Ernst Wichert
Heinrich von Plauen
Ernst Wichert

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30. DIE FLUCHT

Die Vettern kamen mit lautem Zuruf herangesprengt. Heinz konnte nichts erwidern. Sie bat einen von ihnen um einen Tausch der Pferde, schwang sich rasch ab und auf und jagte in wilder Hast dem Schlosse zu, dem Junker überlassend, den Unfall zu erklären. Ein Teil der Gesellschaft folgte ihr ohne Eile; die andern beschlossen, auch ohne sie der Wolfsfährte noch weiter nachzureiten.

Als Heinz nach dem Hofe zurückgekehrt war und sein Pferd an der Stalltür abgab, traf ihn ein Jude an, den er bisher im Holzgarten gesehen zu haben sich nicht erinnerte. Er näherte sich mit tiefen Verbeugungen und hob den Zipfel seines Mantels auf, um ihn zum Zeichen der Unterwürfigkeit zu küssen. Wer seid Ihr und was wollt Ihr? fragte der Junker mürrisch.

Ich bin der Moses Achacz, flüsterte der Jude, der gestern von Danzig zurückgekehrt ist und dort einen Brief an den Herrn Komtur abgegeben hat.

Einen Brief – ah!

Einen Brief von dem kranken Manne, der im Turm lag und den Tod erwartete, wie der Herr Kaplan sagte. Gott der Gerechte! Hätt' ich Euch doch nicht erkennen können, gnädiger Herr, für den Mann, der den Tod erwartete, so frisch und wohlauf finde ich Euch. Freilich hat sich meine Rückkehr verzögert. Aber man hat mich doch richtig zu Euch gewiesen? Ihr seid der Junker von Waldstein?

Der bin ich. Ihr habt also den Brief abgegeben?

An den gestrengen Herrn Komtur – Heinrich von Plauen soll er genannt sein.

So sehe ich, daß Ihr mich belügt. Heinrich von Plauen heißt der Hochmeister.

Gott soll mich strafen, wenn ich ein Wort Unwahrheit rede, den gnädigen Herrn zu täuschen. Der gestrenge Herr Komtur ist des Herrn Hochmeisters Bruder und heißt wie er. Es sollen noch mehr Brüder und Vettern sein bei den Plauen, die alle denselben Namen haben. Ich weiß nicht, wie sie sich damit zurechtfinden.

Der jüngere Heinrich also hat Johann von Schönfels abgelöst. So ist mein Brief in die besten Hände gekommen. Hat Euch der Komtur nichts an mich aufgetragen?

Ei freilich, gnädiger Herr! Und deshalb kommt der Moses eben. Ich wollt's nicht geben an den Herrn Kaplan, sondern an Euch selbst. Denn wenn ich wieder nach Danzig komme mit meinem Holz und der gestrenge Herr Komtur fragt bei mir an, ob ich's ausgerichtet habe, muß ich mit gutem Gewissen antworten können: Ja.

Ihr habt mir etwas abzugeben? Einen Brief?

Der Jude schüttelte den Kopf und steckte dabei die Hand in die Ledertasche unter seinem langen Rock. Nicht einen Brief, gnädiger Herr, er müßte denn darin sein, ganz klein zusammengelegt. Von dem Herrn Komtur kommt er gewiß nicht, denn der siegelt mit Wachs. Bei dem aber haben Nadel und Fingerhut zu tun gehabt.

Er überreichte ihm das in Leinwand eingenähte Kästchen mit gekrümmtem Rücken und sah ihm dabei listig in die Augen. Überzeugt Euch, gnädiger Herr, daß das kleine Päckchen auf allen Seiten ist unversehrt. Der Moses ist ein ehrlicher Mann.

Heinz drehte den Gegenstand zwischen den Händen hin und her, vergebens bemüht, den Inhalt zu erraten. Es ist alles in Ordnung, sagte er, aber ich verstehe nicht – Seid aufrichtig, Jude! Wer gab Euch das?

So wahr ein Gott im Himmel lebt – der Herr Komtur.

Und Ihr wißt sonst nichts?

Wird der Herr Komtur mir seine Geheimnisse verraten? Hätt' ich sollen wissen, was darin ist, wär's doch nicht so vernäht.

Ihr sagtet, ein Frauenzimmer –

Ich habe nichts gesagt. Was hätt' ich können sagen? Ist's doch mit Augen zu sehen. Macht's auf, gnädiger Herr, dann werdet Ihr klüger sein als der Moses Achacz.

Heinz lachte beklommen. Ihr habt recht. Meinen Dank muß ich versparen.

