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Der Vater

Was die Körpergröße angeht, war der Vater nur klein gewachsen, nicht einmal das Militärmaß, weshalb ihn auch die Preußen verschonten. Aber was Kraft und Stärke angeht, habe ich nie jemanden gesehen, der ihn übertroffen oder auch nur erreicht hätte.

Einen Kopf hatte er, stößig wie ein Stier, und einen Brustkasten, breit wie ein Bär. Mit jedem Gegner würde er's aufgenommen haben, wenn es Ernst gegolten hätte. Doch ist nie einer an ihn gegangen, auch bei den größten Händeln nicht. Sie hatten alle viel zu viel Respekt vor seinen Muskeln am Oberarm.

Was am Vater dran war, konnte man besonders im Herbst sehen, wenn die Kohlen und die Kartoffeln in den Keller getragen werden mußten. Da war der Vater in seinem Element. Da speichte er die schweren Doppelzentnersäcke herum, als ob nichts drin wäre als Bettfedern.

Solang ich an den Vater zurückdenken kann, immer sah ich ihn tätig, immer in Arbeit.

Er schien wie eine Maschine, der nur dann wohl ist, wenn sie unter Dampf steht und recht viel leisten kann.

Morgens um vier Uhr oder fünf Uhr, wenn die andern im Hause noch schliefen, stand er sommers schon auf, ging in den Garten, grub um, setzte, jätete, las die Raupen ab, fuhr Jauche oder holte Wasser aus der Hardtlache herauf zum Spritzen und Gießen, falls der Boden zu trocken war.

Um halber Sieben, wenn die Sirenen der Fabriken ringsum den Arbeitstag anheulten, kam er aus dem Garten zurück, trank den Kaffee und setzte sich dann auf seinen lederbespannten Schemel in der Werkstatt, klopfte Sohlleder oder fing auf der Nähmaschine in einem solchen Ras zu steppen an, als nähe er mit irgend einem unsichtbaren Gegner um die Wette.

Um sieben Uhr kamen die Gesellen angeschlurft. Denen schnitt er das Leder, wies ihnen die Arbeit zu und stauchte sie lafettenmäßig zusammen, wenn sie etwas falsch machten. Augen hatte er wie ein Luchs, nicht wie ein Schuhmacher. Verhehlen konnte ihm auch der geschickteste Arbeiter nichts. Er merkte jedes Fältchen, das am unrechten Ort war.

»Ja,« sagte er dann, »die Krawatte netzen und eure Schluckgluckmaschinerie feucht machen und blauen Montag reissen, das könnt ihr, ihr Herren Gesellen. Aber ein paar bessere Schäfte aufzwicken, das müßt ihr erst noch lernen!«

Aber diese Brummreden machten denen, die sie angingen, nichts aus. Jeder wußte, wie sie gemeint waren, und darum herrschte immer ein lustiger Ton in dieser Werkstatt. Es ging niemand hinein, der nicht übers ganze Gesicht lachte, wenn er wieder herauskam, und mochte er sich ein paar schwarze Trauerschuhe bestellt haben.

Der Vater hatte nämlich eine Art, Witze zu machen und selbst dem grolligsten Griesgram das Zwerchfell aus den Scharnieren zu lüpfen, daß ihm einfach nicht zu widerstehen war.

Diejenigen, die er in die Kur bekam, die brauchten sich nachher nicht mehr zu scheuern und abzubürsten, die waren meistens so sauber und glatt wie frischrasierte Männerbacken am Sonntag.

Gar viele Geschichten gehen über den Vater im Schwang: die vom Loch in der Hosentasche, durch das er die goldenen Zwanzigmarkstücke verlor; die vom Herrn Kreisdirektor, dem er gebuttert die Meinung sagte, trotzdem es noch ein volles Vierteljahr bis zum »schmutzigen Dunnstig« war; die vom Härtlinger Max, dem er die Leiter wegstellte, nachdem der in der Bodenkammer bei der Ursula Indergant verschwunden war. Aber die schönste aller Geschichten ist doch die vom Mohrangschang.

Der ist an einem Montagmorgen, vom Unterdorf kommend, kurz vor halber acht an Vaters Werkstatt vorbeigerannt. Der Pickelgesichtige hatte es eilig, weil er noch auf den Halb-Acht-Uhr-Tram wollte, der schon beim Lemiuswirt bereit stand. Es war also höchste Eisenbahn.

Der Vater hatte den Mohrangschang schon von weitem kommen sehen, und da er noch von früher her irgend ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte und ihm die Gelegenheit dazu eben günstig schien, trat er, als der Herr Bankbuchhalter vorbeigesaust war, unter die Ladentür und schrie ihm nach:

»He, Herr Mohrang, rennt doch nicht so! Kommt mal auf einen Sprung zu mir herüber, ich habe Euch etwas Wichtiges zu sagen!«

Der Mohrangschang wandte den Kopf: »Jetzt hab ich keine Zeit, Schuhmacher. Ich muß auf den Tram!«

»Wenn Ihr aber wüßtet, was das ist, was ich Euch zu sagen habe, so würdet Ihr wohl gerne eine Weile stehen bleiben und keine so langen Schritte mehr machen!«

»Ha, was ist's denn?«

»Kommt hier her, dann will ich's Euch sagen! Aber Ihr müßt ganz nahe herankommen; denn über die Straße herüber will ich's nicht bringen. Es könnt' unter Umständen Euerm guten Ruf schaden!«

Auf diese Worte hin zappelte der Angerufene wie ein Salm an der Angel. Er hatte keine Ruhe und keinen Frieden mehr. Die aufgescheuchte Neugierde rannte in ihm herum wie ein Eichhörnlein im Drillkäfig. Zwar fluchte er ein paar lästerliche Worte aus seinem halbroten Schnurrbart hervor, aber er schnappte doch merkbar ein, ließ den abfahrtbereiten Tram beim Lemiuswirt stehen und kam über die Straße herüber.

