Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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1

Jack Beery war von Beruf ein harmloser, bescheidener Taschendieb, aber wenn er genügend getrunken hatte, was ziemlich häufig vorkam, ließ er sich auch auf großzügigere und gewagtere Unternehmungen ein.

Unerläßliche Voraussetzung hierfür war allerdings, daß die Sterne gut standen. Jack hatte zwar von der wunderbaren Astrologie nie im Leben etwas gehört, und seine Bildung war so gering, daß er nicht einmal wußte, was ein Horoskop war. Aber seit dem Tag, da er eine Brieftasche geklaut hatte, die nichts anderes enthielt als einige bedruckte, sehr abgegriffene Blätter, war ihm so etwas wie eine Offenbarung von dieser geheimnisvollen Wissenschaft und ihrer außerordentlichen Bedeutung für das praktische Leben geworden.

An einem langweiligen, verregneten Oktoberabend hatte er in diesen Papieren etwas verständnislos gelesen, daß Merkur Venus mit Jupiter in gutem Aspekt begegne und daß kühne Ausführung der Pläne zu Erfolg und Vorteil führe. Als er aber einige Stunden später tatsächlich nebst verschiedenen Kleinigkeiten zwei Taschenuhren und einige Börsen mit zusammen fünfzehn Pfund sechs Schilling gezogen hatte, war sich Jack Beery vollkommen klar darüber, welch kostbaren Schatz er in seinen unscheinbaren Blättern besaß, und sein Glaube an das, was sie verkündeten, war fortan unerschütterlich.

Deshalb hielt er auch die Augen offen, als er von Hampstead nach Paddington hereinkam. Er hatte bis gegen Mitternacht mit einigen Zunftgenossen in der gemütlichen Bar ›Zur schwarzen Bauchtänzerin‹ ausgezeichneten Portwein und ebenso ausgezeichneten Whisky getrunken und harrte gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Denn es stand geschrieben: ›Ein besonders guter Tag für Sie ist der 17. März, wenn Sie es verstehen, außerordentliche Gelegenheiten, die sich Ihnen bieten, zu erkennen und entschlossen auszunützen.‹

Bis jetzt hatte Jack trotz eifrigster Umschau allerdings nichts von einer derartigen Gelegenheit wahrgenommen. Die Leute, mit denen er im Bus gefahren war, hatten nicht danach ausgesehen, als ob bei ihnen etwas zu holen wäre, und die Straßen, die er nun fröstelnd durchwanderte, waren fast menschenleer. Hie und da fuhr ein Windstoß durch den gelben Nebel zwischen den Häusern und peitschte von dem verhangenen Himmel beißendes Schneewasser herab. Es war eine wenig einladende Nacht, und wenn die Verheißung der Sterne nicht gewesen wäre, hätte Jack schon längst wieder irgendwo Unterschlupf gesucht. Aber er war augenblicklich zu abgebrannt, um eine todsichere Chance aufzugeben. Deshalb setzte er seinen Weg unverdrossen fort, aber er kam bis in die Nähe von Porchester Square, bevor seine Aufmerksamkeit durch eine Kleinigkeit außerordentlich in Anspruch genommen wurde.

Er war eben an der Vorderfront eines vornehmen einstöckigen Hauses vorbeigegangen und um die Ecke in eine enge, dunkle Seitengasse eingebogen, als er plötzlich haltmachte. Sein scharfes Auge hatte entdeckt, daß einer der Fensterflügel in dem kaum fünf Fuß hohen Parterre nicht ordentlich geschlossen war und bei jedem Windstoß bedenklich in den lockeren Angeln klirrte.

Jack schaute eine Weile das klappernde Fenster an, dann ging er einige Schritte weiter und überlegte. Er war zwar kein Fachmann in solchen Dingen, aber auch kein unerfahrener Neuling, und die gediegene Vornehmheit des Hauses ermunterte entschieden zu einem kleinen Wagnis. Schließlich durfte er sich auf seinen Instinkt und seine Gewandtheit und vor allem darauf verlassen, daß ihm für diesen Tag von geheimnisvollen höheren Mächten ein besonderer Erfolg vorherbestimmt war.

Jack Beery kam rasch zu einem Entschluß, aber er war nicht der Mann, ein solches Unternehmen zu übereilen. Er stopfte sich trotz Sturm und Schneeschauer sorgfältig seine Pfeife, setzte sie in Brand und begann dann mit prüfenden Blicken neuerlich einen langsamen Rundgang um das Haus. Aus den Fenstern drang nicht ein Laut und nicht der Schimmer eines Lichtes, und auch ringsumher war alles wie ausgestorben. Nur als er wieder in die Gasse mit dem verführerischen Fenster einbog, kam ihm eine Gestalt entgegen, die wie er den Kragen des Mantels hochgeschlagen und den Hut tief in die Stirn gedrückt hatte. Jack machte mit ausgesuchter Höflichkeit auf dem Gehsteig Platz.