Oh, gnädiger Herr, es ist schon alles besorgt. Empfehlt den armen Juden dem gestrengen Herrn Komtur, das kann ihm nützlich sein in Danzig und auf den Wegen durch Preußenland. Die Städte lassen uns ungern zum Handel zu – da müssen wir uns stellen in des Ordens Schutz.

Der Junker nickte ihm zu und eilte fort. Er schob das Päckchen unter das Pelzfutter seines Rockes; es war ihm, als ob er es vor neugierigen Augen verstecken müßte. Auf dem Gange nach dem Turm machte er sich allerhand Gedanken darüber. Es kam ihm nun erst wieder in den Sinn, was er hatte schreiben lassen, und das Blut schoß ihm ins Gesicht, als er sich des Auftrages an Maria erinnerte. Nun brannte das Päckchen ihm recht auf der Brust, und das Herz fing heftig an zu schlagen. Er stolperte die dunkle Treppe hinauf und stieß mehr als einmal gegen die Wand.

In seinem Stübchen angelangt, ergriff er ein Dolchmesser und trennte die Fäden mit solcher Hast, daß er sich die Hand verletzte. Er dachte aber nicht daran, das tropfende Blut zu stillen, sondern riß die Leinwand ab und hob den Deckel des Kästchens auf, mit gierigen Augen hineinschauend.

Da lag der Ring mit den blauen Steinen – Marias Ring – sein Ring.

Ein Schwindel faßte seinen Kopf. Er mußte die Schulter gegen die Wand lehnen. Es schwamm ihm vor den Augen, und dann wurden sie plötzlich feucht. Das Vergißmeinnicht vergrößerte sich und erbleichte zugleich in diesem feuchten Nebel; er fühlte einen Stich ins Herz und zuckte schmerzlich zusammen. So stand er lange, das offene Kästchen in der Hand, und von seinem Finger tropfte das Blut zur Erde.

Vergiß mein nicht – vergiß mein nicht, murmelte er mit bebenden Lippen, und ich hatte dein vergessen! Oh, ich bin nicht wert –

Er stellte das Kästchen mit abgewandtem Gesicht hinter sich auf den Tisch und schwang in der andern Hand wütend den Dolch. Ich hatte dein vergessen, rief er wild – ich hatte meine Augen blenden lassen von dem Zauber einer fremden Schönheit – ich hatte mein Herz –

Er griff ungestüm mit der Hand nach dem Herzen, als ob er's aus dem Busen reißen wollte. Dann aber wurde er ruhiger. Nein, nicht das Herz, sagte er wehmütig. Meine Gedanken konnten dich vergessen, aber mein Herz nicht – du warst in meinem Herzen – immer, immer. Ich sah dich nicht, ich hörte dich nicht – aber du warst heimlich bei mir, wie weit ich mich auch verirrte. Oh, verzeih, Geliebteste, Gütigste – verzeih, was ich gegen dich sündigte!

Er fühlte sich erleichtert nach dieser aufrichtigen Selbstanklage und wagte nun wieder nach dem Ringe zu blicken. Er nahm ihn aus seiner Hülle von gezupfter Leinwand, betrachtete ihn mit zärtlichen Blicken und drückte ihn an die Lippen. Als er dieses Spiel eine Weile fortgesetzt und sich dabei recht innig das liebe Mädchen vorgestellt hatte, daß ihm nun Gesicht und Gestalt ganz gegenwärtig waren, kam ihm doch die Frage, wie nur der Ring zu ihr zurückgelangt sein konnte. Ein kleiner Zettel war zur Erde gefallen; er hob ihn auf und las von ungeübter Hand geschrieben: »Maria Huxer«. Jeder letzte Zweifel mußte damit schwinden, daß sie die Zusenderin war. Ah, er hätte es auch ohnedies gewußt, sein Herz gab ihm die Gewißheit. Welche wunderbare, ihm unerklärliche Fügung ihr auch den Ring zugeführt hatte – nun sie erfuhr, daß er lebe, wollte sie ihn nicht zurückhalten. Er sagte lauter und inniger als tausend Worte, daß sie ihn fort und fort liebe.

Er steckte den Ring wieder an den kleinen Finger, der ihn früher getragen hatte, sah auf das Blättchen und sagte immer: Maria – Maria. Er fühlte ein Wohlsein durch den ganzen Körper, eine Freudigkeit und Heiterkeit des Gemüts, wie er sie lange nicht empfunden hatte. Ihm war so leicht, als könnte er sich von der Erde aufschwingen und durch die Luft zu dem geliebten Mädchen eilen, für das Geschenk zu danken.

