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Die Glanzstiefel

Am Tag nach Neujahr, als der Vater von einem Geschäftsgang aus der Brauerei heimkam und besonders guter Laune war, kriegte er mich lachend beim Ohrzipfel und sagte: »In vier Wochen wirst du zehn. Da sollst du von mir ein prima Geburtstagsgeschenk haben! Hast du einen besonderen Wunsch?«

Freilich hatte ich einen. Aber der war so verwegen, daß ich gar nicht den Mut fand, ihn dem Vater einzugestehen.

»Heraus mit der Sprache!« stiftete er mich auf. »Wie soll ich dir denn etwas schenken können, wenn ich nicht weiß, was dir Spaß macht?!«

Sein Zureden half.

Zwar druckste ich noch eine geraume Weile; es wollte und es wollte nicht; ich wurde rot bis hinter die Ohren; aber schließlich platzte es doch heraus: mein heißester Wunsch war ein Paar Glanzstiefel.

Der Vater pfiff überrascht durch die Lippen, als er das Wort Glanzstiefel hörte, wiegte seinen Kopf mit dem kurzgeschorenen Stacheldraht und meinte schließlich: »Hör, wohlfeil bist du grad nicht für einen Schuhmachersohn! Du gehst gleich ans Teuerste im Laden! Doch warten wir ab, du sollst deine Glanzstiefel kriegen!«

Wer war stolzer und zufriedener als ich?

Glanzstiefel, das war in jener sagenhaften Zeit das Höchste, was einem Buben meines Alters zugänglich war.

Glanzstiefel, die gingen bis an die Knie, man sah fast wie ein Mann darin aus!

Glanzstiefel, da konnte man auf einen einzigen Rutsch hineinschlüpfen und brauchte nicht erst noch das langweilige Zuknöpfen oder Bändeln!

Glanzstiefel, die waren aus feinstem Lackleder und glänzten auch ungewichst!

Glanzstiefel, die drückten nicht; denn die hatten ungenagelte Sohlen! Man ging wie auf Sammet darin!

Und teuer waren sie, Friedibert Stulpenzahn, sündhaft teuer!

Als ich vor meinen Kameraden in der Schule prahlte: »Ich bekomme zum Geburtstag Glanzstiefel!«, stießen sie ein Hohngelächter aus und sagten: »Ja, du und Glanzstiefel! Ihr zwei kommt im ganzen Leben nicht zusammen! Schmierstiefel wirst du kriegen und den Hintern voll Schlag!« Und, weiß Gott, die kleinen Krüppel sollten recht behalten.

Vier Wochen sind sonst in einem Jungenleben keine lange Zeit. Die verschwinden wie Kreidestriche, die ein nasser Schwamm von der Schultafel abwischt.

Aber wenn man auf Glanzstiefel wartet, die einem versprochen sind, dann wollen vier Wochen überhaupt nicht zu Ende gehen.

Am Geburtstag wachte ich bereits zwei Stunden vor dem Rattern des Weckers auf. Was verschlug es mir, daß draußen noch stockdunkle Nacht war? Es hielt mich einfach nicht mehr im Bett. Ich ging runter in die Stube, trotzdem die noch nicht geheizt war und mir von der januarlichen Kälte die Zähne klapperten.

Auch das ging herum. Um sieben Uhr saßen die Gesellen da, und nachher sah ich, wie in der Küche mein Geburtstagskuchen aufgestellt wurde, mit zehn Kerzen darum. Aber Kuchen hin, Kuchen her, der war mir heute nur halb so wichtig, wie sonst. Ich paßte nur darauf, daß der Vater den Laden aufschloß, um mir die Glanzstiefel zu holen.

Als er verschwunden war, hörte ich, wie er eine Weile in den Schuhschachteln kramte. Doch, als er zurückkam, trug er sein Geschenk nicht offen, sondern hielt es unter der grünen Schuhmacherschürze verborgen. Als ich diese tuchene Ausbuchtung sah, ging es mir wie ein Stich durchs Herz. Eine böse Ahnung beschlich mich: das konnten doch nicht die Glanzstiefel sein; denn die würden mit ihren langen Schäften viel mehr Platz eingenommen haben.

Manchmal sind Stiche ins Herz keine Nerventäuschung, auch wenn das Herz nur ein Kinderherz ist. Nein, manchmal sind Stiche ins Herz Wirklichkeit. In diesem Falle trafen sie in voller Schrecklichkeit zu; denn was der Vater zum Schluß seines Spruchs unter der Schürze hervorzog, waren in der Tat nicht die versprochenen und von mir so ersehnten Glanzstiefel, sondern ganz gewöhnliche Laschenschuhe. Roßlederne Laschenschuhe, innen mit Schaffell gefüttert, das richtige Wintergetramp, dick mit gelbem Schuhfett bestrichen.