Erst als der andere in der Finsternis untergetaucht und seine Schritte völlig verhallt waren, hielt der Dieb den günstigen Augenblick für gekommen. Er drückte sich dicht neben dem klappernden Fenster an das Mauerwerk und horchte intensiv. Dann reckte er seine hagere Gestalt und war bereits im Begriff, die Arme auszustrecken und sich hochzuziehen, als er ein Geräusch vernahm, das ihn sofort wieder zusammenknicken und förmlich eins mit der dunklen Hausfront werden ließ.

Über ihm hatte für den Bruchteil einer Sekunde ein Riegel geknackt, und Jack wußte, daß das nicht der Wind gewesen war. Er fühlte, daß in greifbarer Nähe ein anderes menschliches Wesen stand, über dessen Absichten er sich nicht klar war. Hatte man im Haus den Lärm des Fensters vernommen, und sollte im letzten Augenblick die günstige Gelegenheit vereitelt werden – oder . . .?

Jack Beery wurde durch die Ereignisse rasch des Grübelns enthoben. Er hörte ein leises Schleifen, und dann erspähte er erst ein Bein, hierauf ein zweites, das sich über die Fensterbrüstung schwang. Es waren außergewöhnlich schlanke und wohlgeformte Beine, die sekundenlang in der Luft baumelten, aber Jack hatte keine Zeit, sich mit dieser überraschenden Tatsache zu beschäftigen. Für ihn ging es um das Geschäft, und das schien ihm in dieser Minute sicherer, müheloser und lohnender denn je.

Seine Arme langten blitzschnell in die Luft, und seine gelenkigen Hände umklammerten beide Beine mit eisernem Griff.

»Ich helfe dir herunter«, tuschelte er. »Aber selbstverständlich nur gegen eine anständige Belohnung. Sonst schlage ich Lärm.«

Jack hob mit einem liebenswürdigen Grinsen den Blick zum Fenster, aber mit einemmal erstarrte er, und wenn sich seine Finger nicht eiligst aus dem krampfhaften Griff lösten, so lag dies nur daran, weil Furcht und Entsetzen ihn völlig lähmten.

Er hatte eine Erscheinung gesehen, die ihm das Blut in den Adern erstarren ließ, weil sie unbedingt Schlimmes bedeutete. Man sprach in seinen Kreisen nur im Flüsterton davon, und niemand wußte etwas Bestimmtes darüber. Aber wenn es Unheil gab, ging scheu ein Name von Mund zu Mund, ohne daß man wußte, wie, wann und wo er in die Welt gekommen war. Niemand hatte die ›Königin der Nacht‹ bisher gesehen, aber sie war da und bald hier, bald dort an ihrem unheimlichen Werk.

Er, Jack Beery, war vielleicht der erste, der sie leibhaftig zu Gesicht bekam, aber auch er sollte sie nie gesehen haben . . .

Eine Hand schnellte jäh in das Dunkel, und der entsetzte Mann fühlte einen sanften Schlag gegen sein Kinn, als ob ihn der Flügel irgendeines kleinen Nachtvogels gestreift hätte.

Einige Atemzüge später warf er die Arme in die Luft und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

Der schwarze Schatten mit der silbernen Mondsichel und den drei flimmernden Sternen glitt aus dem Fensterrahmen lautlos wieder in das Haus zurück, und der nächste Windstoß kam um sein Spiel mit den klappernden Scheiben.

Eine kleine Weile später lief irgendwo auf der anderen Seite beim Porchester Square ein Motor an, eben als der Mann mit dem hochgeschlagenen Kragen und dem tief herabgezogenen Hut wieder in der Gasse erschien. Er hatte die Hände in die Taschen seines triefenden Wettermantels vergraben und kam diesmal mit den gemessenen, gleichmäßigen Schritten einer militärischen Runde auf dem gegenüberliegenden Gehsteig daher. Unter der schützenden Krempe suchten seine Augen ununterbrochen die Front des kleinen, vornehmen Hauses ab, bis sie plötzlich auf das regungslose Bündel an der Mauer fielen. Er stand mit zwei raschen Sätzen bei ihm, und seine Taschenlampe leuchtete grell über das fahle Gesicht und die steife Gestalt Jack Beerys. Als er sich wieder aufrichtete, kam ein halblauter ärgerlicher Fluch über seine Lippen, und wieder flogen seine Blicke über die dunklen Fensterreihen des Hauses. Dann leuchtete er rasch den Boden um den Toten herum ab, aber sein Suchen blieb erfolglos.

