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Der Martischang

Der Martischang war nur dann auf der Straße, wenn die Sonne schien.

Kam er verstohlen in einen Hof hinein, so streckte er erst seinen Schatten vor, wie eine Schnecke ihr Horn, und war jemand da, so blieb der Schattenkopf nicht lange lauernd stehn, sondern verschwand sofort. War aber die Luft rein, so schob sich dem Schatten der Körper nach, auf dem gespenstisch der rotblaue Säuferkopf saß. Und ein paar wasserblaue Augen, in denen die Fische des Stumpfsinns schwammen, zuckten umher, ob sie etwas fänden. Denn Martischang schob alles in seinen großen Sack, was seine Finger nur ergreifen konnten: rostige Nägel, Papierfetzen, Stoffreste, leere Konservenbüchsen, Lumpen, Knochen, Glasscherben, Hobelspäne, kurz alles das, was der Kreislauf des Lebens auf den großen Abfallhaufen setzt. Geduldig schaute er in den Boden hinein und las Stück um Stück zusammen, den Buckel kätzisch zum Absprung gekrümmt, so, als warte irgendwann und irgendwo eine Portion Prügel auf den Absaus. Und manchmal fuhren sie auch wirklich los, wenn urplötzlich die Scheit- und Keifworte einer alten Frau wie Pfeile im Fluge daherzischten und den Tagdieb, den »elenden und nichtsnutzigen« Lumpensammler, vertrieben.

Da drückte sich Martischang stillschweigend an der Mauer oder am Lattenhag davon; aber die Fischlein des Stumpfsinns, die bisher in seinen Augen nur harmlos mit den Flossen gewippt hatten, wurden auf einmal zu giftgrünen, graugeschwollenen Haien, die die Wasser der Seele durchpeitschten und die das schreckliche Schuppenmaul aufsperrten und alles verschlingen wollten in rasender Gier. Wen dieser Blick aus der untersten Wildnis traf, der mußte erschrecken, und alle Atemschläge standen ihm still ob dieser Woge des Hasses und ob des Hasses Getier.

Dann ging der Martischang in die nächstbeste Wirtschaft und trank sich einen Ballon an (wenn das Geld dazu langte) und alle Wut explodierte in Faustschlägen auf die buchsbaumene Platte.

Die anderen Gäste glotzten nur verächtlich auf sein aufrührerisch Getu. Mit dem Martischang war keiner von ihnen jemals an den gleichen Tisch gesessen. Schon übel genug, daß sie die gleiche Saalluft mit ihm einatmen mußten. So passten sie nur auf wie Häftlemacher, bis der Martischang den Krakelhengst aus dem Stall zog, und sobald der die ersten Wieher tat, ging einer der Bürger hinaus an den Fernsprecher, und fünf Minuten später war auch schon der Gendarm da oder der Ortsdiener, und der Martischang flog in hohem Bogen zur Wirtschaft hinaus, daß die alten Gelenke im Aufschlag krachten und ihm noch tagelang hinterher alle vierzehn Rippen wehtaten, falsche sowohl als auch echte.

So schleppte sich sein Leben hin im Pendelschlag, immer von fremden Kräften angestoßen, bald geduldet und übersehen, bald gehetzt und angespien.

Die Furchen in seinem Gesicht sahen aus, wie mit einem scharfen Messer aus dem Fleisch herausgeschnitten, eine Versammlung von Unheimlichkeit, und Heimann, der Althändler, wenn er ihm für seine Lumpen und Knochen und Scherben und Alteisenstücke den Zahltag gab, legte lieber etwas mehr zu für den Sack, bloß um den finsteren Gast eher vom Hals zu haben.

Kein Mensch hatte den Martischang jemals essen sehen, nur trinken, und da nur immer grünen Absinth, der auf der Zunge brennt, und preußischen Kornschnaps oder Kartoffelgeist, von dem der Wirt für zehn Pfennig ein Glas gestrichen voll schenkt, froh, daß er das Zeug los wird.

Im Sommer konnte es vorkommen, daß der Lumpensammler seinen Sack beiseite legte und auf ein paar Wochen verschwand. Das war immer zur Zeit, wenn das Wasser im Rhein so warm ist, daß die jungen Mädchen zum Baden gehen. Da lag der Martischang im Schilf hinter den Weidenstumpen, und wenn die jungen Dinger sich auszogen, strich er mit heißen Augen die ganze Schönheit ab und kapselte sie bei sich ein; denn was er da stahl, mußte wieder für ein ganzes Jahr langen.

