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Die gestörte Stunde

Nichts deutete darauf hin, daß es so ein zerspaltener Tag werden würde.

Da der Bläsy unmittelbar nach dem Schulgebet das Zeichen »Setzt euch!« gegeben hatte, war gerade das schönste Bankkonzert im Gang. Es knarrten die Pultdeckel, es gixten die Sitze, es quietschten die Fußhölzer. Außerdem war jenes merkwürdige Geräusch in der Luft, welches das vierzigfache Auspacken von Büchern und Heften verursacht.

Plötzlich brach dieser Schullärm jäh ab, denn draußen hatte es geklopft.

Wir reckten alle neugierig die Hälse.

Als der Bläsy die Tür aufmachte, stand der Dischler draußen, der Polizeidiener.

Unwillkürlich zogen wir alle das Genick ein, das sicherste Zeichen des schlechten Gewissens. Zwar hatten wir in der letzten Woche nichts angestellt, was eines Zugriffs des Dorfpolizisten wert gewesen wäre. Doch wer konnte wissen, ob nicht irgend etwas längst Weggeschwommenes wieder herausgefischt und ahndungswürdig geworden war. Soviel stand fest, so oft der Dischler kam, war irgend etwas fällig. Daher sott eine große Unruhe in uns: Was bringt er heute? Und wir hätten gern sofort Bescheid gewußt.

Doch so schnell ging's nicht.

Der Dischler hatte einen Kropf, und die Kropfigen sind bekanntlich langsam im Reden. Dreimal setzte er zum Atemkorch an.

»Der Ehmer Franz soll sofort heimkommen!« sagte er dann, und als der Bläsy aufgeregt fragte: »Warum? Was ist passiert?« da tat er seine polizeiliche Hand vor den Mund, um gedämpft zu sprechen.

Doch das Dischlersche Flüstern war laut genug, um bis in die hinterste Bank hinein verstanden zu werden: »Sein Vater hat sich erhängt!«, und wer es nicht gehört hatte, dem würde die diesem Satz nachfolgende Gebärde genug gesagt haben: Knoten um den Hals und zweimaliges hastiges Hochziehen.

Als das Unglückswort fiel, war der Ehmer Franz gerade dabei gewesen, unter der Bank den Katechismus aufzublättern. Aber die Botschaft des Polizeidieners schlug ihm das fromme Buch mit einem Knall aus der Hand. Er blitzte auf, der arme Teufel, und stand nun da, mit aufgerissenen Augen und aufgerissenem Mund, bleich wie der Tod, als sei ihm auf einmal das Herz stehen geblieben.

Der Bläsy war gleichfalls aus dem Geleise geworfen. Er bewegte zwar ein paarmal sämtliche Muskeln seiner Kinnlade, doch es ging unheimlich lang, bis er endlich einen Satz herausbrachte.

»Franz«, sagte er, »pack deine Sachen! Du mußt heim!«

Der Junge gehorchte. Mechanisch nahm er, was ihm zunächst lag, den Katechismus und das Schreibheft, und versuchte, beides in den Schulranzen zu stopfen. Aber er war so aufgeregt, daß er's niemals hineingekriegt haben würde, wenn wir ihm nicht geholfen hätten. Nachher bemühten wir uns zu dritt, ihm den Ranzen zuzuschnallen. Doch wir halfen nur darum, um die Verlegenheit loszuwerden, in der wir steckten.

Als der Franz beinahe schon an der Tür war – natürlich hatte er in der Aufregung die Riemen verdreht, und der Schwamm und der Wischer seiner Tafel hing links heraus, statt rechts – geschah etwas Unglaubliches: Bläsy, unser Lehrer, ging zu ihm hin und legte ihm die Hand auf den struppigen Kopf.

Das hatte er noch nie bei einem von uns getan. Kopfnüsse, jawohl, so viele man wollte; aber eine Liebkosung, nie. Er war für gewöhnlich kein Mensch, der seine Bewegung zeigte. Im Gegenteil, selbst in Fällen, wo andern die hellen Tränen kamen, gab er sich so ungerührt wie sein glitzerndes Brillenglas.

Daß er dem Ehmer Franz mit dem Handauflegen Mut gemacht hatte, schien auch nur ein Versehen gewesen zu sein; denn kaum hatte sich die Türe hinter dem Ehmer Franz und hinter dem Polizeidiener geschlossen, so schmetterte er schon im gewohnten metallenen Lehrerston: »Das Lesebuch!« und: »Wo sind wir das letzte Mal stehen geblieben?«

Itterle, unser Erster, sprang geflissen auf:

»Beim Frühlingsgedicht von Hölty, Herr Lehrer, bei der zweiten Strophe!«

»So, beim Frühlingsgedicht?« sagte der Bläsy, und es schien ein leiser Zweifel in seiner Stimme zu liegen.

