Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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25

Der Mann, der am nächsten Morgen mit dem Schlag elf so fieberhafte Erregung in das Cartwright-Haus brachte, hatte absolut nichts Beunruhigendes oder auch nur Besonderes an sich. Er maß zwar gut einen Meter achtzig, war aber ein schmucker Bursche mit einem gesunden, freundlichen Gesicht, und seine Matrosenkleidung blitzte von der bebänderten Mütze bis zu den derben Schuhen vor Sauberkeit. Er trug sogar weiße Handschuhe und eine kleine Ledermappe unter dem Arm, aber kaum war Pat seiner ansichtig geworden, als er sich wie ein Raubtier zum Sprung duckte und den Fremden aus seinen funkelnden Schlitzaugen tückisch anstierte. In Pat Coppertree war nämlich blitzgleich die Erinnerung an eine gewisse böse Märznacht lebendig geworden, da er dreckiges Themsewasser hatte schlucken müssen, und er hätte ohne jede Entschädigung den heiligsten Eid darauf geschworen, daß dieses gesunde, freundliche Gesicht dabei eine sehr niederträchtige Rolle gespielt hatte.

Der baumlange Matrose schien sich aber an nichts dergleichen zu erinnern. Er blickte mit dienstlicher Höflichkeit auf den kleinen Iren herab und legte dann die gewaltige Rechte so stramm und vorschriftsmäßig an die Mütze, daß auch die Hand des anderen unwillkürlich mit weit gespreiztem Ellbogen emporfuhr.

»Ein Schreiben von Mr. Gordon Lawrence von mir persönlich an Mr. Thomas Hyman abzugeben«, sagte der Mann mit militärischer Kürze, und aus den Mienen von Pat Coppertree war auch schon der letzte Anflug von Feindseligkeit gewichen. Er wußte sehr wohl, was der Name Lawrence für das Cartwright-Haus bedeutete, von Mr. Hyman gar nicht zu reden. Ein Mann, der von Mr. Lawrence zu Mr. Hyman kam, war unbedingt eine Respektsperson, und der wackere Ire fand es plötzlich für gut, lieber nichts dergleichen zu tun. Der Sicherheit halber salutierte er sogar nochmals sehr stramm, was der Fremde ebenso stramm erwiderte, und dann bequemte er sich, diesem mit höflicher Beflissenheit den Weg zu weisen.

Der Gewaltige des Cartwright-Konzerns war eben dabei, mit großen eckigen Buchstaben seinen Namen unter einen Scheck zu malen. Er hatte in der letzten halben Stunde aus dem Munde Clive Boyds die Geschichte der ›Königin der Nacht‹ von ihrem Anfang beim Brunnen der sieben Palmen bis zu ihrem Ende in der Allee bei der Villa mit den zwei Türmchen haargenau vernommen, aber außer einem gewaltigen Faustschlag auf die Platte des Schreibtisches hatte er keine Meinungsäußerung getan. Dann war sofort der Griff nach dem Scheckbuch gekommen, und während Hyman mit schwerer Hand Ziffern und Wort kritzelte, sah der Detektiv wohl zum zehntenmal in den letzten fünf Minuten nach seiner Uhr.

»Ich hoffe, daß Sie nicht die Spesen vergessen haben«, sagte er hastig und besorgt, als der andere eben zu der Unterschrift ansetzte. »Es waren achtzehn Pfund, drei Schilling und neun Pence.«

Der Anwalt hob den Kopf, und in seinem grauen, schwammigen Buldoggengesicht lag so etwas wie ein launiges Grinsen.

