Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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19

Boyd saß, frisch und rosig wie immer, am Schreibtisch und telefonierte mit Mrs. Emerson, die ihm erregt eine Menge Neuigkeiten mitteilte.

Sie habe eben vor einer Stunde den Verkauf abgeschlossen und auch tatsächlich den vollen Betrag richtig erhalten . . .

»Was haben Sie mit dem Geld gemacht?« fragte der Detektiv lebhaft.

»Es liegt bereits auf der Bank.«

»Sehr gut«, bemerkte er beruhigt, und die hübsche Frau am anderen Ende der Leitung konnte in ihrem Bericht fortfahren.

Sie sei sehr froh darüber, denn gestern nacht habe sich in unmittelbarer Nähe der Bar wieder ein geheimnisvoller Vorfall ereignet, indem einer der Freunde des ›Professors‹ tot aufgefunden worden sei. Und es wäre im Lokal zu offenen Feindseligkeiten gegen diesen gekommen, als die Sache bekannt wurde. Man sei nämlich fest davon überzeugt, daß dabei wiederum die ›Königin der Nacht‹ die Hand im Spiele gehabt habe.

Die aufgeregte Mrs. Emerson machte eine Atempause, und Boyd fand Gelegenheit, zu Worte zu kommen.

»Ich freue mich, daß Sie das unangenehme Geschäft glücklich losgeworden sind«, sagte er. »Was werden Sie nun tun?«

Er vernahm im Telefon ein leises Lachen. »Zunächst einmal gar nichts, denn ich kann mir das nun erlauben. Das heißt, morgen oder übermorgen fahre ich zu meiner Tochter«, fuhr sie glückselig fort. »Ich habe ja das Kind über ein halbes Jahr nicht gesehen. Und nach den Ferien werde ich sie überhaupt bei mir behalten.«

Der weißhaarige Herr machte ein sehr ernstes Gesicht und war so in Gedanken, daß ihn erst ein mehrmaliges verwundertes »Hallo« wieder aufzurütteln vermochte.

»Jawohl, ich bin noch am Apparat«, bestätigte er. »Entschuldigen Sie – eine kleine Ablenkung –, wo kann man Sie denn erreichen?«

Sie lispelte etwas verlegen ihre Adresse und ihre Telefonnummer in den Apparat, und er beeilte sich, beides zu notieren.

»Sie gestatten doch, daß ich mich gelegentlich erkundige, wie es Ihnen geht?«

»Ich werde mich sehr freuen«, kam es schüchtern zurück, und das Gesicht Boyds wurde noch rosiger.

»Ich glaube, daß Cummings mit dem Kauf der Bar ein schlechtes Geschäft gemacht haben dürfte«, meinte er plötzlich. »Nachdem die Leute ihm mißtrauen, werden sich die bisherigen Gäste wahrscheinlich rasch verlieren.«

»Oh, er behauptet, daß er nur vermittelt habe. Der Name des Käufers ist in dem Vertrag vorläufig offengeblieben. Es soll niemand wissen, daß die Sache durch ihn zustande gekommen ist. Ich mußte mich heute verpflichten, darüber zu schweigen – aber ich hatte Ihnen bereits gestern davon erzählt.«

Boyd fühlte sich gedrängt, die gewissenhafte Mrs. Emerson zu beruhigen.

»Ich werde keinen Gebrauch davon machen. Sagten Sie nicht, daß der Professor kürzlich auch ein Haus gekauft haben soll?«

»Ja. Irgendwo in Hackney. Näheres weiß ich nicht. Man hat sich eines Abends darüber unterhalten, als er mehrere Stunden über einem Plan saß. Das Haus soll früher einem Wucherer gehört haben. Aber der Name ist mir entfallen.«

»Robbins?«

»Jawohl, ich glaube, so hieß er. Aber der Professor wohnt, soviel ich weiß, nicht dort, sondern in Whitechapel.«

Der Detektiv interessierte sich aber schon wieder für etwas anderes.

»Werden Sie es mich wissen lassen, wenn Sie zurückkehren?«

»Gerne«, erwiderte sie sanft. »Ich glaube, länger als eine Woche werde ich nicht bleiben. Ich darf das Kind nicht zu sehr aus seiner gewohnten Lebensweise bringen.«

»Nein, das würde sich gewiß nicht empfehlen«, beeilte sich Boyd beizustimmen, und vom anderen Ende der Leitung her klang ein leises Kichern, das den Herrn mit dem weißen Haar erröten ließ.

