von Hause wegzukommen.

Soviel war sicher: nur ein ganz gehöriger Schwindel konnte mich frei machen. Ging ich mit der Wahrheit um, der reinen und puren, wie es eben der Lehrer Bläsy in seiner Rede verlangte, so blühte mir Arbeit im Garten, das heißt, ich wurde eingespannt, um Wasser aus der Hardtlache heraufzuschleppen. Na, und bis fünfzig Kannen voll zweihundert Meter weit geschleppt waren, würden die Hüninger, mit denen ich mich bolzen wollte, natürlich schon längst über alle Berge sein.

Doch es kam nicht zu dem gefürchteten Gießkannenschleppen. Es fiel mir nämlich die Ausrede ein, ich müsse für die nächste Schüleraufführung im Vereinshaus zwei Gedichte auswendig lernen.

Der Vater ließ mich gleich nach dem Essen ziehn, stolz darauf, einen Sohn zu haben, der schon mit zwölf Jahren zum »Aufsagen« geholt wurde. Ich schob ab, so schnell, daß ich über die Ladenstaffeln stolperte und der Gesell mir nachschrie: »Nicht so hastig! Die Kulissenschieber im Vereinshaus werden schon warten können!«

»Endlich, Mensch!«, sagte mißbilligend der rote Klumpen, als ich ankeuchte. »Der Fahnenträger hat schon gemeint, dein Vater hätte dich heute in den Holzschopf gesperrt!«

In seiner Klasse war der rote Klumpen dumm wie's Bumbe Hund, immer auf dem letzten Platz, ein Bursche zum Heulen. In der Freiheit dagegen erwies er sich als der klügste und unternehmendste von uns allen, noch mehr als mit Sommersprossen mit Geriebenheit und listigen Anschlägen gesegnet.

Die Posten an der Kapelle und nach Basel zu hatte er bereits ausgestellt, damit wir nicht überrascht werden konnten, während wir in der Sandgrube den üblichen, in allen Indianerbüchern vorgeschriebenen Kriegsrat hielten.

»Wißt ihr's, wie wir die Kerle dran kriegen?« sagte er. »Ein paar von uns müssen vor, die sind der verlorene Haufen. Die plänkeln sich an die Hüninger ran und reizen sie. Aber sobald es Ernst wird, hauen sie ab, Rückzug, versteht ihr, hier an der Sandgrube vorbei. Die Kanalwackes meinen dann, ihr würdet ausreißen. Natürlich sausen sie euch nach. Aber sobald sie dann hier an unserem Versteck vorbei sind, brechen wir aus dem Hinterhalt, wie seinerzeit der Türkenlouis bei Friedlingen. Dann auf sie mit Gebrüll! Abgeschwartet, was uns in die Finger läuft! Und vor allem: Gefangene gemacht! Unsere Marterpfähle wollen Futter haben!«

Begeistert schrieen wir: »Hugh!«

Lag es nun daran, daß Klumpens Plan so ausgezeichnet war, oder hatte den Hüningern zu dieser Stunde der Gott des Krieges und des abgebrochenen Lattenhags besonders viel schwarzen Star in die Augen getan, kurz und gut, es lief alles wie am Schnürchen.

Der vorgeschickte verlorene Haufen tat seine Arbeit vorzüglich! Anderthalb Stunden später war auf der ganzen Linie der Rückzugskampf im Gang, der den Feind bis hinter die Sandgrube in den Hinterhalt führte.

Die Hüninger, die uns trotz eifrigster Verfolgung nicht fassen konnten, stimmten gerade einen Hohngesang auf unsere Feigheit an, als der rote Klumpen mit der Hauptmacht überraschend in ihrem Rücken erschien.

O je, was war daraufhin gefällig!

Jetzt nützten den Hüningern die gefährlichen Steinschleudern nichts mehr, dafür war die Entfernung zu kurz. Jetzt gab es Nahkampf! Wir überrannten sie brüllend und wüteten mit unseren sandgefüllten Fahrradschläuchen wie die Wilden!

Die Hüninger waren völlig verdutzt. Zwar setzten sie sich ein paar armselige Augenblicke hindurch zur Wehr; dann aber rasten sie davon, als hätten sie den leibhaftigen Gottseibeiuns im Rücken.

Erst unten an der Kanalbrücke kam ihr Rückzug zum Stehen. Sieben Gefangene waren in unserer Hand geblieben.

Lieblich gingen wir mit ihnen nicht um.

