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Der Pfiff im Basler Theater

Damals, als diese Geschichte passierte und die ganze Stadt am Rheinknie in Aufregung versetzte, war ich noch ein schmächtiger Seidenfärbergesell, in langen braunen Manchesterhosen, mit breitem rotflanellenem Leibgurt, mit einer Krawatte, in der sich der Wind fing wie in einer knatternden Seidenfahne, und mit einem Samthut, noch wuchtiger und noch verbeulter als jene, die für gewöhnlich die beohrringten Hamburger Zimmerleute tragen, wenn sie nach Feierabend durch die Straßen flanieren. Ja, so sah ich aus, halb tschingen- und garibaldimäßig, halb wie einer, der aus purem Kunsttrieb nebenamtlich Leinwand bekleckst.

Aber das Aussehen trog, ich hantierte weder mit geladenen Pistolen, noch mit Palette und Pinsel, sondern ich stand jeden Tag von morgens um sieben bis abends um sechs hinter meinem Säuretrog in der Färberei Schetty in Klein-Basel und half mit, auf die Seide im Bad eine der sieben Farben des Regenbogens zu legen oder eine ihrer hundertfach abgewandelten Schattierungen, je nach dem vorgelegten Muster.

Es war ein nasses Handwerk, das von meinen Gaben weiter nichts anstrengte, als die Augen und gewisse Muskelpartien des Oberarms, und so ist begreiflich, daß am Wochenende, nach dem Zahltag, immer noch ein gut Teil ungenützter Kraft vorhanden war. Aber wohin damit? Denn damals waren, gemessen an heute, unerhört geruhige Zeiten.

So saß ich einmal Sonntags mit meinen Freunden Paulus und Nitti zusammen, keine Seidenfärber notabene, sondern Burglibemer Bürgersöhne, die pflichtgemäß in Basel die höheren Schulbänke drückten und die gleichfalls nicht wußten, wohin mit ihrem überschüssigen Auftrieb.

Das seien einmal elendige Zeiten, murrten sie, alles und alle wären flachgedrückt wie ausgewalzter Nudelteig, nur noch Fläche, keine Gipfel mehr, die Zeiten des Heldischen auf ewig dahin; man wäre dazu verdammt, in diesem Geschlechte rühriger Phäaken mitzublödeln, und schließlich sänke man in die Grube, ohne je Gelegenheit gefunden zu haben, seinen Namen irgendwie in den Marmor der Geschichte einzugraben.

Schon aus der Geschwollenheit dieser Redensarten läßt sich ermessen, wie jung und wie schrecklich grün die Herrn Gesprächsführer gewesen sein müssen.

Na, war meine Antwort, so schlimm sei die Sache denn doch nicht. Es gäbe auch jetzt noch allerlei Gelegenheit, selbst in diesen verschimmelten Zeitläufen, seinen Mann zu stellen, wenn es darauf ankäme und persönlich Mut zu zeigen.

Und das wäre?

Wenn zum Beispiel einer hingeht und im Theater, wenn alle andern klatschen, pfeift. Das gäbe ein Verhältnis von 1: 600, und das erfordere immerhin Mut.

»Und das würdest du tun?« fragte gespannt der lange Nitti.

»Warum nicht?«

»Wetten wir?«

»Ja, wetten wir!«

Damit war der Würfel gefallen. Ich mußte nun, wenn ich nicht vor mir selber als Feigling dastehen wollte, im Theater pfeifen. Doch kriegte ich sofort Genickstärkung, denn Paulus sagte:

»Du, da mach ich mit!«

So nahm das Schicksal seinen Lauf.

Wir umschlichen die Theaterzettel, wie Panter ihre Beute. Eines Abends wurde »Die geschiedene Frau« gegeben; das schien uns der rechte Brocken. Wir kauften die Karten und setzten uns in Erwartung der kommenden Dinge hoch hinauf in den Olymp. Das war, wie sich später zeigte, ein schwerer taktischer Fehler. Denn das eine ist sicher, hätten wir Logenplätze gehabt, so würde es den Landjägern schwerlich eingefallen sein, uns, wie nachher geschah, einfach mirnix-dirnix am Bändel zu packen.