 

»Ich suche ein Haus in Hackney, das dem verstorbenen Robbins gehört hat«, sagte Boyd eine Stunde später zu Oberst Terry, der ihn lebhaft begrüßt hatte. »Sie werden den Mann wohl gekannt haben.«

Der Oberst nickte und setzte sich sofort ans Telefon.

»Haben Sie guten Wind?« fragte er gespannt, während er auf die Antwort der Polizeistation wartete.

»Ich bin zufrieden. Und wenn es so weitergeht, werden Sie es auch sein.«

Terry atmete tief auf und strich sich nervös den Bart.

»Tun Sie Ihr möglichstes, Boyd, damit wir die verdammte Geschichte bald vom Hals haben. Unsere Leute schießen noch immer durcheinander wie eine Meute, die keine Spur finden kann, und wenn wir nicht wüßten, daß wir uns auf Sie verlassen können, wäre es zum Verzweifeln. Die Presse verhält sich zwar vorläufig abwartend, aber ich kenne diese Ruhe vor dem Sturm. Wenn wir ihr nicht in spätestens vierzehn Tagen eine Beute auf den Tisch legen . . .«

»Ich glaube, acht Tage werden genügen«, meinte der Detektiv nachdenklich, und der andere fuhr mit einem Ruck herum.

»Donnerwetter«, meinte er strahlend. »Sie haben aber doch hoffentlich nicht vergessen, was Sie mir versprochen haben?«

»Nein. Wenn es soweit ist, erfahren Sie alles Nötige. Aber wahrscheinlich werde ich Ihre Leute schon früher zu einigen Kleinigkeiten brauchen.«

Der Oberst nickte lebhaft, während er den Hörer von dem schrillenden Telefon nahm.

»Hackney Marsh«, sagte er, nachdem er aufgehängt hatte. »Einige hundert Schritt östlich vom Victoria Park. Gehört dieses Haus zu unserer Sache?«

»Vielleicht«, erwiderte der Detektiv ausweichend, »aber kümmern Sie sich vorläufig nicht darum. Es könnte mich nur stören. – Haben Sie in der letzten Zeit irgend etwas mit Cummings zu tun gehabt?« fragte er dann plötzlich. »Ich meine den sogenannten Professor, den wir damals in dem großen Bankskandal wegen Beihilfe ausgehoben haben. Er hatte die wunderbaren Mixturen und Tinten für die Radierungen und Fälschungen in den Büchern und auf den Wechseln geliefert und hätte sich mit seiner Schlauheit fast herausgedreht, wenn er nicht einen ganz winzigen Fehler begangen hätte. Das hat ihn die Kleinigkeit von drei Jahren gekostet.«

Der Oberst erinnerte sich, aber seither hatte seines Wissens nichts gegen diesen Mann vorgelegen. Auch Boyd überzeugte sich davon, als er später im Archiv in die Akte ›Cummings‹ Einsicht nahm. Dann stöberte er noch in einem anderen vergilbten Aktenbündel mit der Aufschrift ›Robbins‹ herum, wobei er plötzlich auf ein Briefblatt stieß, das ihn außerordentlich interessierte. Er las die wenigen Zeilen sehr aufmerksam durch, obwohl sie eigentlich nichts Besonderes enthielten. Es war eine jener anonymen Zuschriften, wie sie Scotland Yard täglich in Massen zugehen und die nach flüchtiger Durchsicht abgelegt werden, wenn sie nicht wirkliche Anhaltspunkte bieten. Der vorliegende Brief war überhaupt völlig unverständlich, denn er enthielt nur die Worte: »Erkundigen Sie sich einmal bei Robbins nach dem 8. Februar.« Eine Unterschrift fehlte natürlich, dafür trug das Schreiben zur größten Befriedigung des Detektivs ein Datum, das er sich notierte. Am Rand des Blattes waren dann noch zwei amtliche Vermerke: »Der Bezirksstation Stepney abgetreten«, und von dieser die Erledigung: »Die Recherchen nach ergebnisloser Einvernahme Robbins' wegen mangelnder Unterlagen eingestellt.«

Ein weiteres Schreiben dieser Art fand sich nicht in den Akten, und der Detektiv hatte dies auch nicht erwartet. Nach dem Vermerk der Bezirksstation war der Zweck, den die seltsame Denunziation verfolgt hatte, offenbar erreicht worden, und die Leute, die um die Dinge vom 8. Februar wußten, hatten mit dem eingeschüchterten Wucherer leichtes Spiel gehabt.