Besonders ein Wesen war da, das ihm über die Maßen gefiel, eine braune Bachstelze voll Gütz und Beweglichkeit, mit einer Stimme, die alle andern Klänge der Welt auslöschte.

Da konnte der Martischang auch ohne Absinth betrunken im Schilfrohr liegen, die Augen zu, das Gesicht auf zum Himmel gewendet, nur des Windes leichte Hand über sich, wie der über Riedgras und Schilfkolben fuhr.

Da fing seine Vergangenheit wie ein Ameisenhaufen auseinander zu laufen an: die er von ferne reden und lachen hörte, brachte seine Jugend herauf; mit übermütigen Schritten kam sie daher. Er selber war wieder jung, so nah stand ihm alles. Aber wenn er es greifen wollte, das lockende Bild, war die Gegenwart da. Da schien das Leben grau, der Himmel gewitterig überzogen, das Mädchenlachen hinabgesunken. Und sehr oft schlugen dann die schweren Tropfen des Regens darein.

Aber der Martischang blieb liegen, bis in die Nacht, mochte der Regen rauschen, wie er wollte. Jetzt war er doch kein Mensch mehr, der zu hoffen oder zu fürchten hatte, jetzt war er nur noch ein Stück Erde, nur noch ein Stück Stein. Sein Herz schlug ferne, irgendwo im innersten Innern der Erde, kaum, daß er's noch hörte.

So fanden ihn die Schiffsleute oft, die ihre Weidlinge am Morgen früh gegen den Strom von Kembs nach Hüningen zogen. Sie weckten ihn auf, weil er wie ein Toter dalag und gossen ihm einen Schnaps ein. Der brannte ihn in das höllische Leben zurück, und die Fische in seinen Augen wedelten wieder, und er nahm seine müden Knochen und schleppte sie heim in seine Blechhütte auf dem Baseler Mist.

Den Baseler Mist muß man kennen. Das ist eine Welt für sich. Hart an der Landesgrenze liegt er, bei Burgfelden, ein wahrhaftiger Berg, und Tag für Tag kommen die Abfallwagen der großen Stadt und bringen neue Zufuhr. Und ein Gestank von Armut und Verbrauchtheit liegt hier in der Luft; ein Gestank, den keiner sein Leben mehr losbekommt, der ihn je in der Nase gehabt hat.

In der Dunkelheit fahren die schweren Müllwagen an. Die Rosse keuchen die Höhe hinauf. Der Dampf ihrer heißen Leiber mischt sich mit dem Dampf des großen Abfallhaufens. Die Peitschen knallen, zerbrechende Glasscherben klirren, die Kutscher schreien und fluchen, und alles hört sich recht fuhrmannmäßig an. Ist aber die Dunkelheit verwichen, und die Sonne fällt ein, so glänzt sie in Regimentern von Scherben, in diamantig zerbrochenem Glas, in Blechbüchsen und im Tau, der auf dem Schutthaufen liegt. Alles ist dann vom besten Maler gemalt, eine verwunschene Welt, die erst später wieder grau und gewöhnlich wird, wenn von allher die Lumpensammler kommen und mit ihren Stöcken in dem neu angefahrenen Müll wühlen, wie die Geier in den Eingeweiden eines verendeten Tieres.

Auf diesem Müll also hatte sich der Martischang seine Hütte gebaut, in der Mitte dieses Scherben- und Trümmerlandes, das er von da aus beherrschte, wie eine Spinne ihr Netz.

Vier Pfähle hatte er in den weichen, willfährigen Boden gerammt, und das Dach und die Wände, aus zusammengestohlenen Kistenbrettern bestehend, hatte er mit dem Bleche alter Ölkanister bekleidet. Manches glänzte metallisch neu, das meiste aber war angeleckt von blutbraunem Rost in den verschiedensten Tönungen. So sah die Hütte von ferne großartig gescheckt aus, mit viereckigen, schiefen Flicken, wie ein Fastnachtsnarrenkleid.

In diesem Gehäuse lebte der Martischang unangefochten, gemieden von Gott und der Welt.