»Die habe ich schon einkalkuliert, mein Lieber«, gurgelte er. »Und weil Sie die Leute mit Ihrem einfältigen Getue so dumm machen können, habe ich sie auf fünfzig Pfund aufgerundet.«

In diesem Augenblick erschien in der Tür der selbstbewußte Boy mit der schnarrenden Stimme und leierte monoton seine Meldung herunter:

»Ein Matrose von Mr. Gordon Lawrence . . .«

Thomas Hyman schnellte mit seinen achtundfünfzig Jahren und seinen zweihundertzehn Pfund empor wie ein Jüngling, und nur die Wucht, mit der sein Stuhl an die Wand flog, verriet, welch ein Kraftaufwand dabei verbraucht worden war.

Im nächsten Augenblick stand der riesige Matrose bereits im Zimmer, und der Anwalt riß ihm den großen weißen Briefumschlag förmlich aus den Händen.

Der Bote war schon längst wieder gegangen, als Hyman noch immer auf die Karte starrte, die er in den Händen hielt; dann reichte er sie wortlos Boyd, der sie mit bedächtigem Interesse überflog.

»Um halb sechs Uhr an Bord der ›Barracuda‹ im Westbassin des St.-Katharinen-Docks . . .«, las er halblaut vor sich hin und legte dann die Karte auf den Schreibtisch. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß man heutzutage nicht mehr spurlos verschwinden kann. Im übrigen ist der neue Herr nicht einen Tag zu früh gekommen.«

»Nein«, gab der Anwalt schnaufend zu und manipulierte in der Lebhaftigkeit, die plötzlich über ihn gekommen war, energisch am Haustelefon.

»Hundert Pfund von meinem Konto für die Armen von London«, grölte er in den Apparat, und der Mann, der die Weisung empfing, konnte nicht im Zweifel sein, wer sie erteilt hatte. »Ich bin zwar sonst nicht so«, glaubte der aufgeregte Koloß Boyd erklären zu müssen, »aber wenn es zu dick kommt, muß man etwas tun. An einem Tag die verdammte Sache der ›Königin der Nacht‹ und den ganzen Krempel hier loszuwerden, ist fast zu viel des Guten.« Er schob die Hände tief in die Hosentaschen und spitzte die wulstigen Lippen, als ob er pfeifen wollte, und dem weißhaarigen Herrn schien es, als ob sich sogar die gewaltigen Elefantenfüße Mr. Hymans zu einem Freudentanz anschickten.

Mittlerweile machte der Bote von Mr. Lawrence im Cartwright-Haus die Runde. Er erschien bei Mrs. Dyke, tauchte im Reporterzimmer auf, wo er für Miss Avery, Mr. Fish und Mr. Noel Wellby große Briefumschläge aus seiner Ledermappe zog, und als er wieder in der Halle anlangte, steckte er sogar Pat Coppertree einen solchen Umschlag in die Linke, da dessen Rechte mit weit gespreiztem Ellbogen zu einem strammen hochachtungsvollen Gruß an der Mütze lag.

Ein so bedeutsames Ereignis das plötzliche Auftauchen des neuen Chefs für Mrs. Evelyn auch war, es vermochte sie in ihrer augenblicklichen Stimmung lange nicht so in Atem zu halten, wie dies wohl sonst der Fall gewesen wäre. Ihre Gedanken und Sorgen galten noch immer der Lösung, die das geheimnisvolle Rätsel der ›Königin der Nacht‹ finden sollte, und je länger die Entscheidung auf sich warten ließ, desto mehr versagten ihre Nerven. Die Einladung an Bord von Mr. Lawrences Jacht ›Barracuda‹, die sie in Händen hielt, hätte sie noch gestern aufgestört, heute berührte sie sie kaum. Immerhin wollte sie Selwood und Osborn von der Sache Mitteilung machen. Es überraschte sie, daß Charlie schon davon wußte und mit einer gleichen Karte bedacht worden war, aber er hielt dies für eine Aufmerksamkeit des Cartwright-Erben gegenüber dem ehemaligen Reisebegleiter seines Onkels. Evelyn war es lieb, daß sie Selwood an ihrer Seite haben würde, und sie erwartete nun auch von Osborns zu hören, daß sie mit dabei sein würden. Aber sooft sie auch anrief, die Nummer meldete sich nicht, und sie mußte schließlich annehmen, daß an dem Apparat in der Villa mit den zwei Türmchen etwas nicht in Ordnung sei.