Als Boyd Scotland Yard verließ, lag ein sanftes, freundliches Lächeln auf seinem frischen Gesicht, und die ehemaligen Kollegen, die ihm begegneten, wußten, was das zu bedeuten hatte. Wenn dieser Mann mit dem schneeweißen Haar, der in Wirklichkeit kaum vierzig Jahre alt war, mit seinen grauen Augen so harmlos und vergnügt dreinsah, dann hatte er die Karten zu einem großen Spiel in der Hand.

Aber vorläufig beschäftigte er sich mit ganz unschuldigen nichtigen Dingen. Zuerst besetzte er wenigstens eine halbe Stunde einen Telefonautomaten, dann gönnte er sich ein sorgfältig ausgewähltes Frühstück, das ihm ausgezeichnet mundete und das er mit einer dicken schwarzen Zigarre beschloß.

Pünktlich um zwei Uhr war er bei der London Bridge und ließ sich von einem Motorboot der Flußpolizei aufnehmen, das ihn zu einer Rundfahrt durch den Pool erwartete.

»Geht bei uns etwas vor?« fragte der führende Offizier lebhaft, als er den alten Bekannten begrüßte, aber der Detektiv schien es überhört zu haben.

»Eigentlich ein ganz angenehmer Dienst, so im Sonnenschein auf dem Wasser herumzugondeln«, meinte er.

»Ja, vier Monate«, knurrte der andere. »Und dann acht Monate in Nebel, Regen und Sturm.«

Er spuckte übellaunig ins Wasser und griff nach dem Steuer.

»Halten Sie möglichst nahe an den Docks vorbei«, bat Boyd. »Wenn man, wie ich, droben in Camden Town wohnt, sieht man so etwas nicht alle Tage.«

Das Motorboot mit dem Polizeiwimpel schnitt ratternd und zischend durch das Wasser, und der Detektiv ließ seine Blicke unausgesetzt nach links und rechts gehen. Der Hafen wimmelte von Fahrzeugen aller Art, von den größten Ozeandampfern bis zu den kleinsten Frachtenschonern, und stellenweise gab es eine derartige Stauung, daß das Boot einen Umweg machen mußte. Dann erhob sich Boyd immer und sah in das Gewirr, als ob er die einzelnen Schiffe zählen wollte. Die Fahrt ging an der linken Uferseite hinunter bis zum Regent's Canal Dock.

»Wenn es Ihnen recht ist, wechseln wir jetzt auf die andere Seite«, schlug Boyd vor, und gleich darauf überquerte das Boot in weitem Bogen die freie Fahrtrinne und nahm dann wieder den Weg gegen die London Bridge zurück.

Der Herr mit dem weißen Haar ließ während der langen Fahrt nur hie und da eine gleichgültige Bemerkung fallen, und nichts verriet, daß irgendeines der Fahrzeuge sein besonderes Interesse erweckt hätte. Als aber die Landungsstelle in Sicht kam, zog er einen Zettel aus der Tasche, auf dem die Namen von acht Schiffen standen und machte hinter zweien ein Fragezeichen. Aber dann dachte er eine Weile nach, strich beide wieder aus und setzte hinter einen der Namen drei dicke Ausrufungszeichen.

Damit war aber die Arbeit für diesen Tag noch lange nicht beendet. Wie in seinen glänzendsten Jahren war wieder einmal das Jagdfieber über ihn gekommen, und da pflegte er stets ein rasendes Tempo zu entfalten.

In der Lower Thames Street suchte er ein Taxi und ließ sich nach Whitechapel bringen. Er kannte diesen Stadtteil ziemlich genau. Einige Straßen vor der Wohnung des ›Professors‹ hielt er an, um die letzte Strecke zu Fuß zurückzulegen.

Das einfache Mietshaus bot nichts Besonderes, und Boyd erwartete es auch nicht, als er es betrat und gemächlich durch das Treppenhaus schlenderte. Er hatte nicht die Absicht, Cummings einen Besuch abzustatten, und es wäre ihm gar nicht angenehm gewesen, ihn zufällig zu treffen, aber er wollte sich einmal die Umgebung etwas näher ansehen, in der dieser hauste.

