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Die heilige Genoveva und ihr Beistand

Was ein ordentlicher Jungfrauenverein ist, feiert alljährlich sein Stiftungsfest.

Bei uns fiel es jeweils auf den Marientag. Da ging es in unserem Städtchen hoch her.

Aus dem ganzen vorderen Sundgau kamen die vereinigten Jungfrauenbünde zusammen, alle im weißen Kleid, mit der hellblauen Schärpe um. Sie trugen Myrtenkränze im Haar. Und in den Händen, als Zeichen der Unberührtheit, gelbe Wachskerzen oder flatternde Lilienbanner. Beides sah gut aus.

Es war auch für Nichtpfarrer ein erhebender Anblick, wenn die frommen Mädchen vom Land im Festzug über das gemähte Gras und über die hingestreuten Blumen marschierten.

»Das zieht!« sagte Lieni, der alte Grobschmied, der hinterm Lattenhag her zusah. Und all die Mannsleute, die den Bürgersteig säumten, staunten über Gottes Allmacht, die all diese Schönheit aus einer einzigen Eva gegossen. Wir Buben aber sahen die Schönheit nicht. Für uns kam es darauf an, von den betenden Jungfrauen in der Prozession möglichst viele zum Lachen zu bringen.

An einem solchen Marientag nun, als ich gerade im besten Grimassenschneiden war, geschah's, daß mich bei dieser unheiligen Handlung ein Blick aus zwei Augen traf, der mir auf einen Hieb all meine dreizehnjährigen frechen Gedanken aus dem Schädel hieb.

Es war sogar eine aus unserm Jungfrauenverein, die dieses Kunststück fertig brachte, die kleine Martha Kraus.

Mit noch drei Gefährtinnen trug sie den Bildstock der blaubemäntelten Muttergottes, die der Schlange zu ihren Füßen mit ihrer nackten Ferse den Kopf zertrat. Da in diesem Augenblick vorn im Zug irgendwo eine Stockung war, hatten die vier Mädchen das Muttergottesbild auf einen Holzblock gestellt, den der Meßdiener mitführte, und ruhten sich aus. Und wie mich die Martha hochatmend unverwandt ansah, legte es sich wie ein Schleier über meine Augen. Ich vermeinte nicht anders, als die heilige Jungfrau sei selber in sie hineingestiegen und schaue mich an. Diese Mädchenaugen wurden so hell, so strahlend, daß ich ihren Blick gar nicht mehr aushielt, sondern abhieb und mich in die dritte und vierte Reihe verkroch.

Auch das nützte nichts. Ich mochte nachher in den dunklen Hausgang rennen oder in den noch dunkleren Keller, Marthas Augen waren immer da und schauten so fragend, als wollten sie mich bis auf den Grund meiner Seele erkennen.

Zu Hause fiel auf, wie zerstreut und einsilbig ich war und wie lahmhändig ich den Löffel in meiner Lieblingssuppe schwenkte.

»Bub, bist du krank?« forschte die Mutter und strich mir über die Stirne, als ob sie mein verändertes Wesen fortwischen könnte. Aber Lieni, der alte Dorfschmied, unser Sonntagsgast, lachte nur schnöd und sagte: »A wah! Der und krank! dem stecken bloß die vielen heutigen Maitschi im Grind!«

Mir schoß das Blut in den Kopf. Ich ließ alles ungegessen und ungetrunken stehen und machte, daß ich hinaus kam.

Am Abend, als ich ganz verstört aus den Feldern heimkehrte und unbemerkt in die Kammer schleichen wollte, da saß die Mutter an meinem leeren Bett. Ich sah sie zuerst nicht, weil es so dunkel war. Aber sie griff nach mir aus dem Finstern heraus, schloß mich in die Arme und fragte:

»Sag, Bub, wie heißt sie?«

»Martha!« sagte ich, im tiefsten überrumpelt, und fing darauf ein Geheule an, als ob mich keine Frage getroffen hätte, sondern irgend ein schmerzhafter Schlag.

»Warum weinst du so, du Dummer?« sagte die Mutter. »Martha ist doch ein ganz schöner Name.«

Dieser Trost wirkte wie Balsam. Die Tränen, die erst bitter und schmerzhaft gewesen waren, wurden wunderbar lind und süß, und in diesem Strom von Lindheit und Mutternähe bin ich eingeschlafen.

Vier Wochen nach diesem Tag wurde von den Jungfrauen im Vereinshaus die »Heilige Genoveva« gegeben; ein Stück, das ich unbedingt sehen mußte; denn die Martha Kraus hatte die Hauptrolle.

Ich ruhte nicht eher, als bis ich auf einem Platz in der vordersten Reihe saß. Von hier aus hatte man alles aus erster Hand, nicht nur das Spiel auf der Bühne, sondern auch den Kulissenlärm, den Staub von den Brettern und das heisere Gekorchel aus dem Souffleurkasten.

O war die Martha als Genoveva schön!