Tatsächlich saß die Polizei im Haus und hatte alle Vorkehrungen getroffen, um über den Fall der ›Königin der Nacht‹ auch nicht ein Wort in die Öffentlichkeit dringen zu lassen, bevor Oberst Terry die Zeit nicht für gekommen erachtete.

Ebenso gleichmütig wie Mrs. Dyke nahm nach mehrmaligem vernehmlichen Räuspern und einiger Überlegung Mr. Fish die Einladung von Mr. Lawrence hin. Es wäre dies zwar entschieden eine Sache gewesen, aus der sich etwas ganz Besonderes hätte machen lassen, aber da offenbar auch Miss Avery und der ekelhafte Wellby derselben Ehre teilhaftig geworden waren, war es schwer, daraus Kapital zu schlagen. Der ›Fliegenpilz‹ fand es daher gut, lediglich höchst laut und gelangweilt zu gähnen und die Karte mit einem Gesicht in die Tasche gleiten zu lassen, das deutlich besagte, wie zuwider ihm diese ewigen gesellschaftlichen Inanspruchnahmen schon waren, selbst wenn es sich um einen Empfang auf einer Jacht und bei seinem neuen Chef handelte.

Sehr aufgeregt war Miss Avery. Sie rückte unausgesetzt an ihrer schauderhaften Brille, während sie las, und dann benützte sie eine günstige Gelegenheit, um sich bei Wellby Rat zu holen.

»Ich kann mir nicht erklären, wie gerade ich zu dieser Einladung komme«, meinte sie verwirrt, aber der Reporter fand daran gar nichts Besonderes.

»So wie Mr. Fish und ich. Vielleicht sind den anderen die Karten in ihre Wohnungen zugestellt worden. Jedenfalls können Sie nicht gut ausbleiben.«

Sie sah das ein und beschäftigte sich sofort mit der nächstliegenden Frage, die sie etwas verlegen und zögernd vorbrachte.

»Wie soll man da gehen? Ich meine, was soll man da anziehen?«

»Machen Sie sich einmal recht nett«, schlug Wellby mit ernstem Gesicht vor. »Nicht so unmöglich wie gestern abend. Ich glaube, wenn Sie den guten Willen haben, wird es gewiß gehen.«

Zum erstenmal ließ Clarisse Avery in den Räumen des Cartwright-Hauses das leise dunkle Lachen hören, das den Reporter schon wiederholt so eigentümlich berührt hatte, und es klang so melodisch und lockend, daß selbst der ›Fliegenpilz‹ mit verwundertem Gesicht herumfuhr.

»Es wird ein schweres Stück Arbeit werden«, meinte sie kichernd, »aber ich werde es versuchen.« Und wieder einmal hätte Noel Wellby viel darum gegeben, einen Blick hinter die toten Brillengläser tun zu können.

Am längsten brauchte Pat Coppertree, um mit dem großen Ereignis fertig zu werden. Aber nachdem er unter Zuhilfenahme eines alten Klemmers und seines dicken Zeigefingers herausbuchstabiert hatte, daß er von Mr. Lawrence ersucht wurde, sich um halb sechs dort und dort einzufinden, und nachdem er sich der Sicherheit halber dasselbe noch von einem gebildeten Laufburschen dreimal hatte vorlesen lassen, wußte er, was zu tun war. Er telefonierte mit Mrs. Nettie, ihm seinen Galarock und seine Galamütze zurechtzulegen, und als er eine etwas spitze und mißtrauische Antwort bekam, beeilte er sich zu versichern, daß er die gewisse Karte natürlich mitbringen werde. Er hatte ohnehin die Absicht, diesem Schriftstück einen besonderen Ehrenplatz hinter dem Spiegel einzuräumen, hinter dem bisher nur zwei Bildnisse von Mrs. Nettie steckten, und zwar erfreulicherweise aus einer Zeit, da sie noch jünger und ihre Warze unter dem Auge noch nicht so groß war.