Man wußte nie, war er daheim in seinem Fürstentum oder nicht. Nur zuweilen kräuselte sich blauer Rauch aus dem verbogenen Ofenrohr, das wie eine rostige Warze aus der Flanke der Hütte herauswuchs und das den Kamin vorstellen sollte. Wehte diese Rauchfahne, dann hatte der Lumpensammler im Gerede der Leute seinen feisten Tag und sott sich ein Pfund Stockfische oder kochte sein Hemd aus, was aber jeden Karfreitag nur einmal vorgekommen sein soll. Manche behaupten auch, wenn sie den Rauch sahen: »Aha, jetzt hat der Martischang wieder einen gemurksten Hund im Topf!«, und sie schüttelten sich bei dieser Aussage.

Doch erweisbar war's nie. Es kamen zwar viele Hunde im Orte hehlings um die Ecke, besonders im Herbst, wenn's auf den Winter zuging und das bellende Viergebein schön Speck an den Rippen hatte. Aber diese abgängigen Hunde, die oft noch tagelang hinterher in der Zeitung durch wehmütige Inserate gesucht wurden, konnten genau so gut von den Arbeitern der Chemischen Fabriken umgelegt und verspeist worden sein, von jenen Arbeitern, die den ganzen Tag an den giftigen Farbmühlen stehen – der ungesundesten Arbeit, die je für Menschen erfunden worden ist – und die früh sterben müssen, des Giftes wegen, das sie einschlucken, und die den Aberglauben haben, Hundsfett sei gute Medizin für ihre angefressenen, brestigen Lungen.

Eines Tages nun, als beim Martischang Holland besonders in Not war, strich er mit begehrlichen Augen um den Holzhof des Bürgermeisters herum, um etwas Brennbares in seinen Sack zu kriegen. Solches Fischen an Land verstand er vorzüglich. Eben hatte er seine Hand mit dem krummen Stock gezückt, um durch den Zwischenraum im Lattenhag ein Stück Balken näher an sich heranzuziehen, als er in diesem Geschäft durch ein Mädchen gestört wurde.

Es war die schöne Jelli, die Bürgermeisterstochter, die in ihre Klavierstunde ging.

Als der Martischang sie erblickte, wurde er bleich, als hätte er ein Gespenst gesehen. Er ließ den Krummstock mit der bereits gespießten Beute fahren; denn die Jelli, die er da sah, das war niemand anders, als die junge, braune Bachstelze vom Rheinufer her, wo sie gar manchmal gebadet und ihm so gut gefallen hatte.

Durch diese Begegnung trat ein Wendepunkt in seinem Leben ein.

Von da ab folgte er dem Mädchen, als ob er dessen Schatten wäre. Es war das so auffällig, daß die Leute die Köpfe zusammensteckten deswegen, und einmal stellte ihn der Bürgermeister auf offener Straße und drohte ihm, wenn er nicht aufhöre, der Jelli nachzustreichen, so ließe er ihn durch die Gendarmerie stehenden Fußes verhaften und nach Hüningen ins Loch führen, wo er bei Wasser und Brot über seine Unverschämtheit nachdenken könne.

Der Martischang fuhr zwar ab, wie einer, den man beim Stehlen erwischt hat, sagte aber zuvor noch: »Herr Bürgermeister, die Straße ist so gut mein, wie Euer oder wie Eurer Tochter. Ins Loch könnt Ihr mich nicht sperren lassen, wie Dir gerade Lust habt, nein, das vermögt Ihr nur, wenn ich etwas tu, was nicht recht ist. Und selbst dann schießen nicht einmal die Preußen so schnell, sie müssen erst geladen haben. Wo, Herr Bürgermeister, ist also Eure Handhabe?«

Der Bürgermeister sagte daraufhin nichts weiter, sondern biß sich nur voller Zorn auf die rotlächten Schnauzhaare. Der schmierige Lumpensammler war zweifelsohne im Recht. Er hatte nichts getan, was strafbar gewesen wäre. Er hatte sich dem Mädchen nie in den Weg gestellt, er hatte sie nie angeredet, er hatte sich ihr nie aufgedrängt, er hatte sie nur immer angeschaut, wie ein etwas tollpatschiger Neufundländer oder Bernhardiner.