Er blieb den ganzen Tag im Turm und achtete nicht Hunger noch Durst. Die Nacht schlief er, den Ring am Finger, und hatte die schönsten Träume. Am Morgen kam der Kaplan, nach ihm zu sehen. Das Fräulein sei früh in der Kapelle gewesen, berichtete er, und habe besorgt nach ihm gefragt.

Ängstlich verbarg er den Ring vor ihm. Ehe er ausging, verwahrte er ihn wieder in dem Kästchen und das Kästchen auf seiner Brust. Natalia sollte davon nicht wissen, er wollte seines Glückes ganz im geheimen froh sein, er fürchtete auch, daß sie ihm das Kleinod mißgönnen und wohl gar zu entreißen versuchen werde. Kannte er doch ihre leidenschaftliche Art. Im übrigen fühlte er sich durch sie wenig beunruhigt, der Ring war ihm wie ein Talisman, der gegen jeden Zauber kräftig sein mußte. Ihn verlangte nicht mehr nach ihren Küssen, er konnte ihr ohne Beängstigung in die glänzenden Augen sehen, über gleichgültige Dinge mit ihr sprechen. Er glaubte nun zu begreifen, warum er ihr nicht habe sagen können, daß er sie liebe. Er hatte ihr es sicher nicht gesagt, und es überraschte ihn nun, daß er sich dessen ganz klar wurde.

Das aber ahnte er nicht, daß Natalia gerade dieses Wort erwartet hatte, daß sie ihn zwingen wollte, es auszusprechen, indem sie ihre Leidenschaft bezwang, die ihm unverdient schon zu weit entgegengekommen war. Nun verstand sie ihn gar nicht mehr. Sie bemerkte die Wunde an seinem Finger und wollte wissen, wie er sie sich zugezogen habe. Er habe sich mit dem Dolch verletzt, sagte er, ganz zufällig. Warum spielt Ihr auch mit dergleichen, warf sie ihm neckisch vor. Oder war's Ernst? Wolltet Ihr Euch wohl gar ans Leben, weil ich Euch gestern die Freiheit gegeben habe? Er sah sie verwundert an. Habt Ihr mir die Freiheit gegeben? Nein, das waret Ihr doch nicht. Sie faßte seine Hand und rüttelte sie ein wenig. Ihr scheint mit offenen Augen zu träumen, sagte sie.

Es ärgerte sie, daß er nun so gar nichts darauf zu antworten wußte, da er ihr doch etwas Freundliches hätte sagen können. Er schien's aber kaum zu wissen, daß sie von ihm fort und zu den Vettern trat. –

Das Wetter änderte sich plötzlich. Der Wind schlug nach Süden um, der Himmel reinigte sich von Wolken, die Sonne brannte heiß wie in manchem Jahre noch nicht im Mai. Bald erwärmte sich die Luft, der Schnee schmolz auf den Dächern und Feldern, in breiten Rinnen ergoß sich überall das Wasser in den Strom, auf dem die Eisdecke stündlich dünner wurde.

Nach fünf oder sechs solchen warmen, sonnigen Tagen brach dann ebenso unvermittelt in einer Nacht ein furchtbarer Sturm von Westen los. Man hörte es von der Weichsel her krachen und knallen, als ob Hunderte von Geschützen in Tätigkeit wären. Als Heinz am Morgen aus dem Fenster sah, war der Fluß hoch angeschwollen; gewaltige Eisschollen trieben auf den schwarzgrauen Fluten, verdrängten einander, türmten sich hoch auf, zerschellten, schoben sich am Ufer in die Höhe. Es war ein furchtbarer Anblick. Nordwärts lag wahrscheinlich die Decke noch fest und wollte dem Andrang nicht sofort weichen. Wie gewaltige Mauerbrecher kamen die Schollen mit rasender Eile angeschwommen und warfen sich gegen die Eisberge. Einen Augenblick schien Stillstand einzutreten, der Strom zurückzustauen. Dann in der Ferne ein furchtbarer Krach, ein Ächzen und Stöhnen, ein Pfeifen und Gurgeln – der Widerstand war gebrochen, eine neue Wasserstraße durch das Eis gerissen. Und wieder setzte sich die Masse vorwärts in Bewegung, erst geschlossen, dann in gelösten Teilen, endlich in kleinen, schwimmenden Inselchen vergleichbaren Schollen. So ging's einige Tage fort, bis der Strom von Eis frei war. Die Juden hatten ihre liebe Not, die Flöße zusammenzuhalten, die am Ufer des Flusses lagerten und nun durch das anstauende Wasser vom Boden abgehoben wurden. Die Balken wurden durch Baststricke miteinander verbunden, aber sie zerrieben sich bei dem fortwährenden Auf- und Abtauchen an vielen Stellen und konnten dann nur schwer ersetzt werden. Auch war auf die Anker achtzugeben, die der mächtigen Strömung nicht überall widerstehen konnten und sich mitziehen ließen.