Getreu seinem Grundsatz, bei solchen Anlässen lieber etwas früher als später zu kommen, tauchte Mr. Fish bereits kurz nach fünf Uhr im Westbassin des St.-Katharinen-Docks auf. Wie Miss Avery hatte auch ihm die Kleidungsfrage Kopfzerbrechen verursacht, aber schließlich war er auf eine Zusammenstellung verfallen, die unbedingt eine äußerst glückliche Lösung dieses schwierigen Problems bedeutete. Er trug zu seinen Lackhalbschuhen und den Seidenstrümpfen mit den breiten Ajours ein doppelreihiges Bordsakko, dessen blitzende Knopfreihen mit einem Anker geziert waren, eine etwas zu kurze und zu enge Leinenhose und eine ausrangierte Marineoffizierskappe, die erst an seinen etwas abstehenden Ohren einigen Halt fand. Diese fabelhafte Adjustierung war ihm von einer Kleiderleihanstalt zu der ansehnlichen Gebühr von zwei Schilling für den Tag überlassen worden, aber der ›Fliegenpilz‹ wußte, was er sich schuldig war, und außerdem gab er sich der Hoffnung hin, diese beträchtliche Auslage, wenn schon nicht direkt, so wenigstens indirekt wieder hereinzubringen.

Vorläufig hielt er Ausschau nach der ›Barracuda‹. Die schmucke Viertausend-Tonnen-Jacht war nicht zu übersehen. Sie lag knapp an der Schleuse, und die halbmannshohen Silberbuchstaben an ihrem Bug leuchteten weithin über das Wasser. Um den schlanken dunklen Rumpf lief ein breites weißes Emailband, das in der strahlenden Frühlingssonne wie ein Perlmutterreif schimmerte, und die beiden niedrigen, gedrungenen Kamine kündeten von der Riesenkraft, die in diesem schnittigen Fahrzeug lebte. Am Flaggenmast wehten der amerikanische und der englische Wimpel, und auf dem weißlackierten Deck standen steif und starr wie riesige Statuen die Bordwachen.

Sonst schien die Jacht wie ausgestorben, aber kaum hatte Mr. Fish den soliden, bequemen Laufsteg mit der entsprechenden Vorsicht betreten, als er drüben plötzlich das rosige Gesicht seines Freundes Boyd auftauchen sah. Er war zwar etwas befremdet, aber als er das sichere Deck unter seinen Füßen fühlte, legte er gönnerhaft einen Finger an den Kappenschirm.

»Das hätten Sie sich wohl nicht träumen lassen, als Sie vor einigen Tagen mutterseelenallein in unserem Zimmer saßen, ha? Sie sehen, wenn ich jemanden unter meine Fittiche nehme, so macht er seinen Weg.«

Er ließ seine Augen sofort mit großem Sachverständnis über das blinkende Verdeck gleiten, nickte mehrmals sehr anerkennend mit dem Kopf und lehnte sich dann malerisch an die Reling, um mit seinem riesigen Glas das Dock nach irgend etwas abzusuchen.

Um ein Viertel sechs stapfte Pat Coppertree goldstrotzend und stramm salutierend über den Steg, dann kamen Mrs. Dyke und Selwood und schließlich Clarisse Avery. Sie hatte sich den Rat Wellbys sichtlich zu Herzen genommen und war geradezu elegant gekleidet, machte aber trotzdem keine glücklichere Figur als sonst.

Als pünktlich auf die Minute Mr. Hyman erschien, löste sich der freundliche weißhaarige Herr von der erwartungsvollen Gruppe, um ihn zu begrüßen.