Der Lumpensammler würde Gott gedankt haben, wenn sich die Jelli einmal umgedreht und ihn gescholten oder gar fortgejagt hätte. Da hätte er ihr doch ins Gesicht schauen können, statt nur immer ins Genick. Da hätte er sie wenigstens reden hören können, statt sich nur immer mit dem Tritt ihrer Schuhe und dem Geräusch ihrer Röcke zu begnügen. Die Bürgermeisterstochter aber tat, als sähe sie ihn nicht. Er war ihr weniger als ein Hund. Er war für sie überhaupt nicht vorhanden. Was sollte sie sich da noch groß die Mühe des Wegjagens machen? Doch sorgte ihr Vater dafür, daß sie von dieser Zeit ab eine Begleitung mitbekam, wenn sie auf die Straße ging.

Die Sucht, dem Mädchen nahe zu sein, ging beim Martischang allmählich so weit, daß er nicht mehr in seiner Hütte nächtigte, sondern im Holzhof, dicht neben der Bürgermeisterei. Die Fabrikler, die frühmorgens nach Basel hinein an die Arbeit mußten, haben ihn gar oft gesehen, wie er schnarchend zwischen den Dielen lag, als Kopfkissen seinen gewaltigen Lumpensack.

Diesem krankhaften Verliebtsein Martischangs verdankt die schöne Jelli Haut und Leben; denn als in der Dreikönigsnacht der entwichene Zuchthausbruder Speinin aus Rache Feuer an das Bürgermeisterhaus legte und das so schnell abbrannte, wie ein Haufen getrockneter Zunder, in den mit vollen Backen der Wind pfeift, da war der Martischang der erste, der von Laubys Holzhof aus den roten Schein sah und daraufhin so gewaltig sein »Firio! Firio!« rief, daß es den Leuten die Läden aufsprengte.

Zwar der Bürgermeister und seine Frau und die Köchin und die Magd und sein Schreiber Vallade, die kamen noch alle rechtzeitig heraus aus dem Brand, wenn auch nur barfuß und im Hemd und am ganzen Leibe zitternd vor Kälte und vor Schreckangst. Die Jelli aber in ihrer Mansardenkammer, die war eingeschlossen wie ein Eichhörnchen im Drillkäfig, zu dem niemand die Tür weiß. Die Frau konnte nichts tun und nichts sagen, ihr hatte der Schrecken die Sprache verschlagen. Im Bürgermeister aber hüpfte das Leben hochauf. Doch wie der auch schrie und die Hände erhob und den Umstehenden sein ganzes Vermögen anbot, wenn sie ihm die Tochter retteten, es rührte sich keiner von allen im Kreis, und bis die Feuerwehr da sein konnte und mit der Leiter am Dach, war alles zu spät, so schnell fraß der Brand.

Da warf der Martischang seinen Lumpensack, den er überall mitschleppte, als ob er weiß Gott was für Schätze darin zu hüten hätte, auf die Erde in den Graben und sagte zum Bürgermeister: »Hört auf mit dem Plärren, ich will sie Euch holen!«

Alle, die dabei waren, hielten den Atem an, als sie den Martischang in den Brand hineinsteigen sahen, und der Lieni, der doch sicher ein beherzter Mann war und sich nicht einmal vor einem durchgehenden Pferd scheute, sondern ihm kuragiert in den Zügel fiel, selbst der sagte: »Gottsknochen, Leute, den sieht niemand mehr wieder!«, und vor Verwunderung über des Lumpensammlers Wahnwitz, vergaß er ganz an seiner Gipspfeife zu ziehen, die ihm sonst nie kalt wurde.

Der Schmied behielt diesmal nicht recht mit seinem Ausspruch, trotzdem man sonst auf seine Prophezeiungen etwas halten konnte. Nach zwei, drei Minuten, die aber allen als zwei, drei Ewigkeiten erschienen, war der Martischang wieder da, das gerettete Mädchen vor sich hergestreckt auf den Armen, so hoch und schwebend, als ob's gar keine Last sei für ihn.

Eben, als das Freudengeschrei der Leute aufstieg, die ihn schwarz, silhouettenartig wie einen Riesen aus dem Feuer steigen sahen, eben in diesem Augenblick fiel ein durchgebrannter Deckenbalken nieder, mit seinem wüsten Aufkrach noch das Geschrei der erschreckten Zuschauer übertönend und dem Martischang, der eben den Fuß auf die oberste Hausstaffel setzte, das Hirn einhauend. Er fiel um, wie ein gesprengter Fabrikschornstein, nach vornhin, und die Jelli, die sowieso ohnmächtig war, rollte, als ihr Retter stürzte, aus seinen Armen gerade vor die Füße ihres Vaters, der von alldem so stumm war und so erschlagen, als hätte der Balken ihn mitgetroffen und nicht nur den Lumpensammler.