Die ganze Bauernschaft von Sczanowo war aufgeboten. Mit langen Stangen bewaffnet standen die Leute auf den schwankenden Holztafeln und hielten von denselben die anschwimmenden Eisschollen ab. Hatten sie sich zu fest zusammengeschoben, so sprangen sie wohl auch hinauf und suchten in einiger Entfernung die Straße frei zu machen.

Setzte sich die Decke dann wieder in Bewegung, so hatten sie Mühe, wieder das Land zu erreichen. Einige waren auch nicht so glücklich und trieben mit den Schollen fort. Man machte davon nicht einmal so viel Aufhebens, als wenn Stämme vom Floß abgerissen und von den Wellen entführt wurden. Die Leute würden eine Strecke weiter sicher zusammengestautes Eis antreffen und dann den Übergang nach dem Ufer finden, von dort aber zu Fuß zurückkehren.

Alle diese Arbeiten wurden mit wildem Geschrei ausgeführt; man schien den Sturm übertoben zu wollen. Die Juden, deren Eigentum in Gefahr war, liefen ängstlich hin und her, baten, ermunterten, schimpften und fluchten in polnischen und hebräischen Lauten. Für den Zuschauer war's ein bewegtes Bild, und es fehlte zu keiner Stunde an Zuschauern. Herren und Damen aus dem Schlosse fanden sich auf der Uferhöhe ein, sich das aufregende Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Am Abend hatte man dann reichlichen Stoff zur Unterhaltung.

Auch Heinz fehlte dort nicht. Stundenlang konnte er die Brust dem Sturm bieten und auf das bunte Getriebe hinabschauen. Es war ihm eine Lust, zu sehen, wie die vereinte Menschenkraft das zerstörende Element zwang und ableitete. Mitunter gesellte sich Natalia zu ihm, aber er benutzte jetzt die Gelegenheit schlecht, sie allein zu sprechen. Sie hielt sich auch wohl an seinem Arm, wenn der Sturm heftig heranbrauste, aber er faßte nicht ihre Hand, wie er gekonnt hätte, sondern zeigte auf den Strom hinaus und sprach von den Dingen, die ihnen vor Augen lagen. Am liebsten hätte er selbst eine Stange ergriffen und sich tätig bewiesen. Und einmal, als die Not am höchsten war, tat er's auch wirklich und trug das Beste dazu bei, daß ein Eisberg, der das Floß auseinander zu reißen drohte, wieder zum Schwimmen gebracht wurde.

Heinz hatte bei alledem seine eigenen geheimen Gedanken. Moses Achacz, mit dem er gern sprach, hatte ihm gesagt, daß das Holz für Danzig bestimmt sei; er selbst begleitete es dorthin. Nun lag es ihm immer im Sinn, daß auch er diese Fahrgelegenheit, so unbequem sie auch wäre, benutzen könnte. Er holte Moses darüber aus und fand ihn nicht abgeneigt, noch eine Hütte auf dem Floßholz bauen zu lassen. Doch riet er ihm, zu warten, bis in der besseren Jahreszeit die zweite Holztracht abgelassen werde, die man fester zusammenfügen und zur Aufnahme einer Getreideladung einrichten wollte. Sie würde von den geschnittenen Brettern eine Bodenlage und auch ein Dach erhalten, unter dem sich eine Kajüte herstellen lasse. Heinz wollte sich's noch überlegen, bat ihn zugleich aber, für seine Aufnahme auf dem ersten Floß die nötigen Vorbereitungen zu treffen und indessen niemand etwas von seinem Vorhaben zu verraten.

Er hatte gar nicht mehr nötig zu überlegen, sein Entschluß stand schon fest. Fort von Sczanowo! Nach Danzig! rief er sich tausendmal im stillen zu. Er beschäftigte sich in Gedanken bald nur noch mit der Reise und sehnte den Tag heran, wo der Strom sich genügend beruhigt haben werde, sie zuzulassen. Kaum bemerkte er flüchtig, daß er von Natalia scharf beobachtet wurde. Er wich ihr gern aus; ihr Anblick war ihm immer ein Vorwurf, den das Herz empfand. Aber er glaubte nicht ihr, sondern Maria verschuldet zu sein – außer für das, was sie dem Kranken Liebes getan hätte.