»Ich werde Sie zu Mr. Lawrence führen«, sagte er, und der Anwalt folgte ihm mit weit ausholenden wuchtigen Schritten. Über die Kajütentreppe ging es für den Koloß etwas schwer, und er mußte in dem mit dicken Teppichen belegten Gang einige Sekunden verschnaufen. Dann klopfte Boyd an eine Tür und ließ Hyman eintreten . . .

Wie an jenem gewitterschwülen Morgen im Cartwright-Haus, standen der junge Mann mit dem scharf geschnittenen Gesicht und den angegrauten Schläfen und der massive Anwalt einander wieder gegenüber. Hyman bedurfte einiger Augenblicke, um über diese Überraschung hinwegzukommen, dann schob er die dicke Unterlippe herausfordernd vor, und er sah noch bärbeißiger aus als sonst.

»Also, so ist die Geschichte«, stieß er heiser hervor, während er sich ohne weiteres in einen Sessel fallen ließ, daß dieser in allen Federn knackte. »Wollen Sie mir vielleicht sagen, was diese nette Maskerade bezwecken sollte?«

Gordon Lawrence lächelte, aber der Blick auf den ergrimmten Anwalt sprach eine ernste Sprache.

»Vielleicht können Sie sich diese Frage selbst beantworten, wenn Sie an die Entwicklung denken, die die Dinge in den letzten Wochen genommen haben. Unter der ersten Post, die mich wieder erreichte, befand sich ein Brief meines Oheims, in dem er mir aufgeregt und besorgt von der seltsamen Begegnung berichtete, die er gehabt hatte. Gleichzeitig erhielt ich die Nachricht von seinem plötzlichen Tod. Ein Gefühl sagte mir, daß da etwas Geheimnisvolles geschehen war, aber während der Fahrt nach England wartete ich vergeblich auf eine Aufklärung. Ich beschloß daher, selbst der Sache nachzugehen. Das Tagebuch Cartwrights, von dem er mir bereits vor Jahren eine Abschrift hatte zukommen lassen, da ich mich für solche Dinge interessierte, bot mir einen kleinen Anhaltspunkt. Ich fand Eingang in unser Zeitungshaus, horchte herum und überwachte Morton. So wurde ich Zeuge seines Zusammentreffens mit der ›Königin der Nacht‹, und ich patrouillierte um sein Haus, als ihn das gleiche Schicksal ereilte wie Cartwright. Da entschloß ich mich, den Alarmschuß in den ›London Sensations‹ loszulassen, und Sie müssen zugeben, Mr. Hyman, daß er seine Wirkung getan hat. Wer weiß, ob sonst das Rätsel je gelöst worden wäre.«

Der Anwalt nagte an seinen Lippen, und es war ihm plötzlich nicht wohl zumute, aber Lawrence kam ihm zu Hilfe.

»Sie müssen mir nichts sagen, denn Mr. Boyd hat mir bereits alles erklärt, und ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihre Rücksichtnahme. Es war wirklich eine heikle Sache. Ich rechne auch weiter mit Ihrem Beistand, und wir werden darüber noch sprechen. Vorläufig bitte ich Sie, eine kleine Erfrischung einzunehmen und eine Zigarre zu rauchen. Mr. Boyd wird Ihnen zeigen, wo beides zu finden ist.«

Hyman erhob sich so rasch, wie sein ansehnliches Gewicht dies gestattete. Er fühlte sich in der niedrigen Kajüte wie ein Elefant in einem Hühnerstall, und gegen eine Erfrischung und eine Zigarre hatte er in seiner augenblicklichen Verfassung auch nichts einzuwenden.

Evelyn und Selwood wurden zusammen zu Mr. Lawrence gebeten, aber bevor sie die Situation noch recht begriffen hatten, begann letzterer bereits zu sprechen.

