Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zizzer

Um Zizzer und sein Schicksal zu begreifen, muß man Zizzers Familie kennen: seinen Herrn Vater, seine Frau Mutter, seine sieben stolzbockigen, strohhaarichten Geschwister.

Um mit dem Wichtigsten anzufangen: Zizzers Vater war ein so vornehmer Herr, daß er nie in bloßen Händen auf die Straße kam, immer hatte er sie in gelben ledernen Handschuhen stecken. So vornehm war Zizzers Vater, daß alle Leute im Ort den Hut vor ihm zogen, wenn sie ihn nur von weitem sahen. Sogar Lieni, der Schmied, scharrte mit dem Hinterfuß, wenn der Gewaltige in die Nähe kam, nahm die Hände aus dem Sack, die Gipspfeife aus der Zahnlucke und muckte sich nicht, trotzdem er sonst den Blechwagen seines Gesprächs ganz mutig durch die Gassen bollern ließ.

Zizzers Vater hatte es gut. Er brauchte nicht in einer engen, verräucherten Werkstatt zu sitzen, wie meiner und Leder klopfen und Schlurpen flicken und Riester aufsteppen. Er brauchte auch nicht zu schinnackeln und zu bärzen, bis ihm, trotz der Glaskugel, die vor der Lampe hing, die Augen brannten und bis ihm vom Pechdrahthalten die Finger krumm und steif wurden. Nein, das alles brauchte er nicht. Er saß in einem großen weitläufigen Büro, das vier mächtige Ledersessel und ein noch mächtigeres Kanapee hatte. Bei seiner Arbeit stand keiner hinter ihm, der ihn trieb, und es lag ganz in seinem Belieben, aus jedem Tag einen Sonntag zu machen oder nicht.

Zizzers Vater hatte eine Frau, die zu ihm paßte. Sie trug den Kopf womöglich noch ein Stockwerk höher als er selber, und wenn sie mit ihren drei Mägden auf den Wochenmarkt ging, sah sie vor lauter Vornehmheit beinahe steifleinen aus. Ihre Seele hatte nur eine Leidenschaft, den Hochmut.

Zizzers Vater und Zizzers Mutter waren nicht allein gelassen worden, sie hatten eine stattliche Kinderschar. Aber die schossen nicht so wild daher, wie Hummeln aus dem Nest, sondern gingen ernsthaft, würdig und gravitätisch, wie sie es ihren Alten abgesehen hatten, bei jedem Schritt vornehm mit dem Kopf nickend, genau wie die Störche in der Hardtlache oder auf den Rosenauer Sumpfwiesen, wenn sie auf Frösche spitzen oder auf sonst etwas Lebendiges. Wenn das die Leute sahen, sagten sie: »Schaut nur, ganz der Vater!« »Schaut nur, ganz die Mutter!« Und je älter die Kinder wurden, desto mehr freuten sich Vater und Mutter des Fleisches von ihrem Fleische und des Beines von ihrem Gebein, und die Zukunft lag vor ihnen lockend da, wie der Bienenstock dem witternden Bären, der nur den Honig riecht und dessen Süßigkeit, der aber nicht den Stachel kennt, den wütig eingehauenen, der Bienenschar.

Zizzers Vater und Zizzers Mutter freuten sich über alles in der Welt, nur über Zizzer selber freuten sie sich nicht. »Den hat ein falscher Wind in unser Geblüt geweht!« sagten sie manchmal abends, wenn sie unter dem glitzernden Kronleuchter saßen und bekümmert von ihrem Jüngsten sprachen. Gar keinen Stolz hat er, gar keine Einbildung auf sein vornehmes, weitgeachtetes Geschlecht. Er fühlt gar nicht, daß er etwas Besseres ist, als diese flegelhaften, unpolierten Sundgaulümmel, wo soll das enden? Ja, wo soll das enden? Und mit Dummheit scheint er gesegnet, es ist eine Schande!

Und die Zornadern schwollen auf der Stirne von Zizzers Vater, wenn er an seines Sohnes Unbegabtheit dachte, und im Gesicht der Mutter stand nur Mißmut und Ärger.

Uns aber war Zizzer der Liebste von der ganzen Gesellschaft. Seinetwegen konnte uns der gesamte verwandtschaftliche Anhang gestohlen werden! Wir würden nicht einmal den Kopf danach wenden! Wenn er auch in der Klasse auf der letzten Bank saß und auf dieser letzten Bank auf dem allerletzten Platz, so war das in unseren Augen für ihn kein Makel. Er war ein guter Kerl, ein Bursche, auf den man sich verlassen konnte; der verpetzte keinen, der blieb bei der Stange. Dadurch unterschied er sich vorteilhaft von seinen Brüdern. Freilich, im Unterricht kam Zizzer nur schwer mit, trotz aller Mühe, die er sich gab.

Besonders rechnen konnte er nicht. Die Zahlen sind oft eine tückische Bande, und gegen den kleinen, verschüchterten Zizzer hatten sie sich auf ewig verschworen. Da nützte alles Spicken und Abschreiben nichts.

Eines Tages, nachdem der Häuptling über uns angehende fünfzig Präparanden einen schweren Seelenkampf ausgefochten hatte, zog er seinen altmodischen schwarzen Schwenker an und machte Zizzers Vater nach dem Kaffee einen Besuch, um zu sagen, daß es wohl das Beste sein würde, wenn man Zizzer in der Schule nicht weiter plage, sondern ihn zu Ostern herausnähme, damit er irgend etwas Praktisches lerne.