Kein Wort mehr konnte der Bürgermeister sagen, nein, rein nichts, ganz im Gegensatz zu ein paar Minuten vorher, wo er so heftig geschrieen hatte, daß das Prasseln der Flammen ganz klein daneben war. Er stand da, wie die biblische Salzsäule und erst, als der Doktor Wallart dazu kam, gab's Leben; der ließ nämlich alle von dem Brandort wegführen in Speiterts warme Stube hinein.

Ja, dann rückte auch die Feuerwehr an, zu spät natürlich, wie's bei einem Unglück immer der Fall ist. Am Martischang, der am Bordstein lag, vom Brande flackernd überschienen, konnte der Doktor nichts mehr flicken, da war alle Doktorkunst umsonst.

Drei Tage später henkte sich der von der Gendarmerie umstellte Zuchthäusler und Brandstifter Speinin an einem Kirschbaum am Kanal.

Zur selben Stunde fand Martischangs Begräbnis statt.

So etwas Gewaltiges hatte der Ort noch nie gesehen. Alle Zeitungen im Lande waren vollgeschrieben von dem Lumpensammler und seinem Absterben, und von überall her, selbst aus den entlegensten Gegenden, waren Leute hergekommen, um ihm die letzte Ehre zu geben. Viele, viele Gesichter, die man sonst nie hier sah, nicht einmal an den Jahrmarktstagen.

Ein gewaltiger, nicht enden wollender Leichenzug.

Voran wurde ein schweres eichenes Kreuz getragen, und dann kam eine schöne seidene Fahne mit zwei langen schwarzen Florbändern, deren Enden von zwei jungen Burschen gehalten wurden. Dann der Trauerwagen mit dem Sarg, der unter einer Last von Blumen verschwunden war. Vier Rappen zogen den Totenwagen, und alle vier waren feierlich mit schwarzen, silberbordierten Decken behangen. Hinter dem Totenwagen folgte die Schar der Pfarrer und Meßdiener, die gravitätisch ihre Weihrauchfässer schwangen. Hinter ihnen gingen an der Spitze des Trauergeleites die Jelli, ihre Mutter und der Bürgermeister. Alle hatten ihre weißen Tücher an den Augen und heulten in einem fort, als sei ihnen einer aus der nächsten Verwandtschaft gestorben und nicht der verrufene, lumpensammelnde Einsiedler vom Baseler Mist, an den bei seinen Lebzeiten niemand ein freundliches Wort hing.

Und hinter den Bürgermeistersleuten folgten die Schulkinder im Sonntagsstaat mit ihren Lehrern. Was da war an Schulkindern hatte sich angeschlossen, von den Kleinsten angefangen, bis hinauf zu den Größten. Sie fühlten alle die Besonderheit des Tags.

Hinter den Schulkindern kamen die Turner mit ihren beiden rauschenden, im Wind sich blähenden Fahnen, und hinter den Turnern die Herren vom Flobertklub, alle feierlich in hohen Zylinderhüten, wie es sich für die Vornehmen schickt, und hinter den Herren vom Flobertklub der Gesangverein mit seinen vierzig Mann, und hinter diesen die Feuerwehrleute in ihren schmucken Uniformen und den glänzenden Helmen, und sie machten da am Tage eine bessere Figur, als nachts bei einem Brande, wenn sie löschen sollten und vor Aufregung manchmal die Hydranten nicht fanden, und hinter den Feuerwehrleuten folgte die Musik in großer Gala und spielte einen traurigen, langsamen Marsch, so traurig, so langsam, daß man kaum die Füße heben konnte bei dem schwermütigen Takt, und hinter der Musik kam der Jünglingsverein, und hinter diesem der Männerverein und dann folgten die Abordnungen der Fabriken und der Gewerkschaften, immer zwei Mann, die einen mächtigen, schwarzumflorten Kranz trugen, und hinter dieser Gruppe kam die große Schar derjenigen, die keinem Verein angehörten, und da gingen die Männer für sich und die Frauen für sich, alle in tiefem, feierlichem Schwarz, wie es sich bei einer ordentlichen Leiche auch gehört, und das Auf und Ab der Füße zog sich über ein halbe Stunde lang hin, klapp und klapp, tapp und tapp, auf und ab, regelmäßig wie das Getriebe einer ungeheuren atmenden fortschreitenden Maschine.

