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Hansbattles Theres

Eigentlich hieß sie gar nicht Hansbattle, sondern Naas. Doch sie stammte aus Buschweiler, und da war Hansbattle eben ihr Dorfname.

Außer den Hansbattle gibt es dort auch noch die Hansbatten.

Aber man muß scharf unterscheiden zwischen diesen beiden Geschlechtern, obwohl sie nah miteinander verwandt sind.

Die Hansbatten, das waren die reichen; die hatten Felder und Wälder, Matten und Äcker, Fischweiher und Weinberge und außerdem noch einen schönen Batzen Geld.

Die Hansbattles dagegen, das waren die armen Teufel, die hatten keine Felder und keine Wälder, keine Matten und keine Äcker, keine Fischweiher und keine Weinberge, nein, die hatten nichts, als ihre fünfzinkigen Hand-Gabeln, und die brauchten sie gleicherweise zum Arbeiten, wie zum Essen.

Zu diesen Hansbattles nun gehörte die Theres, unserer Mutter Mutter.

So lang ich's erdenken kann, wohnte sie bei uns im Hause und wurde wie ein Eigenes gehalten.

Für uns Kinder, und mochten wir noch so wild sein, hatte sie immer ein gutes Wort, und nie schätzten wir sie mehr, als wenn wieder einmal Prügel fällig waren. Da nahm sie uns gewöhnlich in Schutz und wehrte dem Vater.

Ich kannte sie nie anders, als ganz alt und weißhaarig. Ihre fünfundsiebenzig Jahre hatten ihr den schmalen Rücken zur Erde gezogen, so daß ein richtiger Buckel daraus geworden war.

Ihr Gesicht war zusammengeschrumpfelt und vom Alter ganz klein gemacht worden, fast so klein, wie das Gesicht eines Kindes. Aber es war von den Sorgen eines geschundenen Lebens zerrissen, und die Falten und Runzeln in ihrer pergamentenen Haut waren so tief, daß sie ganz dunkel erschienen vom Schatten, der darin lag.

So lang sie noch laufen konnte (»kriechen«, sagte Lieni, der Schmied), nahm sie Sommers den Kratten, den Tragkorb, auf den Rücken und den Stecken in die Hand und streifte ins Feld, um Kräuter zu sammeln.

Sie kannte alles, was wuchs, der Pflanzen vielfältiges Heer; keine Blume am Hange, keine Staude am Bahndamm war ihr fremd. Und von jedem wachsenden Wesen kannte sie einen Vers oder ein Sprüchlein. Riß sie eine Schafgarbe ab, so sagte sie gewöhnlich: »Wenn die Mannsleute wüßten, was du für ein feines Kräutlein bist, so würden sie dich für heilig ausgeben und vor dir niederknien!« Beim Stiefmütterchen hieß es: »Stärkt's Genick, laxiert den Magen und macht das Haar wachsen!« Beim Käslekraut: »Bei dir gebadet, hat noch keiner Jungfrau geschadet!« Ihre vielen Kenntnisse hatte sie von ihrem Vater. Der war tief hinten im Sundgau ein Dorfdoktor gewesen, mit einem Zulauf, über den selbst die vielbesuchten, wundertätigen vierzehn Nothelfer von Niedermagstatt hätten neidisch sein können.

Das Schönste an der Großmutter, das war aber nicht ihre Kräutersammlerei und auch nicht, daß sie bei Neumond Warzen und Kröpfe besprechen konnte, nein, das Schönste, das waren die Geschichten, die sie zu erzählen wußte, und die Lieder, die sie vorsingen konnte.

Ihr Gedächtnis war erstaunlich. Stets erzählte sie ihre Geschichten so, wie sie sie selber gehört hatte, nie veränderte sie auch nur einen Satz oder eine Wendung.