O Gott, was da, auf diesen Vorschlag des Rektors hin, für ein Gewitter anrollte! So laut wie Zizzers Vater in diesem Augenblick konnte sonst nur noch unser Pfarrer Dietsch in der Sonntagspredigt schreien, wenn er gegen den zu tiefen Halsausschnitt der Jungfrauen loszog und selben als ein Fangwerk des leibhaftigen Satans hinstellte. Erst als der Rektor den sich wie rasend Gebärdenden in aller Bescheidenheit darauf hinwies, daß durch den Lärm, den er vollführe, sich schon unten auf der Straße Leute ansammelten und nach den Fenstern hinaufschauten, wurde er stiller, und zum Schluß gab er dem Rektor die Hand mit einem solchen Druck, daß der meinte, sämtliche Fingerknochen würden ihm zu Kiesgrieß zergrällen.

Auf dieses Begebnis hin wurde Zizzer zu Ostern aus der Schule genommen und in ein kleines statistisches Büro gesteckt, wo er den ganzen Tag lang hinter einem dicken Buch sitzen und Zahlen, schreckliche Zahlen zusammenrechnen mußte. Ob draußen die Sonne schien, oder ob die grauen Regenwolken vom Tüllinger Berg her über den Rhein zogen, das merkte er alles nicht. Er sah nichts als die Staffel- und Marschkolonnen seiner Feinde, die ihn aus allen Buchseiten heraus ansprangen und die ihm keine ruhige Minute ließen.

Die 1 fuhr auf ihn los, wie ein spitzes Enterbeil.

Die 2 hatte schon die Schlinge gerüstet, um ihn zu fangen.

Die 3 zog das Genick ein und zeigte sich voller Widersetzlichkeit.

Die 4 saß auf ihrem Stuhl und fauchte Gift.

Die 5 war unterschlächtig, wie ein geöffnetes Maul, das zuschnappen wollte.

Die 6, hahahaha, die machte einen runden Rücken und lachte ihn aus.

Die 7 war jungfernhaft spitz und stichelte.

Die 8 stand dumm da, unzugänglich und unbekümmert.

Die 9 hing wie der Schelm am Galgen und roch nach Verwesung.

Die 0 blies sich zu einem Ballon auf, der aufschwebte und aus den Buchseiten herausstieg und solchermaßen die ganzen Zahlenreihen in Unordnung brachte.

So war Zizzers Beschäftigung mit den Zahlen nichts anderes als Kampf. Erbitterter, wutvoller, tödlicher Kampf, in dem er unbedingt unterliegen mußte, weil er Angst hatte vor dem Unbegreiflichen, das in diesen Wesen in Form gebannt war.

Die Leute sagten, die Luft des Statistischen Amtes bekommt Zizzer nicht, denn er wurde bleicher und bleicher und noch viel scheuer und stiller als vorher. Zizzers Vater aber freute sich; denn jetzt würde sein Jüngster jeden Monat selbstverdientes Geld heimbringen, und wenn's zunächst auch nur recht wenig war, so ließ es doch hoffen, daß Zizzer sich eines Tages selber würde durchs Leben finden können. Brachte er's auch nicht zur Berufsvornehmheit seines Vaters, so konnte er doch leben, ohne sich je mit groben oder schmutzigen Arbeiten abgeben zu müssen. Als Anerkennung durfte Zizzer sein erstes selbstverdientes Monatsgeld behalten.

Was er damit tat, erfuhr vorläufig niemand. Das war ein Geheimnis, das keiner ahnte, das sich aber gar bald erschrecklich lösen sollte.

Eines Abends kam Zizzer nicht zur gewohnten Zeit heim. Sogar zwei Stunden später war er noch nicht da. Das gab Aufruhr im Hause, und sein alter Herr schwur, er würde dem Bengel schon Mores lehren!

Die Dame des Hauses nickte bedächtig zu diesem Ausspruch und sagte: »Jawohl, mein Lieber, du bist es dir selber schuldig, endlich einmal ein Exempel zu statuieren!«

Derjenige aber, an dem das Exempel statuiert werden sollte, trieb inzwischen unter den ersten Sternen dahin in dem dunklen Wasser des Rheins.

Seinen Kampf hatte er ausgekämpft.

Frieden der Welt spielte in seinem starren geöffneten Auge.

Die Arme weithin ausgestreckt, wie die Flügel eines schwebenden Vogels, schwamm er dahin, Fahrzeug am Rand der Unendlichkeit.

Bei Kembs wurde er im Rechen gefunden, sonntäglich gekleidet. Alles, was er anhatte, war neu: Hemd, Strümpfe, Anzug, sogar die Lackschuhe. Von dem ersten eigenen Geld, das ihm in die Finger kam, hatte er sich dies alles gekauft. Er wollte geschmückt und neu hinausgehen auf die ewige Wanderschaft.

Die Leiche war schön über alle Maßen. Der ganze Gau dabei und Weihrauch so viel, wie sonst nur in den Totenämtern, wo es einem gestorbenen Bürgermeister gilt.

Zizzers Vater stand unbewegt da, als die Seile um den schmächtigen Sarg gelegt wurden. Es zuckte keine Faser in seinem betonierten Gesicht.

Als der Sarg hinab mußte in die gelben Letten, fuhr am Gottesacker der Basler Schnellzug vorbei. Dem Leichengefolge wurde der Kopf herumgerissen von dem Geräusch des ausströmenden Dampfes.

Niemand hatte mehr acht auf den Sarg.

Alle sahen der enteilenden Rauchfahne des Zuges nach.

Wir Jungen aber heulten wie Schloßhunde.


 << zurück weiter >>