Die historische Gerechtigkeit gebietet, festzustellen, daß ihre Schreie bis halbwegs Burgfelden hinauf zu hören waren. Das ist eine Entfernung von zweieinhalb Kilometern und beweist, daß die Stimmbänder unserer Opfer in Hochform waren.

Aber dieses Konzert sollte unser Unglück werden; denn es ließ uns die elementarsten Regeln der Vorsicht vergessen.

Die Schuld des roten Klumpen war's nicht. Der hatte seine Pflicht als Häuptling und Kriegsmann nach jeder Richtung getan. Die gefährliche Seite nach dem Kanal zu war von ihm durch Doppelposten gesichert. Und gerade durch die kam die Katastrophe.

Denen war es allmählich zu langweilig geworden, die flimmernde Luft über den Turlipsäckern zu besehen, derweil die in der Sandgrube angebundenen Marterpfähler brüllten. Um bei diesem Fest nicht zu kurz zu kommen, waren unsere Schildwachen zurückgekrochen und äugten in die Sandgrube, statt an den Kanal.

Inzwischen kamen die Hüninger mit doppelter Verstärkung geschlichen.

Klatsch! waren sie da! Unvermuteter als eine Lehrerohrfeige!

Schreckliches Geschrei scholl, Steine prasselten, schon sausten die neuen Hiebe! Es wurde eine wirkliche Schlacht.

Was tun? Viel Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht. Denn schon hingen, wie aus dem Nichts heraus, plötzlich zwei kleine Krüppel an mir! Als ich sie endlich weggeschleudert hatte, mußte ich dem roten Klumpen zu Hilfe rennen, der inmitten eines brandenden Haufens stand und eine Latte schwang, wie weiland Roland, der Held, beim Überfall von Ronceval.

Diese Schlacht wäre wohl bis in die Unendlichkeit weiter gegangen oder hätte mit einer gegenseitigen Ausrottung geendet, wenn nicht plötzlich, wie hergezaubert, die drei Kantonsgendarmen den Feldweg heraufgeritten wären.

Ihnen lief unser Bannwart voraus, der Dischler, seinen berüchtigten Spazierstecken in der Hand.

Keiner weiß, wer die vier Vertreter der Obrigkeit zuerst sah. Das Klassengerücht behauptet, der Schinnerle, der gerade ausreißen wollte.

Fest steht, daß plötzlich einer schrie:

» Die Polizei!«

Das Wort wirkte Wunder. Wie eine kalte Dusche ging es auf unsere tollen Köpfe nieder. Aller Kampfgeist verflog.

Wer noch konnte, entlief.

Am leichtesten hatten es die Hüninger. Bei denen ging der Fluchtweg den Akazienbuckel hinunter.

Auch von uns entwischten die Meisten.

Aber zwölf Mann blieben liegen. Auf Meders Leiterwagen wurden wir ins Dorf gefahren und die Leute liefen zusammen wie bei Mord und Totschlag.

Der Doktor Wallart, der uns zusammenflicken, nähen und einrenken durfte, hat an dieser Arbeit mächtige Freude gehabt.

Es war gerade Besuch bei ihm, ein Vetter aus dem Französischen drüben. Diesem erklärte er die hiesigen Zustände.

»Schau dir mal solch einen Querschädel an!« sagte er, während er mir einen Jodfaden durch den klaffenden Schienz am Mundwinkel zog. »Das treibt diese Bande nun schon seit dem Mittelalter. Dorffeindschaft gegen Dorffeindschaft, durch lange Jahrhunderte hindurch. Mit den Alten ist allmählich der Staat fertig geworden. Sie gehen nur noch mit behördlicher Erlaubnis auf einander los, im richtigen Krieg nämlich. Hier bei der jungen Bande müßte man mit dem Rohrstock fertig werden! Schade nur, daß keiner von meinen mit darunter ist, dem würd ich's geben!«

Nun, er gab's uns auch so, trotzdem wir nicht von seiner Brut waren. Ich kann versichern, so ein durchgezogener Jodfaden kann beißen, als ob er kein Faden, sondern eine Säge wäre.

So sehr biß nicht einmal das, was wir am nächsten Mittwoch von Seiten des erzürnten Pfarrherrn zu hören bekamen. Ein Glück, daß ihn wieder die Gicht plagte, sonst hätt' er im Eifer um unser gefährdetes Seelenheil sicher den Pultdeckel in Stücke geschlagen. Schließlich aber verleugnete sich der gute Hirte nicht. Mit Tränen in den Augen gab er uns trotz unserer Nichtsnutzigkeit doch seinen Segen.

Von dem Segen, der zu Hause dann in Raten nachkam, laßt uns schweigen!


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