»Ich kenne die testamentarische Verfügung meines Oheims und achte sie«, wandte er sich kühl an Mrs. Dyke, »aber ich glaube, daß Sie unter den gegebenen Verhältnissen einen anderen Wirkungskreis vorziehen werden. Ich habe drüben in meinen Unternehmungen eine Stelle, die Ihnen gewiß zusagen wird, und auch für Mr. Selwood wird sich etwas finden. Da Mr. Osborn und seine Frau gestern tödlich verunglücken, werden Sie beide den Wunsch hegen, England so bald als möglich zu verlassen, und ich werde die Sache daher beschleunigen. Bis dahin wollen Sie sich als beurlaubt betrachten, Mrs. Dyke.«

Er neigte verabschiedend den Kopf, und beide verließen die Kajüte und schritten wie Traumwandelnde über das Deck und über den Steg. Sie hatten von allem nur verstanden, daß die Entscheidung gefallen war und daß sie weit weniger in Mitleidenschaft gezogen werden sollten, als sie gefürchtet hatten.

Dann stolperte ängstlich und verwirrt Clarisse Avery über die Schwelle, aber kaum hatte sie ihr Gegenüber erblickt, als sie sich jäh aufrichtete und ihre dunklen Augengläser starr auf den jungen Mann mit den angegrauten Schläfen richtete.

»Miss Avery«, sagte Lawrence, aber seine Stimme klang bei weitem nicht mehr so bestimmt und selbstsicher, wie den früheren Besuchern gegenüber, »ich bin bereit, die gewisse Sache vom Brunnen der sieben Palmen nach besten Kräften gutzumachen. Wollen Sie mir Ihre Ansprüche nennen.«

Sie hatte die Handbewegung, die sie zum Sitzen einlud, übersehen und war bei jedem seiner Worte größer geworden. Nun stand sie hochaufgerichtet vor ihm, und ihr Kopf lag förmlich im Nacken.

»Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie, und der Ton, in dem sie sprach, brachte ihn vollends in Verwirrung.

»Gewiß; noch sehr viel«, sagte er schnell. »Vor allem möchte ich Ihnen das Schiff zeigen, wenn es Sie interessiert.«

Sie nickte leicht, und Gordon Lawrence hatte wirklich nichts Dringenderes zu tun, als das unschöne Mädchen durch den schwimmenden Prachtbau zu führen. Sie besah sich alles mit Gründlichkeit, aber ohne ein Wort zu verlieren; erst als er eine der Kabinentüren öffnete und sie einen Blick hineingetan hatte, brach sie endlich das Schweigen.

»Was ist das hier?«

»Die Kajüte der künftigen Herrin«, erwiderte er kühn.

»So«, gab sie etwas anzüglich zurück. »Ich dachte, daß hier die Opfer untergebracht würden, die Ihre Leute heimbringen, wenn Sie sie auf Mädchenraub ausschicken.«

Lawrence machte Miss Avery rasch auf einen anstoßenden kleinen Musiksalon aufmerksam, und als sie schließlich an Deck kamen, bat er sie, zum Dinner zu bleiben.

»Ich werde es mir noch überlegen«, gab sie zur Antwort. »Die Sache könnte mich nur deshalb reizen, weil ich sehen möchte, ob Ihnen Ihre Hauswirtin wieder ihr nettes Tafelzeug und ihre ausgezeichnete Küche zur Verfügung gestellt hat.«

Während Miss Avery das Oberdeck inspizierte, als sei sie von Jugend an auf Schiffsplanken herumgetrippelt, begrüßte Lawrence den äußerst ungeduldigen Mr. Fish, der mit einer Zigarre von riesigen Dimensionen in der Linken und einem ebenbürtigen Whiskyglas in der Rechten auf ihn zusteuerte.