Wie in allen diesen Vorstadthäusern gab es auch hier im Treppenhaus wenig Licht, und er mußte seine Taschenlampe zu Hilfe nehmen, um die primitiven Türschilder entziffern zu können. Erst in der zweiten Etage stieß er zur Linken auf den Namen, den er suchte, und unwillkürlich ließ er das Licht über die ganze Tür spielen. Oberhalb der schmierigen Visitenkarte befand sich ein einfacher Briefkasten aus Blech, und die Augen des Detektivs blieben an einem Telegramm haften, das aus der Vergitterung hervorsah.

Boyd hatte nie unter Hemmungen gelitten, wenn er auf einer Fährte war, und verstand so ziemlich alles, was man bei seinem Beruf brauchen konnte. Wenige Sekunden später hielt er das Telegramm auch schon in der Hand, öffnete es behutsam und las es durch.

»Vorbereitet vier 11.30 Hackney.«

Der weißhaarige Herr verschloß das Telegramm kunstgerecht, sperrte den Briefkasten gewissenhaft wieder ab und stieg leise pfeifend die Treppe hinunter. Er hatte es ziemlich eilig, aus dem Haus und dessen Umkreis zu kommen, denn wenn der ›Professor‹ sich so dringende Nachrichten in die Wohnung zustellen ließ, so konnte er jeden Augenblick zurückkehren.

Das kleine Gebäude in Hackney, das angeblich Cummings gehörte und das Boyd eine Stunde später vorsichtig umkreiste, sah geheimnisvoll und romantisch aus. Es lag abseits an einem Feldweg, und der Zugang führte durch dichtes Gestrüpp, das bis knapp an die Mauern heranreichte. Das Haus war einstöckig, hatte zu ebener Erde zwei und darüber vier Fenster, die alle mit wettergebleichten Rolläden verschlossen waren. Über ausgetretene Steinstufen gelangte man zur Tür. Links und rechts erhob sich ausgedehntes mannshohes Gebüsch, das anscheinend den Garten ersetzen sollte. Es war ein verwahrloster, düsterer Ort. Weit und breit hatte man hier keinen neugierigen Nachbar und konnte treiben, was man wollte.

Als der Detektiv sich die Vorderfront zur Genüge besehen hatte, zwängte er sich durch das Gestrüpp an einer der Seitenmauern und konnte schon nach wenigen Schritten feststellen, daß um das ganze Haus ein sorgfältig ausgehauener schmaler Pfad führte. Ferner stieß er an jeder der Seitenmauern und an der rückwärtigen Fassade, die ganz ohne Fenster war, auf je eine kleine eiserne Tür, jedoch keine gab seinem vorsichtigen Druck nach. Das Haus schien völlig ausgestorben, und Boyd ging wenigstens eine halbe Stunde ununterbrochen rundherum und versuchte sich hierbei jeden Fußbreit dieses Weges einzuprägen. Schließlich unternahm er den Rundgang sogar einige Male mit geschlossenen Augen und erst, als er dabei lautlos und ohne auch nur einmal die Mauer oder einen Ast zu streifen, vorwärts kam, gab er seine eigenartige Beschäftigung auf und schlug einen Pfad ein, der an der rückwärtigen Seite des Hauses in das Gebüsch führte. Er übersah einen gut verkleideten Seitenweg und kam ziemlich weit ab, so daß er bis zum nächsten Taxistand einen beträchtlichen Fußmarsch zurücklegen mußte.

Trotzdem war er pünktlich um neun Uhr, wie er sich angekündigt hatte, in tadellosem Abendanzug im Klub Hymans und setzte sich zu dem bereits ungeduldig wartenden Anwalt. Die Mienen des Kolosses ließen ihn nicht darüber im Zweifel, daß er auch diesmal ungelegen kam, aber er schnitt ihm jede Bemerkung von vornherein ab.

»Sie brauchen mir nicht zu sagen, daß Sie nicht in den Klub gehen, um mit mir zu plaudern, sondern um Karten zu spielen, das weiß ich. Aber nachdem Sie zu Hause nicht gestört sein wollen, weil Sie dort schlafen, und ich nicht in das Cartwright-Haus gehen will, weil ich mich dort unbehaglich fühle, habe ich es heute einmal hier versucht. Sie werden ja dann beurteilen können, ob es Ihnen angenehmer ist, im Schlaf oder beim Kartenspiel gestört zu werden, und ich bitte Sie, mir das unumwunden zu sagen, damit ich mich darnach richten kann. – Im übrigen habe ich heute fast vier Pfund für Autofahrten ausgegeben.«

Mr. Hyman wußte wieder einmal nicht, wie er den Mann nehmen sollte, und es begann in ihm zu kochen.