Frühlingsgedichte zu lesen ist sicher etwas sehr Schönes, wenn man dabei so aufgelegt ist; daß einem vor lauter Maientrieb die Worte wie Primeln zum Munde heraus quellen. Aber Frühlingsgedichte zu lesen, wenn draußen die nassen, welken Kastanienblätter gegen die Fenster klatschen und wenn man weiß, Franz Ehmers Vater hat sich irgendwo im Holzschopf erhängt, das war eine Arbeit, und gar keine leichte.

Da klang schon mein Name. Mechanisch schoß ich hoch und, während mein Auge wie ein Betrunkener über die Worte torkelte, legte ich los:

»Drum singe, wem der Mai gefällt
und freue sich der schönen Welt
und Gottes Vatergüte,
die alle Pracht so schön gemacht,
den Baum und seine Blüte!«

»Schlecht gelesen!« sagte mit scharfer Betonung der Bläsy. »Ich bin von dir, weiß Gott, Besseres gewohnt! Schäm dich! Man meint gerade, deine Gedanken wären anderswo!«

Beim Franz Ehmer waren sie, meinem Kameraden, der jetzt die lange Dorfstraße hinunterging, von hundert Augen angestarrt, vom Polizeidiener Dischler nach Haus ins Unglück geführt, wie ein Schelm zum Galgen.

Meine Gedanken sprangen seinen langen Kalvarienweg voraus bis zu seinem Vater, dem Ehmerbäck, der sich erhängt hatte.

Was ist das Leben doch eine verwunschene Geschichte!

Wie kommt der Ehmerbäck zum Strick?

Es muß doch etwas da sein, etwas Feindliches, etwas Unerbittliches, das ihn fortgetrieben hat.

Fort von seinem Haus, fort von seinem Garten, fort von seinem Ofen und Backtrog, fort von seinem Hund, fort von seinen Kindern, von der Frau ganz zu schweigen!

Wenn ich mir's recht überlege, Schuld daran kann nur der Hebner sein, dieser elende Spitzbart! Überall ist er im Dorf und schnuppert die Ecken aus.

Manchmal gerät er dabei an den Unrechten.

Der Kammrer im Unterdorf, zum Beispiel, hat ihn sofort hinausgeprügelt, als er ihn bei seiner Frau auf der Gartenbank traf!

Schad, daß der Ehmerbäck nicht auch so gescheit war!

Aber der hat wohl gedacht, was soll mir so ein vertrockneter Pfeffersack tun?

Der Hebner sieht wirklich erbarmungswürdig aus. Das reinste Leiden Christi. Oder wie der Schelm am Galgen. Das ist wohl der Grund, warum die Weiber so viel Mitleid mit ihm haben. Selbstverständlich sollen wir Buben von solchen Dingen nichts wissen, und wir tun auch so. Aber die Großen sind selber dumm, wenn sie uns für dumm ansehen.

Was wird wohl jetzt aus der Geschichte werden?

Der Hebner ist im Stand und wird noch frecher. Zum Glück sind aber nicht alle so gutmütig, daß sie von allein den Platz räumen, wie es der Ehmerbäck gemacht hat. Wenn ich mir zum Beispiel an seiner Stelle den schieligen Gonski denke, den Polacken aus Laubys Holzhof, der würd's diesem ...

So weit war ich mit meinen Gedanken gekommen, als mich überraschend der Lehrer aufrief mit der Frage:

»Wer hat Grund, sich Gottes Vatergüte zu freuen?«

Ich, rotgeworden wie die Cochenillelaus auf der Wandtafel, platzte heraus:

»Der Hebner!«

Das gab trotz der schlechten Stimmung der ganzen Klasse Grund zu unauslöschlichem Gelächter.

Der Bläsy jedoch, der keinen Schimmer vom Zusammenhang hatte und darum den Sinn des Gelächters nicht verstand, hielt meine Antwort für vorsätzlichen Unfug und ahndete sie durch vier Tatzen.

Von mir aus hätte es ruhig vier weitere dazugeben können. Denn der Schmerz, der in meinen Handballen sauste, zog mir wenigstens für den Rest der Stunde das Blut von den dummen Gedanken weg.

Endlich, endlich läutete es die Pause an.

Wir stürzten hinaus wie die Wilden. Die ganze Bande kam und ließ sich die Schwielen zeigen. Vier Stück, eine jede hübsch blau gezogen. »Respekt vor den Schwielen!« sagte der lange Ittele. »Weißt du, Schwarzer, deine Tatzen sind uns eine Erlösung gewesen!«


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