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Der Sonntagskrach

Als ich beim Onkel Wiler zu Buschwiller in der Sonntagsstube stand, und er gerade gesagt hatte: »Na, wenn du uns schon die Ehre eines Besuches antust, willst du dich wenigstens nicht setzen?« kam die Anna, mein Bäslein, hereingewirbelt, und rief, als sie mich erkannt hatte und vom ersten Erstaunen losgekommen war: »Nein, so was! Wie der Bub in den letzten zwei Jahren groß geworden ist! Ein richtiger Mann. Man muß sich ja bald fürchten, dir einen Kuß zu geben!«

Aber dann kriegte ich den Kuß vom Bäslein doch und zwar viel heftiger als früher. So heftig sogar, daß ich mit dem Rücken gegen den großen wackligen Kasten stieß, und daß daraufhin all die kleinen Zierkürbisse herunterrollten, die dort zum Trocknen aufgestellt waren. Wir bückten uns beide nach dem bunten knollenwarzigen Zeug. Doch als wir uns aufrichteten, jedes die Hände voll, stießen wir unversehens mit den Köpfen zusammen, und wieder waren die Kürbisse unten.

Während wir uns weiter mit dem Auflesen mühten, hatte der Onkel die geschliffene Karaffe vom Kännsterle genommen und war in den Keller gegangen, um Wein zu holen. Ich benützte die Gelegenheit, um der Anna einen zweiten Kuß zu geben. Aber da kam ich an die falsche Tür. Sie wehrte sich dermaßen, daß ich alle Mühe hatte, mich auf den Beinen zu halten, und sicher wäre sie mir mit allen zehn Krallen übers Gesicht, wenn es nicht in diesem Augenblick von der Kellertreppe her gehustet hätte.

Das war der Onkel. Diesen trockenen Husten, der ihn jedesmal schüttelte, wenn er aus dem Kühlen ins Warme kam, gab's in der Welt nur einmal.

Ich ließ das Bäslein los, als ob sie Feuer geworden wäre. Aber ich stand einige Augenblicke wie betäubt. Die Arme singelten mir, und mein Atem ging wie der Kolbendampf einer Lokomotive. Erst da merkte ich, wie schwer das zierliche Bäslein gewesen war. Wenn man die Weiber anschaut, glaubt man zunächst, sie hätten überhaupt kein Gewicht. Aber hinterher, Junge, hinterher!

Als der Onkel mit der vollen Karaffe eintrat, waren zwar mein Kragen und meine verrutschte Krawatte wieder in Ordnung, und auch die Anna hatte sich das widerspenstige Haar aus der Stirne gestrichen. Was aber nicht so schnell in Ordnung war, das waren wohl unsere Gesichter. Wenigstens schaute uns Wiler alt ein paarmal ganz kurios unter seinen schweren Augendeckeln hervor an. Doch, Respekt vor ihm!, gesagt hat er nichts.

Um elf Uhr kam die Tante aus der Kirche. Ich war wie erlöst; denn durch ihr hastiges: »Wie geht es dem Vater und wie geht es der Mutter? und was macht die ganze Verwandtschaft?« war die gefährliche Stauung abgelenkt, und ich schwatzte darauf los wie ein Star.

»Da schau einer den elenden Duckmäuser an!« polterte der Onkel los und schenkte mir von neuem das Glas voll. »Als er bei mir allein war, hat er ein Gesicht gezogen wie beim Zahndoktor und keinen Schnaufer getan. Sobald aber ein Weiberrock raschelt, wird er mobil!«

»Laß mir den Bub in Ruh!« sagte die Tante, »du siehst ja, wie er rot wird!«

Tatsächlich, ich fühlte mein Gesicht in Flammen.

Der Onkel Wiler hatte eine verdammte Art, einem zuzusetzen, und auch der Tritt, den mir das Bäslein unterm Tisch ans Schienbein gab, war kein Nervendämpfer.

Nachher, beim Essen, nahm sich die Tante Madlee meiner ganz besonders an und legte mir die schönsten Stücke auf den Teller. Und ich mußte tun, als ob mir alles mörderlich gut schmeckte. Dabei weiß ich heute noch nicht, hab ich an jenem Buschwiller Sonntag Harz oder Gummi gegessen. Wirklich nicht. Was soll das Essen für einen Sinn haben, wenn man im ersten Aufrauschen der Verliebtheit ist? Da möchte man am liebsten weinen oder lachen, je nachdem, auf keinen Fall aber essen. Das einzig Senkrechte wäre ja, man würde den Tisch nehmen und ihn samt Onkel und Tante zur Stube rausfeuern und ...