»Ist das alles, was Sie mir zu sagen haben?« knurrte er. »Das interessiert mich nämlich nicht.«

»Aber mich«, versicherte Boyd lebhaft. »Über die Spesenfrage haben wir doch noch nicht gesprochen, und ich glaube, daß wir das nachholen müssen.«

»Halten Sie mich nicht mit dem Geschwätz auf«, fauchte Hyman. »Deshalb sind Sie doch nicht hergekommen?«

»Nein, nicht ausschließlich. Aber nachdem ich sehe, daß es Ihnen auf die Spesen nicht ankommt, können wir ja von den anderen Dingen sprechen. – Haben Sie etwas Neues von dem jungen Lawrence gehört?«

Hyman warf überrascht den Kopf zurück und starrte den Detektiv mißtrauisch an.

»Was hat das mit unserer Sache zu tun?« fragte er unsicher.

»Nichts. Es war nur so eine Frage, weil mir die Geschichte seltsam vorkommt. Eine ganze Expedition – ich glaube, es waren elf Leute – kann doch heutzutage nicht mehr spurlos vom Erdboden verschwinden. Selbst wenn sie irgendwo aufgefressen wird, findet man wenigstens die Knochen und die ungenießbaren Hosen und Röcke oder sonst etwas. Und in Australien soll es nicht einmal mehr Menschenfresser geben, habe ich mir sagen lassen. Wie reimen Sie sich das zusammen?«

Der Chef des Cartwright-Konzerns nagte an seinen blutleeren Lippen und zuckte mit den breiten Schultern.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Und soviel ich weiß, habe ich Sie auch nicht beauftragt, sich um diese Sache zu kümmern«, fuhr er grob fort. »Ich habe Sie wegen der gewissen anderen Dinge engagiert.«

Boyd nickte lebhaft.

»Wegen der ›Königin der Nacht‹, jawohl. Aber Sie machen mir die Geschichte verdammt schwer. Geben Sie mir auf drei Fragen eine kurze Antwort, und ich glaube, Ihnen versprechen zu können, daß wir darin rasch vom Fleck kommen werden.«

Der Detektiv neigte sich ganz nahe zu Hyman und sah ihn so seltsam an, daß dieser höchst unruhig zu werden begann. Der Teufel hatte ihn geritten, daß er sich mit diesem unangenehmen, hartnäckigen Menschen eingelassen hatte.

»Warum wollen Sie sich an das Gespräch mit Cartwright wegen der ›Königin der Nacht‹ nicht mehr erinnern? – Weshalb verschweigen Sie, daß das Buch, in das Sie Einblick nehmen sollten, Ihnen abhanden gekommen ist? – Warum haben Sie nicht sofort nach dem Tode Cartwrights Lärm geschlagen, da Sie doch wußten, daß es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen war?«

Boyd hatte seine Stimme zu einem kaum vernehmbaren Flüstern gedämpft, aber jede dieser verfänglichen Fragen drängte den Anwalt mehr in die Enge. Einen Augenblick schien es, als ob er ohne Rücksicht auf die Umgebung wütend lospoltern wollte, aber dann begann er plötzlich an seinem Hemdkragen zu reißen und lehnte sich mit einem höhnischen Grinsen in seinen Sessel zurück.

»Das alles sind Dinge, die Sie nicht beweisen können«, preßte er heiser hervor.