Mit ihren Geschichten konnte sie uns Kinder, selbst wenn wir ungebärdig waren, wie der Hund an der Kette, aus der größten Wildheit herausholen und uns zahm machen, wie die Rehe im Winter.

Wenn sie anfing vom Hans Trapp, der im Herbst mit dem wilden Heer in der Luft herumfährt, oder von der Hegenheimer Mühle, wo nachts die Sundgaugespenster ihre Vollmondsversammlungen abhalten, oder vom langen Tilltapp, der ihrem Vater erschienen war und dabei so hoch aufwuchs, daß er den Türstock sprengte und sogar das Strohdach von der Scheuer herunterwarf, oder von dem Hunds-Chaib von Bäcker, der seine hochschwangere Frau an drei zigeunerische Räuber verkaufte, oder wenn sie die Lieder sang: »Es waren mal drei Baurensöhn, die hatten Lust, in Krieg zu gehn, wohl ins Soldatenleben!« oder: »Ein preußischer Husar fiel in Franzosenhände!«, so waren das keine gewöhnlichen Worte mehr, die uns zuhorchenden Kindern in die offenen, gierigen Ohren flossen, sondern es stieg aus der kleinen, verschrumpfelten, alten Frau heraus das pure, leibhabende Leben.

Aus ihrem Munde ritten die verwegenen Reiter heraus.

Es hallte das Zimmer von Hufesschlag, mit ihren hellen Säbeln spalteten sie, rischiraschi, die Wand und sprengten hinaus ins Blachfeld.

Augennah standen sie einem; man sah das kleinste Härlein im Schnauzbart, und wär man ein Maler gewesen, so hätte man alles mühelos nachzeichnen können.

Und die Mädchen, von denen sie einem erzählte, die waren so schön und so prinzeßlich, wie ich später in meinem Leben keine mehr gesehen habe, und ich sah doch so viele! Und es rauschte nur so von Seide und Sammet, und es glänzte nur so von Damast und Brokat, und was erst das edle Gestein anbetraf, so konnte es der geschickteste holländische Diamantenmann nicht glitzriger und nicht funkliger schleifen, als Hansbattles Theres ihr Wort. Und wenn die Kinderschar hinter dem Rattenfänger von Hameln hertrippelte, so mußte ich mich an der Bettkante festhalten, um nicht selber mitten im Zuge zu sein, und wenn sich dann der dunkle Berg hinter allen geschlossen hatte, knacks, stand einem schier der Atem still.

Ewig hätten wir der Großmutter zuhören können.

Geschichten zu erzählen, wurde die alte Frau nie müde.

Sie wußte unzählig viele. Mehr als ich später je in Büchern gelesen habe.

Mit Geschichten schläferte sie mich abends ein, wenn mir die Schienbeine wehtaten, mit Geschichten, Liedern und Sprüchen machte sie mich am Morgen munter.

Wenn der Vater uns am Morgen weckte, da hieß es einfach: »Steh auf, der Schinder will die Haut!«, und schon war einem die Bettdecke weggezogen, so daß man kälteschnatternd in die Kleider schlüpfte.

Kam aber die Großmutter, so hieß es:

»Wach auf! Wach auf!
Zum Bäcker lauf!
Ein Wecklein kauf!
Der Knecht ist schon im tiefen Bach,
wit oben! wit oben!«

Das Liebste in meinem Kinderleben waren mir die Sonntagmorgen. Da gab es den Kaffee und die Milch ans Bett, dazu einen Wasserwecken, einen großen, manchmal sogar zwei, und außerdem durfte ich eine Stunde länger liegen bleiben. Dann mußte die Großmutter eine recht gruslige Geschichte erzählen, so gruslig, daß ich vor lauter Angst mein eigenes Herz am Hals klopfen hörte. Wenn es allzu unheimlich wurde, schlüpfte ich unter den rotgeblümten Bettüberzug, da verstand ich dann die einzelnen Worte und ihren Sinn nicht mehr, sondern hörte nur noch das Gefälle der Sprache, das herklang, als sei es außerhalb der Welt, im Unendlichen, gesprochen.