Richtig, wir hatten uns nicht verrechnet, im zweiten Akt konnten wir ohne weiteres Ärgernis nehmen. Für die Zuschauer war's türkischer Honig oder noch was Besseres; denn sie wieherten geradezu vor Beifall, wir zwei Sittenrichter aber pfiffen durch die Finger, als gelte es, einen ausgerissenen Bernhardiner zurückzuholen!

Hei, das schallte!

Überraschend, wie so ein Schrillton wirken kann!

Das Klatschen hörte auf, unvermittelt, als sei es mitten durchgespalten.

Den Sängern und Sängerinnen gefror der Ton im Halse.

Eine sekundenlange vollkommene Stille fiel ein.

Alle Gesichter drehten sich zu uns hinauf.

Die Szene hatte blitzschnell gewechselt. Nicht mehr die auf der Bühne waren die Akteure, sondern wir da oben.

Inzwischen hatte sich das Publikum erholt.

Von neuem brach der Beifall los, viel stärker als zuvor.

Aber sofort zerschnitten wir ihn wieder mit unsern Pfiffen.

Dieses Duell zwischen Beifall und Mißbilligung wiederholte sich noch einige Male.

Schließlich blieben unsere Pfiffe Sieger; ritsch, wurde der Vorhang heruntergelassen.

Die Lichter flammten auf im Saal, es wurde hell wie am Tage, und schon zerteilte händeschlenkernd ein Landjäger die aufgeregten Wogen der Zuschauergesichter und fahndete nach den unverschämten Pfeifern.

Prompt meldeten wir uns und ebenso prompt wurden wir abgeführt.

Nach vielem Treppenab landeten wir im Büro des Theaterdirektors. Da war schon eine ansehnliche Menge Bühnenvolks versammelt, das über uns herfiel mit neugierigen, spitzigen Schnäbeln und wissen wollte, wer uns zum Pfeifen angestiftet habe.

Wir sagten: »Niemand anders hat uns angestiftet, als unser guter Geschmack. Ist das noch ein Theater, das solchen Dreck serviert?«

»Ha, Dreck!« sagte der Bühnengewaltige, und schnaubte durch die Nase wie ein geärgertes Nilpferd, »ha, ihr Burschen, diese Beleidigung wird euch teuer zu stehen kommen!«

Der Mann kannte das Leben und seine Mechanik, daher hatte er leicht zu prophezeien.

Der Spaß kam uns wirklich teuer zu stehen.

Zwar Paulus entwischte glimpflich. Ihm, als geborenem Schweizer, hängten sie nur die silberne Uhr ab und beschlagnahmten von dem Geld, das er bei sich trug, zwanzig Franken, dann war er entlassen.

Ich aber, der ich kein Schweizerbürger war und als Seidenfärbergesell noch keine Gelegenheit gehabt hatte, zu einer silbernen Uhr und zu zwanzig Franken Kassenbestand zu kommen, befand mich bedeutend im Nachteil; ich hatte infolgedessen das Vergnügen einer Nacht im Lohnhof, Pritsche an Pritsche mit Dieben, Betrügern und Zuhältern.

Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr kam meine gute Mutter und löste den verlorenen Sohn aus, indem sie fünfundzwanzig Franken hinterlegte.

Sie zerfloß schier in Tränen, als sie mich sah, denn drinnen im Büro hatten ihr die Sachkundigen klar gemacht, daß es mit mir nicht richtig sein könne. Denn ein Mensch, der, wenn er ein paar hübsch gewachsene Mädchenschenkel sehe, mißbilligend pfeife, statt erfreut zu klatschen, der gehöre schleunigst in die Friedmatt. Der solle sich die Welt von der Gummizelle aus anschauen.

Einige Wochen nach dem Pfiff stieg dann in Basel irgendwo in der Münstergegend die Gerichtsverhandlung.

Der Landjäger, der uns abgeführt hatte, trat als Zeuge auf und bekundete, wir beide hätten so scharf gepfiffen, wie die Milchmannen, die frühmorgens die Milch austragen. »Gepfiffen wie die Milchmannen!« damit waren wir genügend charakterisiert. Ich sah das schon daran, wie der Schnauzbart des Vorsitzenden wackelte.