»Noch nicht beweisen können«, stellte Boyd gelassen richtig. »Aber in einigen Tagen werde ich bestimmt soweit sein. Es ist nur schade um die Zeit, die ich wegen dieses rein psychologischen Moments verliere, und um die erhöhten Spesen, die Ihnen daraus erwachsen.« Er strich mit seinen feinen Händen über das rosige Kinn und sah Hyman mit einem Ausdruck an, der ebenso unverschämt wie liebenswürdig war. »Sie sind, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, ein ausgezeichneter Anwalt«, fuhr er verbindlich fort, »aber ich glaube, Sie haben sich in diesem Fall auf eine falsche und sehr bedenkliche Taktik festgelegt. Sie mögen Gründe dafür gehabt haben, aber Sie haben dabei zu viel gewagt. Wenn ich noch in Scotland Yard wäre, hätte ich ohne weiteres die Hand auf Sie gelegt. Jetzt arbeitet man dort bedächtiger, aber eines Tages wird man doch darauf kommen, daß Sie eine eigenartige Rolle gespielt haben. Sie sind ja ein sehr bekannter und mächtiger Mann, aber alle Rücksichten haben ihre Grenzen, wenn die Polizei auf Verdachtsmomente stößt, mit denen sich halbwegs etwas anfangen läßt. – Stellen Sie sich dieses Aufsehen vor.«

»Haben Sie vielleicht etwas gehört?« fragte er fassungslos, und jedes Wort kam so schwer heraus, als ob ihm ein eiserner Reif um die Kehle säße.

»Nein«, gab Boyd zögernd zurück und sah an Hyman vorbei. »Ich halte es nur für möglich. Hoffentlich gelingt es mir, rascher zu arbeiten als Scotland Yard, dann haben Sie wahrscheinlich nichts zu befürchten. Wenn ich mich auch getrauen würde, Ihnen mit den Indizien, die gegen Sie vorliegen, einen peinlichen Prozeß zu machen, so bin ich doch nicht sicher. Es muß etwas anderes dahinterstecken. Das ganze Problem der ›Königin der Nacht‹ hat mir nicht so viel Kopfzerbrechen verursacht wie Ihr Verhalten.«

»Wenn ich reden soll, so muß ich eine Bedingung stellen«, sagte der Anwalt plötzlich mit geschäftsmäßiger Gelassenheit, und der Detektiv wunderte sich, welche Beherrschung dieser ewig polternde und aggressive Mann aufzubringen vermochte.

»Ich hoffe, daß ich sie erfüllen kann«, meinte Boyd.

»Sie müssen sie erfüllen, denn dafür bezahle ich Sie«, brauste Hyman auf, aber dann schien er einzusehen, daß dies nicht der passende Ton war, um die heikle Angelegenheit zu erledigen, und er lenkte sofort wieder ein. »Ich glaube auch, daß Ihnen dies nicht allzu schwerfallen wird. Es betrifft nämlich Cartwright.« Seine Stimme wurde leise, aber scharf und bestimmt. »Ich weiß nicht, was die Geschichte der ›Königin der Nacht‹ eigentlich zu bedeuten hat, aber wenn das Andenken von Sir Benjamin dadurch irgendwie leiden könnte, so darf die Sache um keinen Preis aufgerührt werden. Wenigstens von uns nicht. Verstehen Sie mich? – Richten Sie sich also darnach. – Und nun fragen Sie meinetwegen, was Sie wollen.«

Thomas Hyman hatte mit einem Male die Fessel, die ihn seit Monaten bedrückt hatte, gesprengt, und damit schien auch all das Unsympathische an seinem äußeren Menschen und in seinem Wesen abgestreift. Er brachte sogar ein schadenfrohes Schmunzeln zustande, als er das überraschte Gesicht des Detektivs sah, und es gab ihm eine gewisse Befriedigung, daß Boyd eine Weile brauchte, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

»Das ist es also«, meinte Boyd endlich etwas kleinlaut. »Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen können, wenn ich nicht noch immer von dem üblen Polizeigeist besessen wäre. Wir suchen stets nur nach niedrigen oder wenigstens selbstsüchtigen Motiven. – Sie sind also wirklich gar nicht dazu gekommen, sich mit Cartwright über die Sache näher auszusprechen?«

»Nein.« Der Anwalt schüttelte nachdenklich seinen Kopf. »Es war damals alles wie verhext«, stieß er abgehackt hervor. »Cartwright fühlte sich wieder einmal nicht wohl – er hatte immer mit dem Herzen zu tun –, und ich hatte eine große Fusion vor, die eine Menge Besprechungen erforderte. Es ging dabei um Millionen. Plötzlich rief er mich eines Nachts in meiner Wohnung an und erzählte mir von einer seltsamen Begegnung, die er gehabt habe und über die er mit mir sprechen müsse. Er schien ungewöhnlich aufgeregt, und wir verabredeten einen Besuch am nächsten Tag. – Das war das erste Telefongespräch, das ich mit ihm in dieser geheimnisvollen Angelegenheit hatte. Damals habe ich zum erstenmal von der ›Königin der Nacht‹ gehört, ganz flüchtig, zusammenhanglos, daß ich schließlich nicht wußte, worum es sich eigentlich handelte. Cartwright deutete mir immer wieder an, daß er ganz außer sich sei, weil er einen furchtbaren Skandal fürchte.«

Boyd hatte mit regungslosem Gesicht zugehört. »Und das zweite Gespräch?« fragte er nach einer langen Pause.