»Gewünscht hätte ich Ihnen, das verdutzte Gesicht von Mr. Hyman zu sehen«, sagte der sommersprossige Jüngling und wackelte so vergnügt mit dem Kopf, daß die ausgemusterte Marineoffizierskappe von einem Ohr zum anderen tanzte. »Manche Leute haben eben gar keinen Blick. Am ersten Tag hätte ich eine Wette von einem Pfund, was sage ich, von zehn Pfund, aufgelegt, daß Sie Mr. Lawrence sind. Aber man ist fair und diskret.«

Da Mr. Fish fürchtete, daß seine Zigarre ausgehen und sein Whisky verdunsten könnte, tat er aus beiden einen gehörigen Zug, und Lawrence konnte Pat freundschaftlich auf die Schulter klopfen. Der krummbeinige Ire stand stramm wie ein Baumstrunk, wandte aber den Kopf zur Seite, denn er war ein guter Christ, und sein neuer Herr erinnerte ihn immer wieder an den Augenblick, da ihm der höllische Versucher erschienen war. Außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen, und Mr. Lawrence blinzelte so eigentümlich.

Das Dinner, das in einem sehr prunkvollen Speiseraum serviert wurde, nahm einen äußerst animierten Verlauf. Mr. Hyman hatte ungeduldig auf die Uhr geblickt, als er sich zu Tisch setzte, aber dann schien er ganz vergessen zu haben, daß seine Partie im Klub auf ihn wartete, und begann launig Anekdoten aus seiner Anwaltspraxis zu erzählen. Endlich war es Mr. Fish zu viel, mit seinen gesellschaftlichen Talenten völlig in den Hintergrund gestellt zu werden, und er wollte nun das Wort an sich reißen, aber Miss Avery kam ihm zuvor. Das unschöne Mädchen hatte mit einem Male alles Verlegene und Linkische abgestreift, gab sich mit der Sicherheit und Grazie einer vollendeten Dame und begann plötzlich mit einer sehr süßen Stimme lebhaft daraufloszuplaudern. Sie erzählte eine etwas unklare Geschichte von einem Jachtbesitzer, der ein junges Mädchen auf sein Schiff hatte schleppen lassen, und kam dann auf eine ebenso geheimnisvolle wie abenteuerliche Bootsfahrt auf der Themse zu sprechen. Dabei warf sie den schmalen Kopf mit dem schillernden Kupferhaar zu Mr. Lawrence herum und starrte ihn mit ihren undurchdringlichen Gläsern herausfordernd an, daß der Cartwright-Erbe sichtlich in Verlegenheit geriet.

Nach Tisch schlug der strahlende Boyd dem schnaufenden Anwalt eine Bridgepartie vor, bei der der Kapitän und der Schiffsarzt mittun würden, und Hyman sah zuerst entsetzt nach der Uhr, die bereits auf neun wies, erklärte sich aber dann brummend einverstanden. Mr. Fish entschied sich, bei der Partie zuzusehen, weil dabei vielleicht etwas herausschaute, und Clarisse Avery und Lawrence begaben sich an Deck. Sie kamen eben dazu, wie dort in aller Stille ein Verkehrshindernis aus dem Wege geräumt wurde. Pat Coppertree war von seinen alten Bekannten, von beiden baumlangen Matrosen, zu einem Imbiß eingeladen worden, und dann hatte man Bruderschaft getrunken. Dem Tempo der Matrosen war selbst die ausgepichte Kehle Pats nicht gewachsen, und nachdem er erst mächtig gelogen, dann bitterlich geschluchzt und schließlich seine neuen Freunde stürmisch umarmt hatte, bekam er es mit dem Gefühl der Hochachtung für alles, was ihn umgab, zu tun. Er wankte auf seinen krummen Beinen an Deck, stellte sich dort stramm in Positur und warf die mächtige rechte Flosse mit weit ausgestrecktem Ellbogen an den Mützenschirm. So stand er als steinerne Verkörperung der Ehrenbezeichnung wenigstens eine Viertelstunde lang und war nicht wegzubekommen, bis ihn seine neuen Freunde einfach beim Kopf und bei den Füßen erwischten und davonschleppten, um ihn wohlbehalten zu Mrs. Nettie zu bringen.