Unsere Verteidigung bewegte sich in sehr einfachen Linien. Mit dem Kauf der Eintrittskarte hätten wir uns ein Recht auf freie Meinungsäußerung erworben. So gut es den einen gestattet sei, Geräusche zu machen durch Zusammenschlagen ihrer Hände, genau so wenig könne es uns verwehrt werden, Geräusch zu machen, indem wir einen Luftstrom nachdrücklich durch die gespitzten Lippen streichen ließen.

Ja, meinte der Vorsitzende, wenn uns das Stück nicht gepaßt hätte, warum wir denn nicht einfach aufgestanden und davon gegangen wären, sozusagen als stille Musterbürger?

Ja, sagten wir, diese lautlose Form der Mißbilligung wäre uns nicht nachdrücklich genug erschienen.

Wir wollten uns daraufhin noch ein Langes und Breites auslassen über die Grundrechte eines jeden Theaterbesuchers, aber einer der Herren hinter dem Tisch riß uns den Faden unserer Rede glatt ab durch die Bemerkung, so ein gedoppelter Pfiff vor versammeltem Publikum sei eben unerhört; wenn uns das Basler Theater und seine Darbietung nicht zusage, so sollten wir gefälligst draußen bleiben in unserer elsässischen Großstadt Burgliber, die zweifellos Wertvolleres zu bieten in der Lage sei, als das rückständige helvetische Basel.

Auf diese Rede hin lachten die Zuhörer im Saal ganz unbändig, und sogar der Zeuge Landjäger verzog sein strenges Amtsgesicht in heitere Querfalten und langte schnell nach dem Schnupftuch, um sich für eine Weile unsichtbar zu machen.

Der Vertreter der Anklage ließ sich aber von der allgemeinen Lustigkeit nicht anstecken, sondern beantragte strengstimmig eine ganz exemplarische Bestrafung, umso exemplarischer, als doch feststehe, daß siebenundzwanzig Jahre lang im Zuschauerraum des Basler Stadttheaters nicht gepfiffen worden sei. Wir, die Angeklagten, hätten also mutwilligst den guten Ruf dieses Kunstinstituts zu stören versucht.

Das Urteil fiel aber gelinder aus, als auf diese Brandrede hin zu erwarten war. Wir wurden dazu verknackst, je einen Franken an den entstandenen Gerichtskosten zu bezahlen. Damit sollte ausgedrückt werden, daß wir nicht gänzlich freigesprochen seien. Von einer eigentlichen Buße wolle man angesichts unserer Jugend absehen; wir wären ja bestraft genug: der eine durch den ausgestandenen Schrecken bei der Festnahme, der andere durch die Nacht auf dem Lohnhof.

Schluß, sehr zur Verwunderung des Landjägers.

Paulus bekam sein Geld und die silberne Uhr wieder, und ich die von meiner Mutter hinterlegte Summe, abzüglich des einen Franken.

Damit könnte die Pfiffgeschichte eigentlich aus sein, sie ist's aber nicht. Sie war späterhin Gegenstand einer Interpellation im Großen Rat der Stadt und wirbelte noch allerlei Staub auf.

Uns stach das nicht mehr. Die Hauptsache war, wir hatten zu zweit unsere Wette gewonnen und dem Nitti gezeigt, daß man sich selbst in verschlammten Zeiten noch auf die Zehen stellen kann. Freilich, in die »Marmortafel der Geschichte« hatten wir unsere Namen nicht eingraben können, aber doch hatten die Redakteure von fünf Zeitungen unseretwegen ihre Federhalter eintunken müssen.

Jetzt, nachdem so viele Jahre über diesen Pfiff im Basler Theater hingerauscht sind, hört sich die Geschichte von ehedem wie ein Scherzo an.

In Wirklichkeit war's aber eine winzige Tragödie, eine Tragödietta, wenn man so will.

Die Götter lassen sich nichts abhandeln. Sie haben an jeden Schritt, der hinausführt über die Grenze des Herkommens, eine Portion Angstschweiß gesetzt. So lang der fließt, ist dem Betreffenden nicht wohl. Ist er versiegt, mag man drob lachen.


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