Er sah nicht, daß sein plötzlich so ganz verändertes Benehmen auch bei ihr eine Veränderung bewirkte. Sie hatte sich in einem Augenblick, der einen raschen Wechsel von Schmerz und Freude herbeiführte, hinreißen lassen, Heinz ihre leidenschaftliche Neigung zu erkennen zu geben. Du weißt nun alles! hatte sie ihm zugerufen, und wie konnte er nach dem, was vorgefallen war, an ihrer Liebe zweifeln? Jetzt aber erwachte ihr Mädchenstolz: es war ihr gewiß, daß sie von diesem Augenblick an nicht mehr die Suchende, sondern die Gesuchte sein müsse. Absichtlich stellte sie sich ihm fern, um ihm volle Freiheit zu lassen, seinem Herzen zu folgen; sie wollte ihm den Weg nicht abgekürzt haben, er sollte nicht glauben, daß sie ihm ohne eigene Bemühung gehöre, daß er einer Werbung in aller Form überhoben sei. Das deutsche Wesen, das ihr angeboren war, machte sich hier mit ganzer Stärke geltend, aber nur in ihrer Empfindung, nicht im Ausdruck derselben. Zu ihrem Schrecken erkannte sie, daß sie ihm täglich fremder und gleichgültiger wurde. Ihre Leidenschaftlichkeit arbeitete nun gegen sich selbst. Sie hatte schlaflose Nächte, Tage voll Herzensqual. Oft erschien sie mit bleichen Wangen, tiefliegenden und vom Weinen geröteten Augen. Und er fragte nicht einmal, was sie bekümmere. Sie mußte sich gestehen, daß ihre Voraussetzungen irrig gewesen seien, das Ziel sich immer mehr entferne. Konnte er sie wirklich so sehr verkennen? Nahm er den Schein für Wahrheit? Glaubte er, daß er ihrem Herzen jetzt weniger galt? Es war ein harter Kampf zwischen Liebe und Stolz, aber die Liebe siegte. Nun warf sie alle Rückhaltung fort, gab sich ihm wieder, wie es ihr ums Herz war. Das gütige Mädchen, das ihn in der Krankheit pflegte, war oft an seiner Seite und suchte zärtlich zu ergründen, was in seiner Seele vorgehe. Er aber blieb zerstreut und verpaßte jede Gelegenheit, sich ihrer Hingebung zu versichern. Ihre Nähe schien ihn nur zu ängstigen.

Das Holzfloß lag zur Abfahrt fertig. Eine weite Strecke zog es sich am Ufer hin, in viele aus verbundenen Stämmen bestehende Tafeln gegliedert, die durch Baststricke lose aneinander gehalten wurden. Die an beiden Enden und in der Mitte zeigten sich etwas fester gezimmert, auch mit Brettern belegt. Es standen darauf Buden von Strauch und Stroh zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und zu Schlafstellen für die Bemannung. Die Leibeigenen, die als Flößer dienen sollten, waren von dem Grafen schon ausgewählt und den Juden übergeben: sämtlich mit Pelzmützen, Schafspelzen und Bastsandalen bekleidet, richteten sie sich auf dem Fahrzeug ein. Moses Achacz meldete dem Junker, daß am andern Morgen die Reise angetreten werden solle.

Heinz hatte sich nur immer in die Ferne geträumt; daß er vorher Abschied zu nehmen habe, war ihm kaum eingefallen. Und doch hatte er, ohne recht zu wissen warum, alle Vorbereitungen heimlich betrieben, als gälte es Flucht. Nun die Entscheidung so nahe trat, war auch wirklich sein erster Gedanke: fort ohne Abschied! Es beschlich ihn die Furcht, daß man ihn zurückhalten könne; er mußte sich's gestehen, daß Natalia doch noch herzlichen Anteil an ihm nehme und die Abreise zu verhindern suchen werde. Das gerade machte aber schleunige Flucht zu einer Gewissenssache.

Dann aber konnte sich seine Ehrlichkeit doch nicht mit diesem versteckten Handel abfinden. Wenn er fortlaufe wie ein Dieb in der Nacht, meinte er, werde er nicht Ruhe haben und sich schämen, den Danziger Freunden – seiner Maria vor Augen zu treten. So viel er sich's auch vorsagte, daß die Klugheit gebiete, sich die Ausführung seines Entschlusses nicht zu erschweren, sich nicht selbst den Weg zu sperren, konnte er doch dieses unbehagliche Gefühl nicht unterdrücken, daß es seiner unwürdig wäre, sich feige fortzustehlen. Natalia wenigstens sollte nicht ohne einen letzten herzlichen Dank bleiben.

