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Das Mäjle war eine alte Bäuerin aus dem Neudörfle. Jahraus, jahrein, so lang ein Mensch denken kann, schob sie ihren hochauf beladenen Gemüsekarren dreimal in der Woche nach Basel auf den Markt. Sie kriegte nicht allzuviel zum Verkauf zusammen; denn eigenes Land, auf dem sie hätte Gemüse züchten können, einen Fetzen Garten oder ein Stücklein Acker, besaß sie nicht. Mit ihrem Kram war sie ganz auf das angewiesen, was die anderen Bauernweiber ihr abließen: Nitscherlesalat, Endivie, Bissalih, Kopfsalat, Blumenkohl, Kraut und gelbe Rüben, Bohnen und Erbsen und was sonst noch alles das Wachsjahr über auf Bauernland gepflanzt und erwirtschaftet wird.
Trotz der kleinen Auswahl brachte das Mäjle, wenn es nach Basel auf den Markt fuhr, alles zu guten Preisen an, und wenn ihr je einmal ein kleines Stümpflein im Karren liegen blieb, dann sprang sie in alle Hausgänge hinein, schellte die Madamen und die Küchenmamsellen heraus, redete und redete, pries an und pries an und ließ nicht eher luck, als bis auch der letzte Krautstorzen und das letzte Salatblatt zu Geld gemacht war. Da ist es denn weiter nicht verwunderlich, daß jedesmal, wenn sie über die Grenze ins Elsaß zurückkam, ein Haufen schweizerisches Silber- und Nickelgeld in ihrer Schürzentasche klingelte.
Ein ganz profitliches, selig glänzendes Gesicht machte das Mäjle, wenn es an den grüngewandeten Zollwächtern vorbei war. Und das war ebenfalls nicht weiter verwunderlich, daß das Mäjle hernach so vergnügt und ausgelassen war; denn sie schmuggelte bei dieser Gelegenheit ein oder zwei Pfund Kaffee oder Zucker oder Schokolade oder Wurst oder sonst etwas, was in der Schweiz drüben erklecklich billiger ist als hierseits der Grenze.
Wenn sie dann glücklich in Burglibre drunten war, das einst St. Louis hieß und seit kurzem gottlob wieder St. Ludwig, hielt sie am abgelegenen unteren Brunnweg still, stellte den Karren in eine Ecke, nestelte die Strümpfe auf, holte den Zucker oder den Kaffee aus seinem merkwürdigen Versteck hervor und legte ihn keck oben auf ihr Wägelein; denn jetzt brauchte sie keine Angst mehr zu haben, daß noch einer von den verdammten Zollwächtern komme und ihr ein Protokoll mache.
»Ja,« sagte sie dann gewöhnlich und zog ihren breiten Mund vor Vergnügen noch weiter in die Breite, »ja,« sagte sie, »die Herren Preussen, die unseren Sundgauzipfel bewachen, sind schlau, sehr schlau, das muß ihnen selbst der Neid lassen, aber das Mäjle aus dem Neudörfle ist doch noch eine große Hand voll schlauer!« Und vor lauter Freude über ihre gewaltige Schlauheit zog sie mit eiligen Trippelschritten in die Wirtschaft Lemius, setzte sich dort an den großen Buchsbaum-Tisch neben dem Ofen und vergluckerte getreulich den ganzen Profit, den sie am harmlosen Schmuggel gemacht hatte.
Sie trank kein Zitronenwasser nach der neuen Mode, auch keines von den schwachen Landweinchen oder gar von den badischen Rachenkratzern, nein, das Mäjle aus dem Neudörfle wußte, was sich schickte, und hielt sich an den schweren burgundischen Roten, als wär' es der Bürgermeister selber oder der Hauptlehrer, wenn er am Ersten sein Monatsgeld zieht.