Es war eine herrliche, aber frische Vorfrühlingsnacht, und Gordon Lawrence machte sich immer wieder umständlich mit dem Mantel zu schaffen, den er Clarisse Avery fürsorglich umgehängt hatte. Zuweilen versuchte er auch, ein Gespräch zu beginnen, aber er kam damit nicht recht weiter, denn das unschöne Mädchen starrte sehr angelegentlich in das Wasser, obwohl es dort nichts zu sehen gab.

Plötzlich tauchte Mr. Jacob Fish neben ihnen auf, der die Kartenpartie verlassen hatte, weil er zu der Erkenntnis gekommen war, daß ihm das Kiebitzen kaum etwas einbringen würde. Außerdem war ihm Mr. Hyman, der bereits vier Schilling gewonnen hatte, viel zu laut und zu gesprächig. Der ›Fliegenpilz‹ überschlug eben die Spesen, die er für diesen Abend gehabt hatte und was ihm dafür geboten worden war, und er war von der Bilanz höchst unbefriedigt.

Da erblickte er vor sich seinen neuen Chef und Miss Avery, und sein Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. Er berechnete rasch die Barschaft, die er bei sich hatte, einschließlich der gewissen drei Schilling, um. beschloß, alles auf eine Karte zu setzen. Er legte einen Finger an die Marineoffizierskappe und verzog seinen breiten Mund von einem Ohr bis zum anderen. »Zehn Pfund, Mr. Lawrence, daß das geschehen wird, was ich mir eben denke.«

Der junge Mann mit den leicht angegrauten Schläfen schrak aus seinen Träumereien auf und starrte den ›Fliegenpilz‹ einige Augenblicke betroffen an. Dann sagte er nur das eine Wort »Gewonnen«, wandte sich blitzschnell zu Clarisse Avery, schlang den Arm um sie, zog ihr mit einem raschen Griff die große schwarze Brille von dem feinen Näschen, warf das Unding ins Wasser und drückte dann seine Lippen auf den kleinen üppigen Mund, den er vor sich hatte.

Das unschöne Mädchen stieß keinen Schrei aus und sträubte sich auch nicht, sondern zog es vor, für einige Zeit das Bewußtsein zu verlieren. Erst als Gordon Lawrence in seiner glückseligen Befangenheit meinte, daß es für den Anfang genug sei, erwachte sie wieder und sah ihn aus empört blitzenden Augen an. Aber da sie nichts sagte, fand er den Mut, seine Unverschämtheit auf die Spitze zu treiben.

»Du würdest mich sehr glücklich machen, Clarisse, wenn du endlich auch dieses schauderhafte Mal beseitigen wolltest. Es kleidet dich wirklich nicht.«

Sie sagte noch immer nichts, sondern kramte in ihrer Tasche, zog ein kleines Fläschchen und einen Schwamm hervor, befeuchtete diesen und fuhr rasch damit über Wange und Hals. Dann setzte sie ihre Puderquaste in Tätigkeit und sah Gordon Lawrence mit dem durchdringenden Blick eines Großinquisitors an. »Seit wann weißt du das?«

»Eigentlich bereits seit dem verregneten Abend, an dem wir zusammen nach der Cartershall wanderten«, gestand er.

»So«, meinte sie spitz und unverfroren. »Das war hinterhältig und sieht dir ganz ähnlich. Du kannst mich jetzt nach Hause bringen, denn ich möchte dir gerne unter vier Augen meine Meinung über deine Komödie und dein Benehmen sagen.«

Mr. Jacob Fish stand mit offenem Mund und weit ausgestreckter offener Hand, aber die letztere schloß sich sofort automatisch, als Gordon Lawrence sie mit einer Zehnpfundnote berührte.

 

Ende

 


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