Es dauerte ziemlich lange, bis auf sein schrilles Pfeifen ein diensteifriger Polizeibeamter eilig aus dem Nebel auftauchte.

»Hier gibt es etwas für Sie zu tun«, sagte der Mann in dem Wettermantel kurz.

Bevor er sich mit der Gestalt am Boden beschäftigte, die ihm sicher war, sah sich der Polizeibeamte erst einmal mit dem vorgeschriebenen Mißtrauen den Sprecher an, aber was er bemerkte, ließ jeden Verdacht schwinden. Er hatte offenbar einen vornehmen Herrn vor sich, wenn auch von dessen Gesicht so gut wie gar nichts zu erkennen war. Aber schon die Art, wie er sprach, verriet das, und der schwere Regenmantel war ein gediegenes Stück, das mindestens seine zwanzig Pfund gekostet hatte.

Der Wachtmeister war beruhigt, und er wurde noch beruhigter, als er einen Blick auf den Toten geworfen hatte. Jack Beery war ein der Polizei bekannter Dieb, und wenn solch einen Kunden endlich einmal das Geschick ereilte, so verursachte das keine allzu große Aufregung. Aber der Wachtmeister fand überhaupt nichts, was auf ein gewaltsames Ende gedeutet hätte, und das vereinfachte die Sache noch mehr. Nur um seinen Vorschriften zu entsprechen, fragte er den Herrn überaus höflich nach Namen und Adresse und bekam auch bereitwilligst Auskunft.

Als man später den Zeugen zur Totenschau und noch aus anderen wichtigen Gründen brauchte, stellte sich allerdings heraus, daß seine Angaben falsch gewesen waren.

Etwa eine Viertelstunde später, knapp nach halb zwei Uhr morgens, wurde der Pförtner des vornehmen, kleinen Hauses durch das Schrillen des Telefons aus tiefem Schlummer aufgeschreckt. Als er sich schlaftrunken und mürrisch meldete, schlug eine ungeduldige, herrische Stimme an sein Ohr.

»Sehen Sie sofort nach, ob Sir Nicholas etwas zugestoßen ist.«

Der Befehl klang so seltsam, daß ihn der Hausmeister nicht sofort zu fassen vermochte. Er wußte, daß sein Herr am vergangenen Abend das Haus überhaupt nicht verlassen und sich bereits gegen elf Uhr zurückgezogen hatte, und er begriff nicht, wie seither in dem wohlbehüteten Haus irgend etwas geschehen sein sollte. Einen Augenblick dachte er an einen üblen Scherz und wollte gerade etwas fragen, aber die Verbindung war bereits unterbrochen. Der alte Mann bekam es nun plötzlich mit der Angst zu tun. Er schlurfte eilig nach der Stube des Dieners, der ihn überrascht und bestürzt anhörte, und dann eilten beide in das erste Stockwerk.

Das Schlafzimmer von Sir Nicholas lag am äußersten Ende der Galerie, die um die Halle lief, gegen den kleinen Garten zu. Es war nie versperrt, sondern bloß durch ein Schnappschloß gesichert, zu dem außer ihm selbst nur der Diener einen Schlüssel besaß.

Der Diener war auch der erste, der sich zu einem Entschluß aufraffte, nachdem sie minutenlang mit angehaltenem Atem an der Tür gelauscht hatten, ohne dadurch irgendwelche beruhigende Gewißheit zu erlangen. Er öffnete mit unsicherer Hand und suchte zunächst durch einen kleinen Spalt einen Blick nach dem Bett zu werfen, das in der einen Fensterecke des nicht allzu großen Zimmers stand. Aber der Raum war durch die dichtgeschlossenen Portieren in undurchdringliches Dunkel gehüllt, und die Stille, die drinnen herrschte, hatte etwas Beklemmendes. Nicht ein Atemzug war zu hören, und die beiden Lauscher an der Tür standen mit fliegenden Pulsen und feuchten Stirnen.

Endlich glaubte der Diener die Verantwortung für das Außergewöhnliche auf sich nehmen zu müssen und schaltete das Licht ein.

Sir Nicholas Morton, ein langer, sehniger Mann, lag, das Gesicht der Wand zugekehrt, in seinen zerwühlten Kissen, und die unnatürliche, krampfhafte Verrenkung der Glieder verriet auf den ersten Blick, daß das nicht der Schlaf eines Lebenden war. An dem Körper war nicht ein Blutfleck, nicht das geringste Anzeichen einer Gewalttat zu entdecken, aber die verzerrten Züge sprachen von einem furchtbaren Todeskampf.


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