Der Gottesacker, auf den Zustrom solcher Massen nicht eingerichtet, faßte die Wogen der Menschen nicht; sie brachen sich an den niederen Mauern und überfluteten ringsum die Äcker und die Felder, und das Aneinander der vielen Gesichter glich nun einem erstarrten, fleischernen Meer.

Als die Totengesänge ausgesungen waren, und der Sarg hinabgeseilt in die Tiefe des Grabes und das erste Weihwasser segnend darüber gesprengt, hob der Älteste der Geistlichen, Schweigen gebietend, die Hand.

Trotzdem schon vorher alles in der Trauergemeinde ruhig und ordentlich gewesen war, fiel doch jetzt, auf die gebietende Geste hin, eine solche Stille ein, daß jeder sein eigenes Herz schlagen hören konnte.

Der Pfarrherr sagte, es sei sonst gemeiniglich nicht üblich, daß ein katholischer Geistlicher an einem offenen Grabe spreche, aber dieses außergewöhnliche Begräbnis entschuldige ein Abweichen von der Regel. Und nach dieser Einleitung hielt er eine solche Rede voll Feuer und Lobspruch, daß sich niemand in der Welt eine bessere Grabrede hätte wünschen können, und möchte es der größte König gewesen sein, geschweige denn ein Sammler der Lumpen und Knochen, der rostigen Nägel und der Glasscherben, wie der Martischang einer gewesen war. Der Pfarrherr handelte ab nach dem Spruche: »Die Letzten werden die Ersten sein!« und seine Worte hatten einen solchen Ernst, eine solche Eindringlichkeit und eine solche Gewalt, daß während der ganzen Viertelstunde sich nirgendwo ein Unruh-Müskelein regte. Nur die Tränen rannen. Zuerst vereinzelt, aber zum Schluß chorweise und zuletzt schämte sich keiner mehr, seine Bewegung zu zeigen.

Nachher ging alles auseinander, in einer heiligen Stille. Aber keine Arbeit wurde getan. Alle hielten den Tag, als ob er ein Feiertag wäre.

Martischangs Andenken ist frisch geblieben. Auf sein Grab kam eine mächtige Steinplatte aus fremdländischem Marmor, die den Bürgermeister ein schönes Stück Geld kostete, und auf dieser Platte stand in Goldbuchstaben eingemeißelt:

Hier ruht in Gott
Martin Johann
seines Alters 51 Jahr.

Es ist dies gewiß eine schöne und teure Inschrift.

Aber sie stimmt nicht.

Es ist nicht wahr, daß der Martischang unter dieser Platte ruht.

O nein! Nie!

Noch während der Pfarrherr seinerzeit die Grabrede hielt, hatte der Martischang hehlings den Sargdeckel gelüpft und sich über den Grabrand geschwungen und war hinter dem Missionskreuz stehen geblieben, bis alles vorbei war.

Und als der Bürgermeister heim ist mit seinen Leuten, da war auch der Martischang wieder hinter der Jelli her, genau wie früher, immer zwei, drei Schritt hinter ihr.

Aber jetzt ging er viel sichrer und selbstbewußter.

Jetzt war er zur Begleitung gleichsam legitimiert.

Jetzt braucht er nicht mehr in Laubys kaltem, windigen Holzhof zu nächtigen, jetzt kann er getrost zur Jelli ins Zimmer, wenn er will. Es verjagt ihn niemand.

Die Jelli spürt selber, daß immer ein Schatten da ist und ihr folgt. Sie sagt, es hauche sie manchmal wie kühler Atem an. Am deutlichsten dann, wenn sie irgendwo ein Feuer oder eine Flamme sieht.

Die Jelli wird von Tag zu Tag schöner. Sie blüht auf, wie die Schlehblüte am Dorn. Von allen Seiten wird sie umschwärmt.

Doch diese Summer kümmern sie nicht.

Sie will nichts wissen von einer Heirat. Sie bleibt ledig.

Sie nimmt keinen Mann.


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