Die Anna schien meine Gedanken erraten zu haben; denn so oft sie die Gabel hob, machte sie mir gleichzeitig verstohlen einen Drohfinger. Das jedoch setzte mich nur noch mehr in Hitze.

Ganz schlimm wurde es, als die Tante zum Nachtisch schwarzen Kaffee und Kirsch brachte.

Kaffee-Kirsch auf einem sundgauischen Sonntagstisch ist etwas Heiliges. Wenn man ihn trinkt, müßte man eigentlich mit geschlossenen Augen dasitzen und, nachdem man den Zucker hineingeworfen hat, den herrlichen Dampf breitnüstrig aufsaugen, wie ein Gott den Rauch eines Brandopfers.

Doch heute kam es nicht zu dieser feierlichen Handlung; denn auf einmal witschte das Bäslein von seiner Bank auf und setzte sich mir auf den Schoß, mit beiden Armen meinen Hals umschlingend.

Ich war baff. Was würden die Eltern zu dem Überfall sagen?

Sie sagten gar nichts, sondern lachten.

Das Sagen war ganz Sache des Bäsleins.

»Du mußt mir etwas versprechen, Vetter!« und dabei stellte sie die Augen und machte den Mund spitz, als ob es einen Kuß gelte.

»Was soll ich versprechen?« fragte ich, und fühlte mich sehr ungemütlich.

»Daß du mich heute nachmittag auf die Kilbe führst! Du sollst dort mit mir tanzen!«

Als sie das sagte, bog sie sich so nah zu mir, daß ich den Duft ihrer Achsel spürte.

Wieder fühlte ich, wie mir Feuer ins Gesicht schoß.

»Ich kann ja gar nicht tanzen!« wehrte ich ab.

»Dann lernst du's eben! Ich will dir schon zeigen, wie man die richtigen Schritte macht!«

Jetzt mischte sich der Onkel ein.

»Bub!« sagte er, und klopfte dabei gründlich seinen Pfeifenkopf auf dem Fensterbrett in den Geranientopf, »du bist das erste Mannsbild außer mir, dem sie sich auf den Schoß setzt. Wenn sie bei mir so schmeichelt, hat's jedesmal etwas zu bedeuten. Bei dir wohl erst recht. Ich will dich gewarnt haben, paß auf! Auf dem hiesigen Tanzboden hat's schon manchmal Prügel geregnet!«

Der Onkel Wiler ist ein erfahrener Mann, und eigentlich hätte ich allen Anlaß gehabt, seiner Erfahrenheit zu folgen. Aber da er gleich darauf mit der Tante aus dem Zimmer ging, um den Mittagsschlaf zu halten, hatte das Bäslein bei mir gewonnenes Spiel. Wenn sie es verlangt hätte, wär ich gradaus in den Kanal gegangen, statt nur in die tanzbodische Prügelgegend. Wunderlich war nur, daß ich ihr versprechen mußte, sie auf dem Tanzboden zu küssen, so oft sie es wollte.

»So, jetzt will ich mich in Gala werfen!« sagte sie dann. »Schau derweil zum Fenster hinaus und wag es ja nicht, dich umzudrehen!«

Ich drehte mich wirklich nicht um. Erst als ihre gestärkten Röcke raschelten, wandte ich den Kopf und sah sie nun strahlend, ein Bild der Schönheit, der Jugend und der Gesundheit. Das Bild der Verschlagenheit aber, das mindestens ebenso stark ausgeprägt war, sah ich leider nicht. Wie ein blinder Bär tappte ich dem süßen Honig nach.

Auf dem Kilbeboden gab es ein großes Hallo, als die Wiler Anna mit mir, als einem Fremden, anrückte.