»Fand am nächsten Tag statt. Es war sehr kurz, und Sie kennen es ja, weil der Diener geplaudert hat. Ich hatte meine Verabredung nicht einhalten können, und Cartwright rief mich in meinem Büro an. Die Sache mußte ihm sehr dringlich sein, denn er wollte mich unbedingt noch am selben Abend sprechen. Aber es ging beim besten Willen nicht. Schließlich sagte er, er würde mir sein afrikanisches Tagebuch in die Wohnung schicken, und ich sollte darin das Kapitel über die Nacht beim Brunnen der sieben Palmen lesen. Ich kam aber auch dazu nicht, denn das Buch ist zwar gegen acht Uhr abends bei mir abgegeben worden, aber als ich kurz nach elf heimkehrte, war es verschwunden. Man hatte den Diener durch einen Anruf weggelockt und war dann eingedrungen. So denke ich es mir wenigstens. Und am nächsten Morgen erfuhr ich vom Tode Cartwrights. – Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann«, schloß er und schlug bekräftigend auf die Armlehne seines Sessels.

Boyds Mienen strahlten vor Behagen und Liebenswürdigkeit.

»Glauben Sie, daß Cartwright auch noch zu jemand anderem von der Geschichte gesprochen hat?«

Der Anwalt hob langsam die Schultern. »Vielleicht zu Morton. Sie waren sehr befreundet, und der war ja damals mit dabei. Da kann man wohl annehmen, daß Sich Cartwright mit ihm in Verbindung gesetzt hat.«

»Und was ist mit Mrs. Dyke?« fragte der Detektiv plötzlich leichthin. »Ist es möglich, daß sie von dem Vorfall wußte, der Cartwright so in Aufregung versetzt hatte, oder wenigstens von den Gesprächen, die er mit Ihnen darüber geführt hat?«

»Möglich ist alles«, meinte Hyman ausweichend, und sein Gesicht hatte wieder einen höchst mißmutigen Ausdruck.

»Sie mögen Mrs. Dyke nicht«, sagte Boyd geradeheraus, und Hyman wußte nicht recht, was er darauf erwidern sollte.

»Ich mag Frauen überhaupt nicht«, stieß er hervor, und der Ton, in dem er dieses Bekenntnis ablegte, ließ keinen Zweifel über den Ernst seiner Worte.

»Wie ist Mrs. Dyke in das Cartwright-Haus gekommen?« wollte Boyd wissen, aber der Anwalt vermochte ihm keine bestimmte Auskunft zu geben.

»Ich glaube, sie ist Cartwright empfohlen worden.«

»Von Selwood oder von Osborn?«

Hyman sah etwas ungeduldig nach der Uhr.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Über solche Dinge habe ich mit Cartwright nie gesprochen – Ist sonst noch etwas?«

»Nein. Ich werde Sie nicht länger aufhalten. Und ich hoffe, daß ich Sie nun überhaupt nicht mehr belästigen muß. Sie dürfen mir glauben, daß es auch für mich kein Vergnügen war. Bis heute abend. Da haben Sie mir allerdings in jeder Hinsicht eine sehr angenehme Überraschung bereitet.«

Der weißhaarige Herr machte bereits Miene, sich zu verabschieden, als ihm noch etwas einfiel.

»Vergessen Sie nur nicht unsere Verabredung, Mr. Hyman«, sagte er eindringlich. »Es bleibt bei meinem Haifischfang auf Ihre Kosten, auch dann, wenn ich nicht um meine Forellensaison komme. So haben wir es ausdrücklich vereinbart. Und ich werde nicht darum kommen. Heute in – nun sagen wir spätestens acht Tagen hoffe ich an meinem idyllischen Fischwasser zu sein und mich mit angenehmeren Dingen zu beschäftigen als mit der ›Königin der Nacht‹ vom Brunnen der sieben Palmen. Gute Nacht, Mr. Hyman.«


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