Nicht nur als Fürstin gefiel sie mir, wie sie in Samt und Seide über die Bühne rauschte. Nein, am besten gefiel sie mir, da sie als arme verfolgte Unschuld mit ihrem Söhnlein Schmerzensreich in den dunklen Fluchtwäldern weinte und das Erbarmen der Kreaturen des Waldes anschrie. Fort war da aller höfischer Flitter und Tand. In langen wogenden Strähnen fiel ihr das dunkle Haar über die Schultern. Ihr Augenpaar, ihr liebes, schwamm in Tränen. Ihr kleines Herz ward klamm vor Kümmernis, und nicht minder wurde das meine beim Anblick ihres Leides von Schmerz und Mitgefühl zerrissen.

Ich schäme mich nicht, zu sagen, daß ich weinte, denn hinter mir weinte der ganze Saal mit.

Wie ein Rausch des Gutseinwollens war es über die versteinerten Herzen der anwesenden Krämer und Krauter gekommen. Und als nun gar aus der Kulisse Nr. 3 heraus der große Gauner Golo erschien und der armen Genoveva, die sich gnadeflehend zu seinen Füßen warf, ankündigte, daß sie und ihr Söhnchen Schmerzensreich sterben müßten, ohne Gnade sterben müßten, und zwar jetzt, auf der Stelle, da hielt es mich nicht länger an meinem Platz.

Ich stürmte los.

Wie ein Verrückter setzte ich über den Souffleurkasten hinweg. Ein Schwung, und schon stand ich auf der Bühne, mitten in der Szene, und hatte mich mit der vollen Wucht meiner dreizehneinhalb Jahre gegen den schurkischen Golo geworfen!

Der Übeltäter kam vor Überraschung gar nicht mehr dazu, gegen mich seinen glitzernden Säbel zu ziehen. (Er wäre ja sowieso nur aus versilbertem Pappdeckel gewesen.) Schon hing ich mit beiden Händen an Golos magerem Hals und drückte zu. Ich war entschlossen, einen Mord zu begehen, um die leidende Genoveva von dem Ungeheuer zu erlösen.

So gab es in der Geschichte meines Heimatstädtchens den ersten Theaterskandal.

Es war ein Radau ohnegleichen.

Das Publikum raste und brüllte. Die vorderen Bänke tobten vor Schreck, die hinteren vor Begeisterung.

Mitten durch den Sturm hindurch hörte ich die Stimmen meiner Klassenkameraden schrillen:

»Oski, gib's ihm! Oski, gib's ihm!«

Es hätte dieser Aufforderung gar nicht bedurft. Was ich mal in Händen hatte, ließ ich so schnell nicht mehr los. Ich fuhrwerkte wie Nelson bei Abukir.

Doch viele Hunde sind des Hasen Tod.

Nach einer Minute heldischen Kampfes lag der Golotöter wie ein gestochenes Schwein blutend hinter den Kulissen in einem Zimmer, wo es durchdringend nach abgestandenem Bier und nach nicht weggeräumten Käserinden roch.

Ich lag keuchend auf dem Boden, ein Haufen ebenfalls keuchender Teufel über mir.

Diese Last war schlimm. Kaum konnte ich mehr Luft kriegen. Erst als ich die Augen schloß und mich tot stellte, wurde es besser. Ich merkte, wie mich die Bändiger losließen.

Und jetzt schlug eine Stimme an mein Ohr, die mir der Inbegriff aller Köstlichkeit schien.

Alles Blut schoß mir zu Kopf. Meine Wangen brannten noch heißer auf. O, ich spürte, daß mich in dieser Sekunde ihre herrlichen Augen ansahen. Wirklich, als ich wagte, aufzuschauen, stand meine heilige Genoveva vor mir.

Und nun der Absturz aus meinem Himmel des Glücks!

Daß mir das wütende Theatervolk in der Hitze des Kampfes ein halbes Dutzend Löcher in den Kopf schlug, die Beulen und die Flecken und die Maus über der linken Augenbraue nicht mit eingerechnet, das fand ich recht und billig.

Ich hatte ja die Schläge nicht umsonst eingehandelt.

Aber was nicht recht und billig war und was mich deshalb tiefer traf als alle Schläge zusammen, das war Genovevas ungenovevliches Wort:

»Elender Rotzlöffel, hast mir den ganzen Auftritt versaut!«

»Elender Rotzlöffel!« Als Verlautbarung seines Idols ist das ein ganz anständiger Wortklumpen. Ein Wort von Gewicht. Was schon daraus hervorgeht, daß es im Niedersturz meine erste Liebe totschlug.

Geblieben ist mir von meinem ersten Gang auf die Bühne nichts als hie und da ein beklemmender Traum und in meinem Heimatort ein Übername.

Wenn dort jemals die Rede auf die heilige Genoveva kommt, so kann man Gift darauf nehmen, daß auch ihr Beistand durchgehechelt wird.

Und der Beistand bin ich.


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