Wenn sie dann genug getrunken hatte und ihr ein rechter Glanz in den Augen stand wie dem heiligen Joseph, dem Nährvater, in der Kirche, wenn ihm die Sonntagssonne freundlich auf den schwarzen, geölten Bart scheint, dann sagte sie allseits Adieu und zottelte langsam heimzu, die Hüningerstraße hinunter. Weil sie dann schon ein wenig im Kopf hatte und nicht mehr so gerade gehen konnte, wie nüchterne Menschen, liefen ihr aus Gassen und Gäßchen die Kinder nach, Buben und Mädchen, und schrien und schrien:
»'s Mäjle hat den Zopf verloren!
's Mäjle hat zwei Eselsohren!
Mäjle, ätsch! Oho!«
Da ließ das Mäjle seinen Karren Karren sein, stemmte die dünnen Arme in die spitzen Hüften und schimpfte mit schriller, stolpernder Zornstimme: »Ihr elenden Lauser, ihr Mädchenroller, und ihr bösen Mädchen, ihr Bubenschmecker, ab der Gasse mit euch! Macht eure Aufgaben! Lernt euren Katechismus! Das ist gescheiter, als eine alte, arme Frau auszulachen!«
Aber die Kinder ließen sich durch diese Rede nicht erschrecken. Je zorniger und wütender das Gemüseweiblein wurde, je mehr sie überwallte wie ein Hafen siediges Wasser, desto mehr Freude hatten sie daran, und ihr Spottlied: »'s Mäjle hat den Zopf verloren!« klang oft bis halbwegs Hüningen.
Das wiederholte sich jeden Basler Markttag mit derselben Genauigkeit, mit der beim Stundenschlag bei einer schwarzwälder Uhr der Kuckuck aus dem Gehäuse springt.
Daheim im Neudörfle schloß das Mäjle beim Heimkommen vorsichtig die Haustüre hinter sich zu, hängte ein Tuch vors Fenster und klaubte mit zittrigen Händen ihr Gemüsegeld aus der Tasche, und was daran Verdienst war, das verwahrte sie in einem wollenen Strumpf in der unteren Schublade der Kommode und rechnete und rechnete und rechnete, wie oft es wohl noch seinen schweren Karren nach Basel auf den Markt schieben müsse, bis es fünftausend Franken beieinander hätte.
Fünftausend Franken zu besitzen, war das höchste Ziel in Mäjles engem Leben. Wenn es fünftausend Franken hätte, würde es keine Hand mehr rühren, keinen Streich mehr schaffen, das hatte sie sich fest vorgenommen. Da würde sie nicht mehr bei jedem Matsch- und Patschwetter nach Basel hineinhumpeln und mit ihrer heisern zersprungenen Stimme schreien: »Kauft Blumenkohl, liebe Madame, kauft Blumenkohl!«, nein, dann würde sie den ganzen Tag zu Hause hinter den Geranienstöcken am Fenster sitzen und spazieren schauen, und jeder dieser Tage müßte ein Sonntag sein.
Vorläufig aber hatte sie ihre fünftausend Franken noch nicht beisammen. Sie mußte noch immer zu Markt laufen und schaffen und schuften wie ein blindes Schachtroß tief drunten im Kalibergwerk zwischen Rufach und Bollweiler. Und nur an den Sonntagen merkte sie, daß sie überhaupt ein Mensch sei und keine Maschine oder gar ein Stück Vieh. Da zog sie gleich nach dem Läuten ihr schwarzes Samthäublein an und ging in die Kirche. Und wenn da die neue Orgel so schön spielte und der Blasbalg schnaufte und der Kirchenchor sang und der Herr Vikari so lautstimmig vom Fegefeuer predigte und von der Hölle, darin die Sünder schmoren in der Sudhitze ihrer Missetaten, mußte das Mäjle immer an ihren seligen Mann denken, der schon lange, lange gestorben war und nun hinter dem Kanal auf dem alten Gottesacker lag, das vierte Grab in der zweiten Reihe rechts. Und an die Astern mußte sie denken und an die bunten Immortellen, die sie ihm jedes Jahr zum Allerseelentag auf das Grab stellte, weisse und violette und gelbe Astern, die doch nur in der Stadt beim Gärtner zu haben sind, und die so schrecklich viel Geld kosten. Und er ist doch ein guter Mann gewesen, dachte dann das Mäjle, ein guter Mann, mit einem so schönen schwarzen Schnurrbart, und gar keinen Fehler hat er gehabt, ihr Johann, als daß er gern jeden Zahltag ein wenig zu tief ins Glas guckte.