Die jungen Burschen fragten: »He, Anna, ist das dein neuer Schatz?!« worauf sie hochmütig sagte: »Ja, glaubt ihr vielleicht, Strohköpfe, ich bliebe des Birninger wegen ledig?«

Auf das Getuschel der Mädchen gab sie überhaupt keine Antwort. »Weißt du,« sagte sie zu mir, »denen hat der Neid das Mundwerk geschliffen. Die sind wütend, daß sie keinen solch sauberen Burschen für sich haben, wie du einer bist! Dahin damit!« und sie schnippte übermütig mit den Fingern.

»Sauberer Bursch!« Hallo, da stieg mir der Kamm!

Ich war ihr einziger Tänzer, und ich muß sagen, ich habe an ihrem Arm die noch fehlenden Schritte und Bewegungen sehr leicht begriffen. Was ich aber nicht begriff, war, daß ich den versprochenen tänzerischen Pflichtkuß jeweils dann abfeuern mußte, wenn ein dunkelhäutiger, beinahe ein Meter achtzig langer Bursche in der Nähe war.

Küsse allein, hinter der versteckten Seite der Hecke gegeben, ja, die sind schön! Küsse vor andern aber, wenn einem die ganze neidische Bande zuguckt, nein, bei aller Verliebtheit ist das eine mißliche Sache!

Das muß nicht nur mir, sondern auch andern so vorgekommen sein; wenigstens stand, als die Anna einen Augenblick fortgegangen war, der weißschürzige Bierträger da und hielt seine alte, zittrige Hand auf die Schreinerdiele, die hier den Tisch vorstellte.

»Junger Mann«, sagte er leise, »Ihr seid fremd und kennt anscheinend die hiesigen Gebräuche nicht. Wenn ich Euch einen guten Rat geben kann, so geht vom Kilbeboden weg und liefert Eure Mamsell ab, so schnell Ihr könnt! Und vor allem macht Euch auf den Weg, solange es noch hell ist!«

Ich sagte dem Alten Dankschön und gab ihm, als er das nächste Bier brachte, einen Nickel als Trinkgeld. Aber im Grunde wurmte es mich, daß ich vor Buschwiller Burschen ausrücken sollte. Und das nur, weil sie der Anna wegen auf mich neidisch waren! Nichts da! Nun erst recht hier geblieben! Zeig den Kerlen mal, was ein Schaufelstiel ist!

Die Anna steifte mir zu allem noch das Genick, indem sie sagte: »Gottlob, ich hab mich in dir nicht getäuscht! Jetzt seh ich, daß du aus den Bubenhosen raus und ein Mann bist!« und während sie das sagte, lächelte sie mich an und strich wohlgefällig den Zuschlagmuskel an meinem rechten Oberarm, und ich stellte mich selbstverständlich dabei an, daß er hart wurde wie gehämmertes Eisen.

Nun, auch ein Vielfaches von diesen Eisenmuskeln würde ein paar Stunden später nicht hingereicht haben, um mich aus der Tunke zu ziehen! Denn, wie es sich zeigte, gab es außer mir auch noch andere, die, was eiserne Zuschlagmuskeln anbetrifft, mit der gleichen Ware aufwarten konnten, und, was entscheidend ist in solchen Fällen, diese andern waren in der Überzahl.

Ich stieg mit der Anna gerade aus den Tergstätter Reben heraus und schwärmte, sie um die Hüfte haltend, verliebt den Mond an. Da warf sie plötzlich die Arme hoch und stieß einen Schrei aus.

Ich ließ sie fahren im ersten Schreck und sah im gleichen Augenblick, wie seitwärts vor uns ein Trupp dunkler Gestalten auftauchte, die Buschweiler Prügelgarde.

Sieh an, der alte Bierträger mit seiner Zitterhand hatte also doch recht gehabt.

Nun gibt es in einem Sundgaudorf und unter Sundgaumenschen nichts Zufälliges. Alle Lebensäußerungen sind nach strengen, mit bäuerlicher Ernsthaftigkeit festgehaltenen Gesetzen geregelt. Sogar der Krach. Ein gefülltes Bierglas, zum Beispiel, darf nicht heimtückisch auf den Kopf des Gegners sausen. Der damit Bedachte muß die Möglichkeit haben, ausweichen zu können. Beim Umgang mit Messern ist es genau so. Gegen einen Messerstich von vorn ist nichts einzuwenden. Warum hat der, der ihn bekam, nicht besser aufgepaßt?!