Es fand sich am Abend in der Dämmerung eine stille Stunde zum Aussprechen. Die Vettern trieben sich noch außen um, die Halle war leer. Heinz, hatte sich in eine Fensternische gestellt und war gewiß, daß Natalia ihm bald Gesellschaft leisten werde. Er täuschte sich nicht.

Als sie zu ihm trat, stand er sogleich auf, reichte ihr die Hand, hielt sie fest und sagte: Ich erwartete Euch – hört mich freundlich an.

Es mochte in dem Tone seiner Stimme etwas liegen, das seine Beklommenheit unwillkürlichen Ausdruck gab. Jedenfalls schien sie in der Art, wie er sie anredete, etwas Auffallendes zu finden, das sie sich erklären müßte. Was hatte er ihr zu sagen? Wenn endlich –! Es wurde ihr heiß ums Herz, das Blut wallte plötzlich. Sie drückte seine Hand und sah ihn mit einem Blick an, der ganz glückselige Erwartung war. Ich höre, Lieber, hauchte sie leise.

Der Friede ist längst geschlossen, begann er, die Gefangenen sind vom Herrn Hochmeister ausgelöst – meines Bleibens kann hier nicht länger sein –

Ihre Hand zuckte, ihre Augen richteten sich starr auf seinen Mund, das ganze Gesicht schien wie gelähmt. Eine solche Wirkung seiner Anzeige hatte er nicht vorausgesetzt; sie erschreckte ihn.

Auch Ihr seid hier nur Gast, fuhr er milde ablenkend fort. Wie lange kann's dauern, so kehrt Ihr mit Eurer Mutter in die Heimat zurück. Es zieht uns dahin, wo das Feld unserer Tätigkeit ist, und ich denke dem Herrn Hochmeister in Preußen noch nützlich sein zu können. Darum ist's am besten, ich nehme raschen Abschied und stelle mich ihm zur Verfügung.

Sie schien aus ihrer Betäubung zu erwachen. So starr der ganze Körper noch eben gewesen war, so zeigte sich jetzt plötzlich jeder Muskel in Bewegung. Die Brust wogte stürmisch, der Atem flog. Nein – nein – preßte sie zwischen den Lippen vor –, es darf nicht sein!

Es muß sein, antwortete er, und darum lieber heut als morgen. Ich bin mit Eurer Hilfe wieder ein gesunder Mensch geworden, habe meine frühere Kraft zurückerlangt und will mich nicht länger als ein unnützes Geschöpf füttern lassen. Es ist nichts, was mich hier hält, und mich treibt's zu männlichen Taten.

Nichts, was Euch hier hält? zitterte ihre Stimme.

Habt Ihr mich doch selbst frei erklärt, soll ich mich nun nicht als ein freier Mann beweisen dürfen?

Sie entriß ihm ihre Hand und schlug damit nach der seinigen. Das ist abscheulich! rief sie. Habt Ihr mir's darum abgelistet?

Seid gütig, bat er. Ich habe Euch nichts abgelistet – es war Euer guter Wille, mir die Freiheit zu schenken. Und ich glaubte mit diesem Geschenk auch nichts zu empfangen, als die freundliche Versicherung meiner Wohltäterin, daß sie anerkenne, der Gefangene sei gelöst und habe gegen sie keine sonderliche Pflicht. Euer Sklave war ich auch vorher nicht, und wär ich's gewesen – so hätte ich mich selbst befreit.

Oh, wie doppelzüngig Ihr seid! eiferte sie. Wovon sprecht Ihr? Ich weiß es nicht mehr. Die Worte haben fremden Sinn, Ihr strebt fort von hier – schon lange, lange! Jetzt verstehe ich alles. Wohin zieht es Euch? Nach Preußen zum Hochmeister? Hahaha! Seid ehrlich: wohin gedenkt Ihr zu gehen?

Er zögerte mit der Antwort.

Seid ehrlich! wiederholte sie, und die Augen blitzten zornig.

Ich will Euch das nicht vorenthalten. Zunächst wohl nach – Danzig.

Nach Danzig! Ah, dann weiß ich, was Euch dorthin zieht. Gewannet Ihr Euch nicht dort im Ritterspiel einen Ring und habt Ihr ihn nicht zum Andenken getragen in Buchwalde und als Ihr ins Feld zogt? War's nicht Eure erste Frage hier, wo der Ring sei? Habe ich nicht Euren Schlaf belauscht und Eure Lippen den Namen Maria hauchen gehört? Maria – Maria! das ist's, was Euch von hier forttreibt – das ist's, was Euch dorthin zieht.

Sie hatte diese Worte mit wilden Gebärden begleitet und hastig herausgestoßen. Nun schien sie mit den Blicken noch weiter zu sprechen, sie zuckten über ihn hin wie Dolche.