Ich kann nicht sagen, wie mir zu Mute war. Wenn ich in diesem Augenblick gestorben wäre, das hätte mir gar nichts ausgemacht; im Gegenteil, dann wäre dem Vater recht geschehen und der Mutter und meinen Geschwistern und dem Dorf, überhaupt der ganzen Welt! Doch ich starb nicht, ich blieb leben.

Der Vater, der Schalk, lachte nur, als er sah, daß ich sein Geschenk so abweisend in die Hand nahm, als wär es eine widerliche Kröte. Aber nachher, als mir das Wasser aus den Augen schoß und ich meine grenzenlose Enttäuschung in lauten Herztönen ausschrie, bekam er's halb mit der Angst und halb mit dem Mitleid zu tun und sagte:

»Heulen hat keinen Zweck, dummer Bub! Hör auf damit! Ich hab dir die Glanzstiefel versprochen, und du bekommst sie bestimmt noch. Aber erst muß die Sohle an diesen Laschenschuhen durch sein! Eher nicht!«

Ich hörte mitten im Weinen auf. In der Finsternis meiner Enttäuschung wirkten seine Worte wie ein heller Hoffnungsstrahl.

Langsam wischte ich die Tränen ab, eine Weile später setzte auch Schluchzen und Glucksen aus, und eine Viertelstunde hernach konnte ich schon wieder lachen und hopsen, und die Freude am Leben zersprengte mich schier; denn ich hatte mir ausgerechnet, daß die Sohlen an dem Geburtstagsgeschenk sehr rasch durch sein würden.

Freilich, wenn ich auf den natürlichen Verschleiß der Laschenschuhe hätte warten wollen, wäre mindestens ein Vierteljahr vergangen, bis ich die Glanzstiefel bekommen hätte. Denn die Laschenschuhe hatten doppelte Sohlen, Kernledersohlen, beste Eichenloh-Grubengerbung, keine Fabrikgerbung. Solche Sohlen halten schon einen ordentlichen Trab aus. Aber es gab ja zum Glück noch Mittel und Wege, um die gewöhnliche Abnützung von Kernledersohlen zu beschleunigen. Wozu ist man Schuhmacherssohn und wozu hat man Grips im Kopf?!

Die Hälfte meines Geburtstagskuchens mußte daran glauben. Damit brachte ich meine beiden jüngeren Brüder dahin, daß sie mir hinten im Holzschopf den Schleifstein drehten; und während sie drehten, daß das Wasser aus dem Trog wie ein Eiszapfen am Stein stand, saß ich auf dem Holzblock davor und hielt beide Füße mit den Sohlen an die Schleiffläche hin, daß das gute Kernleder nur so pfiff und knirschte.

Nach fünf Minuten emsigen Schleifens spürte ich, wie das erste Wasser eindrang und mir die Strümpfe netzte. So, kleine, willige Knechte, jetzt halt mit dem Drillen! Beide Schuhe waren durch, durch bis auf die Brandsohlen.

Ich konnte es kaum erwarten, zum Vater in die Werkstatt zu kommen.

Die beiden Kuchenkauer, die mir folgten, hatten es bedeutend weniger eilig. Wie sich nachher erwies, schätzten sie trotz ihrem Weniger an Jahren den Mechanismus der Welt, das heißt, den Handlungsablauf der Wirklichkeit, bedeutend besser ein als ich, der ihnen an Alter voraus war.

Als ich in die Werkstatt schoß, kniete der Vater gerade vor einem Kunden, dem er ein Paar Schuhe anmaß. In meiner Glanzstiefelbesessenheit, nahm ich gar keine Rücksicht auf den Herrn Bräumeister.

»Vater!« schrie ich, »Vater! Sie sind durch!«

»Wer ist durch?« fragte er verwundert, dem Benniger das Bandmaß vom Rist nehmend. »Wer denn um Gotteswillen? Etwa die beiden Kassierer von der Vereinsbank?« (Denn seitdem er seine paar ersparten Mark dort auf dem Konto stehen hatte, plagten ihn immer derlei Vorstellungen.)

»Nein, Vater!« rief ich lachend, »nicht die Bankkassierer sind durch, aber meine beiden Schuhsohlen! Jetzt her mit den Glanzstiefeln!«

Die Glanzstiefel kamen. Ich hätte sie gar nicht so laut und ungestüm zu fordern brauchen.

Prompt kamen sie.

Auf der Stelle kamen sie.

In solcher Fülle kamen sie, daß sogar der Mann in den Strümpfen einspringen mußte, um mich von dem allzuvielen Glanze zu retten.

Ehrlich gestanden, es war der bewegteste Geburtstag meines Lebens.

Noch heute, so viele Jahre auch über diese Geschichte verrauscht sind, zittert mir in Gedanken daran jeder Empfangsnerv.

Ein Glück nur, daß bald hernach Glanzstiefel gänzlich aus der Mode gekommen sind. Sonst hätte ich, nachdem mein Schädel verheilt war, noch jahrelang in den Pausen auf dem Schulhof hörbare Quittungen austeilen müssen.


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