Aber der Vater, der ihn hergelotst hatte, zeigte jetzt die kühle Schulter und tat so, als ob er's gar nicht mehr eilig hätte mit dem Erzählen.

Fast verknällt ist da der Mohrangschang vor Neugier.

Er hat's kaum mehr erwarten können.

Wie ein Rennpferd, das am Start steht und ab will, hat er den Boden gescharrt. Bald hat er den rechten Fuß gelüpft und bald den linken.

Schließlich sagte er: »Spannt mich nicht unnütz auf die Folter, Schuhmacher. Rückt mal mit dem heraus, was Ihr Wichtiges für mich wißt!«

»Ja, ja,« antwortete der Vater, »drängt nicht so, Herr Mohrang, ich werd's Euch schon sagen. Aber vorher müßt Ihr mir hoch und heilig versprechen, daß Ihr nicht böse seid über das, was ich Euch jetzt verrate!«

»Spaß bei Seit', Schuhmacher, ich werd Euch darüber nicht böse sein, mag es sein, was es will!«

»Ist das auch sicher wahr?«

»Ihr könnt Euch drauf verlassen, 's ist sicher wahr!« sagt der Mohrangschang und zuckt vor Ungeduld wieder mit allen Muskeln.

»Glauben kann ich's aber erst, Herr Mohrang, wenn Ihr mir Eure Hand drauf gebt und Euer Ehrenwort!«

Was hat der solcherart aufgespießte Bankbuchhalter machen wollen? Um die Geschichte überhaupt erfahren zu können, mußte er, so schwer es ihm auch fiel, die Hand geben und sein Ehrenwort.

Bevor der Vater aber den Mund auftat, hat er bedächtig eine Prise Schmalzler Schnupftabak aus dem Päckchen genommen, mit dem er schon eine Weile spielte, hat sein rotgeblümtes Säckinger Taschentuch aus der grünen Schuhmacherschürze gezogen, hat sich damit schön langsam die Nase geputzt, zuerst das linke Nasloch und hernach das rechte Nasloch, und als er endlich damit fertig war, hat er sich in voller Andacht das Ausgeputzte angeschaut, und bis er dann das Taschentuch wieder in der Schürze hatte und das Schnupftabakpäckchen in der hinteren Hosentasche, ist auch glücklich schon der Halb-Acht-Uhr-Tram beim Lemius weggefahren und vor den nächsten dreissig Minuten kam keiner mehr. Sobald der Vater gesehen hat, daß der Tram endgültig weg war und von niemand mehr eingeholt werden konnte, auch vom besten Läufer nicht, hat er dem Mohrangschang die Hand auf die Schulter gelegt und hat ganz ernsthaft gesagt:

»Wißt Ihr, Herr Mohrang, Euretwegen haben gestern Abend in der ›Sonne‹ drüben Zwei den allergrößten Krach gehabt. Wenn ich nicht zufällig dazu gekommen wäre und geschlichtet hätte, würd's Mord und Totschlag gegeben haben.«

Dem Mohrangschang sind, als er das hörte, schier die Augen übergelaufen vor Eifer, und sein Atem, sein stößiger, ging doppelt so schnell wie gewöhnlich:

»Wie? Was? Meinetwegen haben Zwei in der ›Sonne‹ drüben Händel gehabt? Meinetwegen? Aber, um Gotteswillen, Schuhmacher, sagt mir, warum nur?«

Da hat der alte Schalk geschwind seinen dünnen Chinesenschnurrbart gedreht und die Spitzen zwischen den Fingern geknibbelt und hat den rechten Fuß auf die oberste Staffel gestellt, um mit einem einzigen Satz im Laden drin sein zu können, für den Fall, daß der Herr Bankbuchhalter wirklich vor Wut verknallte, und hat gesagt, schön klar und deutlich und bis in die letzte Silbe hinein verständlich hat er gesagt, daß man's bis zur Apotheke hinüber hören konnte, wo schon ein paar stehen geblieben waren und die Ohren spitzten:

»Wißt Ihr, Herr Mohrang, die Zwei gestern Abend haben deswegen so fürchterlich Krach miteinander gehabt, weil sie Euch beide auf die Nase machen wollten. Aber ich hab gesagt, es sei schon an einem genug!«

So viele Flüche, wie sie der Herr Bankbuchhalter in den nächsten fünf Minuten in den burglibemer Himmel stieß, so viele brachte er sonst nicht einmal in einem Vierteljahr fertig. Und das will bei einem Lippenathleten wie dem Mohrangschang schon was heissen, flucht er doch für gewöhnlich pro Tag mehr Verwünschungen, als Napoleons Pappelbäume am Rhein stehen von Hüningen bis nach Schalampi hinunter, und das sind nicht wenig!

Der Vater aber ist in seiner Werkstatt drin auf dem Schemel gehockt und hat aufs Leder geklopft, schallend, hallend, als ob es gar kein Leder, sondern eher ein Stück Eisen wäre, und bei dieser Arbeit sind ihm vor Lachen die dicksten Tränen über die Backen gekullert, die man sich nur denken kann, eine Träne nach der andern, eine Träne nach der andern, 's hat schier nicht mehr aufhören wollen.

So einer ist der Vater gewesen.


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