Ihr sagt die Wahrheit, entgegnete er; ich liebe das Mädchen, dessen Namen Ihr nennt.

Ihr sollt nicht! zischte sie. Welchen Anspruch hat sie an Euch? Ihr wart ihr ein Toter. Und ihr wäret ein Toter. Ich habe Euch zum Leben erweckt – mir gehört Euer Leben. Habt Ihr das nicht eingestanden? Habt Ihr mich's nicht wissen lassen mit Blick und Wort, daß ich die Eure sei? Leugnet es, wenn Ihr könnt. Erniedrigt mich, wenn Ihr den Mut habt! Sie faßte seine Arme und suchte ihn an sich zu ziehen. Ich habe dich an meine Brust gedrückt, ich habe dich geküßt, und du hast es gelitten. Warum hast du es gelitten, wenn du mich nicht liebtest? Aber du liebtest mich! Nein, ich lasse dich nicht fort – du darfst nicht gehen – zu ihr nicht gehen! Mir gehörst du in Ewigkeit.

Er machte sich los, ergriff ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen. Verzeih, bat er, verzeih, wenn ich dich täuschte. Täuschte ich mich doch selbst. Du warst so schön, so gütig, und mein Herz – was sage ich dir? Nein, du wirst mir nicht glauben, was ich auch sage, du wirst mir nicht verzeihen. Wäre mein Herz frei gewesen – Aber schon als ich dich zum erstenmal sah – du weißt es ja, es war in Banden. Und ich konnte ihrer nicht ledig werden – sieh daraus, wie stark sie sind. Ich bitte dich, laß uns in Frieden voneinander Abschied nehmen. Du hast meine leiblichen Wunden geheilt, schlage nicht tiefere Wunden meinem Gemüt. Laß mich nicht scheiden mit dem quälenden Gedanken, ich wäre besser gestorben, ehe ich in deine Gefangenschaft kam!

Sie schüttelte das lockige Haupt. Die Liebe hat die Wunden geheilt, die du hierher brachtest. Nimmst du nun die Wunden mit, so sieh zu, ob sie heilbar sind. Und sind sie's nicht, dann hast du nicht Liebe um Liebe eingetauscht. Aber nein, ich lasse dich nicht fort, ich gebe dir keinen Abschied. Mit Gewalt halte ich dich zurück, wenn du nicht gutwillig bleiben willst. Denn du bist mein! Ich habe dich dem Tode abgekauft mit einem Lösegelde – Sie schauderte. Nur du kannst meine Lippen wieder heiligen. Niemand weiß, was du mir schuldig bist. Ich aber – ich – Sie umschlang seinen Hals. Geh nicht, Lieber – verlasse mich nicht!

Er wehrte sie nicht ab. Tiefes Mitleid hatte sein Herz ergriffen. Aber er ermutigte sie auch nicht. Nach einer Weile fühlte er, daß ihre Hände sich lösten, der Körper an ihm schlaff zusammensank. In diesem Augenblick wurden in der Halle Stimmen laut. Die Vettern stürmten lärmend herein. Sie schreckte aus ihrer Ohnmacht auf, warf ihm einen verstörten Blick zu und eilte fort.

Den Rest des Abends beobachtete sie ihn nur von ferne; aber unzweifelhaft gab sie auf jeden seiner Schritte ängstlich acht. Als er nach dem Turm ging und sich vor dem Eintritt noch einmal zurückwandte, glaubte er ihre Gestalt am Brunnen zu erkennen: sie überzeugte sich, daß er den Hof nicht verließ.

Er trat in die Kapelle ein und betete. Dann erst schritt er die Steintreppe hinauf nach seinem Stübchen.

Sogleich warf er sich in Kleidern aufs Bett und deckte sich nur mit einem Wolfspelz zu. Er wollte früh auf sein am andern Morgen.

Noch vor Tagesgrauen erwachte er, durch beunruhigende Träume aufgeschreckt. Noch eine Weile hielt er sich still auf seinem Lager; als sich aber das Fenster von den ersten Sonnenstrahlen erhellte, stand er auf, nahm wehmütigen Abschied von dem Gemach, das ihm lieb geworden war, hüllte sich in einen Mantel und ging leise der Tür zu, um den Kaplan nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Als er den Türvorhang zurückschlug und nun das Licht vom Fenster her in den Gang fiel, blitzte ihm von der Treppe her etwas entgegen. Bei genauerem Hinsehen erkannte er einen Eisenhut und die Schulterplatten eines Harnisches. Zugleich vernahm er die tiefen Züge eines Schlafenden.