So spielte sich auch die nächtliche Begegnung an der Tergstätter Kreuzung nicht formlos ab, sondern nach Regeln, die wahrscheinlich vor tausend Jahren beim Aufeinanderprall junger Burschen schon so waren und die wahrscheinlich auch nach weiteren tausend Jahren noch so sein werden.

Es begann damit, daß mir der Lange, ein Meter achtzig große, mit edler Selbstverständlichkeit die Anna aus dem Arm nahm.

Das Wunderbare war, sie ließ es geschehen, ohne einen Muckser zu tun. Ja, als er ein paar Schritte weiter sogar auf sie einschlug, wehrte sie sich gar nicht und hielt still.

Da wußte ich plötzlich, daß dieser Lange Annas Schatz war. Ich Simpel war nur der beschwatzte Ersatz gewesen. Bohnenschatz, grad gut genug für ein paar Stunden.

Doch diese Erkenntnis hielt mich nicht ab, im nachfolgenden Redekampf zu behaupten, die gesamte Buschwiller Jungmannschaft sei keinen feuchten Kuhfladen wert.

Dieser Schimpf konnte nur tätlich abgewaschen werden, und so begann denn die bei solchen Gelegenheiten übliche Bolzerei. Sie endete natürlich damit, daß ich zum Schluß wie ein gejagter Hase über die Äcker stob.

Aus Zorn über das ihnen entgangene Opfer brüllten die Banditen hinter mir her: »Dü Kaib, kumm numme noch emol! Mihr wann dir scho gah!«

Ich kann versichern, daß dieses Angebot, mir »zu geben«, ganz ernsthaft gemeint war. Ich spürte aber nicht die mindeste Lust, es anzunehmen, vielmehr dankte ich dem Schöpfer, der so viel Kraft in meine Springmuskulatur gelegt hatte, daß es mir möglich war, die Entfernung zwischen mir und meinen Verfolgern derart zu vergrößern, daß mir auch der nachgeschmetterte Steinhagel nichts mehr anhaben konnte.

Zugerichtet war ich übel genug, und die beiden Doktoren, die mich nachher im Sierenzer Spital zusammennähten, kamen aus dem Erstaunen, was die Außenfläche eines siebzehnjährigen Sundgauburschen alles aushalten kann, kaum mehr heraus.

Acht Tage nach diesem Erlebnis kriegte ich vom Bäslein aus Buschwiller einen Brief mit vielen Entschuldigungen. Ich solle ihr das Vorgefallene nicht nachtragen. Es täte ihr ja leid, daß ich so verhauen worden sei, aber sie habe eben kein anderes Mittel gewußt, um herauszubringen, ob es der Birninger Joseph wirklich ernst mit ihr meine oder nicht. Jetzt sei durch meine freundliche Mithilfe dieses schwere Rätsel gelöst. Im August, gleich nach dem Kornschnitt, würde Hochzeit gehalten. Sie lade mich dazu ein und heiße mich als den Urheber ihres Glücks schon jetzt, im voraus, herzlich willkommen!

Aber unter diese krauslige, übermütige Schrift hatte der Onkel Wiler mit dicker Keule ein paar finstere Zeilen hingehauen.

»Lieber Neffe«, schrieb er da, »glaub der Anna nicht, sie ist und sie bleibt ein erzfalsches Luder! Komm ja nicht auf die Hochzeit! Der Birninger schlägt sonst die neuen Möbel zu Schanden, ganz abgesehen von dir. Denn wenn er nur deinen Namen hört, geht er hoch, wie ein Roß vor einem Nest angepflügter Hornissen. Also sei gescheit und stürze dich nicht in neue Doktorkosten!«

Ich legte den Brief, nachdem ich ihn etliche Male gelesen hatte, zuhinterst in die Schublade. Über dem kam die Mutter herein. Sie war erstaunt, mich auf zu sehen und fragte: »Ja, was seh ich, Bub, du bist ja wieder gesund?!«

»Gesund zwar nicht«, sagte ich, »aber geheilt bin ich, Mutter, geheilt!« Und damit zog ich den Schlüssel von der Schublade ab und vergrub ihn in meiner Joppe mit dem heiligen Schwur, nie mehr einer Langgezopften auf das Leimband zu gehen. Ein Schwur übrigens, der toternst gemeint war, der aber hernach vom Leben in hartnäckiger Vielfalt zunichte gemacht wurde.


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