So lief denn ein Jährlein dem andern nach, schnell, wie erschreckte Mäuse ins Loch, wenn irgendwo eine Diele knackt, und das Mäjle, das inzwischen noch grauer geworden war, konnte sich ausrechnen und allgemach an den Fingern abzählen, wann sie ihre fünftausend Franken beieinander haben und ein ungesorgtes, fröhliches Leben beginnen würde.
Wer sie sah, wie sie jetzt an den Markttagabenden von Basel heimwärts wuzzelte, der hätte meinen können, ein junges Füllen komme daher, so viel Feuer hatte sie in den Gliedern. Und wenn jemand sie fragte: »Na, wie geht's, wie steht's in der Weltgeschichte, Mäjle?«, so kutschierte ein Lachen über ihr Gesicht: »Ich könnt' mir nichts Besseres wünschen, Herr Nachbar!« und sie schob ihren Karren dahin, als sei der von Benzin oder Brennsprit getrieben.
So kam es, als sie einmal in ihrer Versunkenheit in Burglibre über die Kreuzstraße lief und nicht nach links schaute und nicht nach rechts, weil sie recht schnell nach Hause kommen wollte, daß sie gegen den Wagen des Doktors Heß rannte, der gerade zum Hof herausgefahren kam. Nun, die Doktorsgäule sind in der ganzen Gegend bekannt, jung und voller Hafer, Arsenik im Leib, schnell wie der Teufel, eins, zwei, drei, der junge Doktor, der den Wagen selber lenkt, bekommt den Rank nicht mehr rasch genug, ein Krach, ein Schrei, das Unglück ist geschehen, das Mäjle überfahren.
Nicht zu glauben, wieviel Blut in ihrem armseligen, kinderhaften Körper steckte. Die ganze Straße war voll davon, und alle Leute standen breitschuhig darin herum und jammerten und jammerten: Das arme Mäjle! O das arme Mäjle!
Der junge Doktor war so bleich wie der geschmuggelte Schweizerkäse, der aus dem umgestürzten Wagen Mäjles gerollt war und der nun wie eine weisse Insel in der Blutlache lag, bis ihn des Bierfritz großer Bernhardinerhund schnappte und damit loszog. Aber der junge Doktor faßte sich, lud das zerschundene Häuflein Mensch in die grünen Polster seines Wagens und fuhr's nach Basel ins Spital.
Die Doktoren dortselbst schüttelten nur ihre großen baselstädtischen Köpfe, als sie das verunglückte Mäjle sahen, und einer im weissen Kittel sagte, heftig seinen Schnauzer streichend: »Beim Eid, da ist nichts mehr zu machen!«
Und das alte, verschrumpfelte, armselige Mäjle lag in den weissen Spitalkissen drin, blutigrot anzusehen wie ein neugeborenes Kind in der Wiege. Und das Mäjle hatte gar keine Schmerzen mehr. Es flog auf den Flügeln des Fiebers und redete in einemfort von fünftausend Franken und davon, daß jetzt immer, immer Sonntag sei.
Als das Mäjle begraben wurde, ging sogar der Neudörfler Bürgermeister hinter dem Sarg her – die Gemeinde hatte nämlich das Geld geerbt. Sonst war niemand da. Verwandte, Brüder, Schwestern, Kinder hatte das Mäjle keine gehabt.
Sie liegt jetzt nicht auf dem Kirchhof, auf dem ihr Mann liegt, nein, auf einem ganz andern. Es ist viel Weges dazwischen. Aber sie liegt gut. Wenn das Frühjahr kommt, wachsen blaue Blumenherzen aus ihrem Grab heraus, und auf der Gottsackermauer, schau, hockt ein junger Spatz und macht einen Kropf; denn er will singen.