Seine Augen gewöhnten sich bald an das Dämmerlicht. Es hatte sich jemand auf die oberen Stufen der Treppe gesetzt und auf die oberste mit dem Ellenbogen aufgestützt. Der Körper hatte sich im Schlafe zur Seite gebeugt, und der Kopf lehnte nun gegen die Wand. Im Arm hielt er einen Spieß. So sperrte er die schmale Treppe vollkommen. Wer dieselbe hinabsteigen wollte, mußte ihn notwendig wecken.

Ach, ich bin also bewacht, sagte sich Heinz. Indem er noch überlegte, was zu tun sei, um den Lästigen zu entfernen, bemerkte er, daß sich unter dem etwas verschobenen Eisenhute lange braune Locken hervor und über die Schulter ringelten. Nun fiel ihm auch die kleine weiße Hand auf, die den Kopf stützte. Er erschrak heftig und ließ den Vorhang fallen: es war ohne Zweifel Natalia, die ihm den Weg verlegte.

Er durfte sie nicht wecken. Geschah's, so ließ sie ihn nicht fort. Hatte sie dieses äußerste Mittel gewählt, sich seiner zu versichern, so durfte er nicht erwarten, sie durch freundliche Worte zu bewegen, ihn ziehen zu lassen. Gewalt gegen die Unglückliche, durch die Leidenschaft Verstörte zu gebrauchen, hatte er aber nicht den Mut. Und wenn sie erwachte, wenn es zu einem Ringen mit dem schönen Weibe Brust an Brust um die Freiheit kam – wer wagte den Ausgang vorauszusagen?

Er hatte keine Stunde Zeit zu verlieren; bald nach Sonnenaufgang, hatte ihm Moses gesagt, sollte das Holzfloß in Bewegung kommen. Natalia setzte wahrscheinlich voraus, daß er diese Gelegenheit nützen wolle, und konnte ihn deshalb zurückzuhalten glauben, wenn sie nur diese eine Nacht seine Schwelle sperrte. Jetzt war Flucht geboten. Er erinnerte sich, in der Rüstkammer nebenan eine lange Leine bemerkt zu haben, die zu einem Fischnetz gehörte. Auf den Fußspitzen schleichend, holte er sie herbei, knüpfte sie um den Fensterpfeiler, überzeugte sich, daß sie bis zum Boden reiche, und ließ sich daran hinab. Seine Hände bluteten, als er unten auf dem schmalen Rain am Graben anlangte, aber darauf achtete er nicht. War er doch frei!

Der Graben stand voll Wasser. Aber er reichte zum Glück auch zu beiden Seiten nicht viel weiter als der Turm, dem er einmal zum Schutz gedient hatte, verflachte sich bald und ließ sich ohne Schwierigkeit umgehen. Die Strecke über das offene Feld war nicht weit, auf der Uferhöhe deckte ihn der Holzgarten. Er hatte nun kaum noch Verfolgung zu befürchten.

Die Dszimken auf dem Floße waren schon mit ihren langen Stangen in voller Arbeit. Moses erwartete ihn und führte ihn über die schwankenden Balken hin von Tafel zu Tafel bis zur letzten, wo seine Strohhütte stand. Es ist grimmig kalt auf dem Flusse, gnädiger Herr, sagte er, macht Euch innen ein Lager zurecht und schließt den Eingang mit der Strohmatte.

Er kroch hinein und tat, wie ihm geheißen war. Unter sich hörte er bald das Wasser zwischen den Baumstämmen gurgeln und klatschen, mitunter quoll es durch die Ritzen der Bretter und netzte das Stroh, auf dem er lag. Seine Glieder zitterten vor Frost.

Als er nach einigen Stunden hinaustrat, um sich durch Laufen zu erwärmen, schwamm das schmale, langgestreckte Floß mitten auf dem breiten, noch immer hoch angeschwollenen Strom. Die Dszimken hatten auf der vordersten Tafel einen kleinen Mast aufgerichtet und daran ein altes geflicktes Segel befestigt. Mit ihren Stangen suchten sie die Hölzer von den Untiefen fernzuhalten, die sich durch eine hellere Färbung des Wassers kenntlich machten.

Fern, ganz fern tauchte ein viereckiger Gegenstand über die Wellenlinie der Uferhöhe hinaus. Was ist das? fragte der Junker.

Ei, kennen Ew. Gnaden den Turm von Schloß Sczanowo nicht mehr? antwortete Moses Achacz.

Heinz blickte unverwandt darauf zurück, bis er in nebeliger Ferne verschwunden war. Dann nahm er den Ring aus dem Kästchen, steckte ihn an den Finger, wandte das Gesicht nach Norden und sagte leise: Maria!


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