Später wurde die Großmutter gelähmt. Das war für sie, die sonst immer in der Freiheit des Feldes lebte, im Rauschen der Eichen der Hardt oder im Murmeln des Bachs, eine schwierige Zeit. Vom langjährigen Liegen wurde ihr Fleisch schier und wund. Sie hätte nach Basel ins Spital gesollt, dort hatten sie Liegesäcke, die mit Luft oder mit Wasser gefüllt werden konnten, Vorrichtungen also, durch welche die Kranken merklich Erleichterung hatten. Aber 's Hansbattles Theres wollte nicht zu den »Menschenmetzgern«, wie sie die Ärzte nannte. Sie wollte »ehrlich« sterben, wie sie sagte, und von keinem Doktor ausgebeinelt werden, diesen wunderfitzigen »Siechen«, für die jeder Kranke nur dazu da ist, daß sie an ihm studieren können. Sie wollte in einem Grabe liegen, wenn sie gestorben wäre, sagte sie, und nicht stückweise zerschnitten in Spiritusgläsern in der Basler Anatomie.

Durch ihre Weigerung, sich ins Spital bringen zu lassen, lieferte sie sich den größten Schmerzen aus, die ein Mensch nur erdulden kann. Ihr Bett war wirklich nichts anderes, als ein vorweggenommener Sarg, ihr alter, wundgelegener Körper nur noch Behälter der Qualen.

Trotz ihrer Krankheit behielt sie ihre große Macht über Menschen und Tiere.

Es kam niemand ins Haus, der nicht zuerst 's Hansbattles Theres aufgesucht hätte, und was die Vierbeinigen anging, so hatte die Großmutter so viel Besuch, als sie nur wollte. Am Fußende ihres Bettes machte Minetti, die vierfarbige Hauskatze, mehr als einmal Junge, und wenn Zampa, der Hofhund, von seiner Kette loskonnte, so war sein erster Gang ans Zimmer hin; mit seinen breiten Bernhardinerpfoten stellte er sich ans Fensterbrett, schaute mit seinen runden Hundeaugen zu ihr hinein, und wenn sie seinen Namen rief, schwenkte er vor Freude den Schwanz rasend, wie einen anlaufenden Propeller.

War der Frühling da, und es ging in den Mai hinein, dann hielt's die Großmutter nicht mehr im Zimmer aus. Dann war ihr alles zu eng. Die Wände rückten auf sie zu, um sie zu erdrücken; die Decke senkte sich ihr auf die Brust und verwehrte ihr das Atmen. Da ließ sie sich an warmen Tagen vom Vater und seinen Gesellen in den Garten hinaus tragen, unter den großen Judenkirschbaum. Wenn sie dann in ihrem armseligen Bett im Garten zwischen all den Blumen drin lag, und die Schwarzamseln mit Würmern im Schnabel bis an die Bettkante flogen, und des herumstiebenden und lärmenden Spatzenvolkes gar kein Ende mehr war, sah sie in ihrem großmächtigen, rotgewürfelten Kissen so klein und verschrumpfelt aus wie ein Kind. Und ihr Gesicht mit dem Biberzahn war so wächsern und weiß wie das eines Toten, und nichts an ihr lebte mehr, als nur die Augen. Und die gingen ihren Weg rundum wie zwei gefangene Sonnen.

Neun Jahre ertrug sie so das Leben einer lebendig Begrabenen. Was das aber heißt, wie hätten wir das als Kinder auch nur ahnen können?

Eines Tags, als ihr am Morgen die Mutter wie gewohnt, den Kaffee bringen wollte, war 's Hansbattles Theres tot.

Noch kleiner geworden war sie im Tod, noch mehr zusammengeschrumpfelt.

Ausgelöscht war sie, verweht wie ein Licht.


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