Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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11

Es war wirklich ein Zufall, der Noel Wellby an diesem Abend, als er das Haus verlassen wollte, auf einem der Korridore mit Clarisse Avery zusammentreffen ließ. Der Reporter hatte das häßliche Mädchen seit dem Vortrag der Heilsarmee nicht mehr gesehen, und er hatte sich einigermaßen darüber gewundert, denn sonst war ihre gebeugte Gestalt täglich am Morgen und gegen Abend im Reportersaal aufgetaucht und hatte sich irgendwo in einem stillen Winkel verkrochen.

»Wo stecken Sie denn?« fragte er, als sie mit einem flüchtigen Kopfnicken hastig an ihm vorüber wollte. »Hoffentlich waren Sie nicht krank?«

Sie war über die Begegnung nicht sehr erfreut und hätte es gern vermieden, sie auszudehnen, aber seine Frage klang so herzlich, daß sie sich verpflichtet fühlte, ihm Rede zu stehen.

»Nein«, erklärte sie in verlegener Hast, »aber ich hatte in den letzten Tagen sehr viel zu tun. Ich mußte alle unsere weiblichen Tennisgrößen wegen der Strumpffrage ausholen. Vielleicht haben Sie darüber gelesen.«

»Selbstverständlich«, erwiderte er mit ernstem Gesicht. »Eine so wichtige Sache! Und wenn es Sie interessiert: Ich bin unbedingt dafür, daß die Damen mit Strümpfen antreten.«

Sie richtete ihre großen undurchsichtigen Gläser auf ihn, und um ihren kleinen Mund zuckte es leicht.

»Weshalb?«

»Weil ein Paar schöne Beine in Strümpfen lange kein solches Malheur sind, wie unschöne Beine ohne Strümpfe.« In seinen Augen blitzte es auf, und sie sah zwei Reihen starker weißer Zähne, die durch die sonst so energisch geschlossenen Lippen schimmerten. »Man verliert wenig, und es bleibt einem sehr viel erspart«, setzte er blinzelnd hinzu. »Haben Sie nie Tennis gespielt, Miss Avery?«

Sie hob mit einem Ruck den Kopf, und seine unvermittelte Frage schien sie ziemlich in Verlegenheit gebracht zu haben.

»Wie kommen Sie darauf? Wollen Sie sich über mich lustig machen?« Es klang mehr mißtrauisch als verletzt, aber er ging sehr rasch und leicht darüber hinweg.

»Ich meinte nur – weil wir eben bei diesem Thema waren. Aber ich halte Sie auf. Gehen Sie oder kommen Sie?«

Sie wußte einen Augenblick nicht, was sie antworten sollte.

»Ich gehe«, sagte sie endlich und hielt ihm rasch die Hand in dem gestopften Handschuh hin, aber er übersah diese Verabschiedung.

»Das trifft sich gut, ich bin auch fertig«, sagte er so selbstverständlich, daß sie unwillkürlich an seiner Seite weiterschreiten mußte.

»Ich habe aber nur eine ganz kurze Strecke zu gehen«, beeilte sie sich vorzubeugen.

»Wohnen Sie in der Nähe?«

»Nein, das nicht«, gab sie ausweichend zurück. »Aber ich habe einige Besorgungen zu machen.«

Sie schlurfte mit vorgeneigtem Kopf und schlenkernden Armen neben ihm her und machte gar kein Hehl daraus, daß ihr seine Begleitung nicht willkommen war. Am ersten Abend hatte sie doch hie und da einen gesprächigen Augenblick gehabt, aber heute öffnete sie nicht den Mund, wenn er sie nicht fragte, und auch dann antwortete sie nur kurz und widerwillig.

»Haben Sie Ihre Eltern hier in London oder Verwandte?« wollte er plötzlich wissen.

»Ja«, sagte sie rasch und unklar, und wie um über dieses Thema schleunigst hinwegzukommen, begann sie plötzlich mit auffallendem Eifer zu erzählen, daß sie sehr beschäftigt sei, da sie auch noch Kurse höre und verschiedenes für sich zu arbeiten habe. Sie drückte sich darüber nicht näher aus und leierte alles mit monotoner Stimme und einer Geläufigkeit herunter, als ob sie es auswendig gelernt hätte.

Noel Wellby sah ununterbrochen auf das garstige Mal auf ihrer Wange, und sie schien seinen Blick zu fühlen, denn sie wurde immer unruhiger und wandte den Kopf nach allen Seiten.

»Diese anstrengende Arbeit kann Ihnen nicht guttun«, meinte er, und abermals hörte sie in seinen Worten einen warmen, teilnehmenden Unterton mitklingen. »Dabei müssen ja Ihre Augen leiden, und auch Ihre Haltung wird dadurch nicht besser. Seien Sie mir nicht böse, daß ich Ihnen das sage, aber es kommt mir so vor, als ob Sie sehr wenig für sich tun. Sie sollten Sport und Gymnastik treiben. Schließlich sind Sie ja ein junges Mädchen.«

Wieder flogen ihre dunklen Gläser blitzschnell herum und blieben einen Augenblick starr an seinem harmlosen Gesicht haften.

»Das nützt alles nichts«, stieß sie schroff hervor und schüttelte mißmutig mit dem Kopf. »Ich bleibe wohl mein Leben lang, wie ich bin.«

»Sie haben eben noch nie den Versuch unternommen, anders zu werden«, setzte er ihr hartnäckig zu. »Man sollte Sie eigentlich dazu zwingen.«

Er schwieg einen Augenblick und schien «über etwas nachzudenken, und Clarisse blickte ihn aus den Augenwinkeln mit gespannter Aufmerksamkeit an.

»Wenn wir den ersten schönen Tag haben«, sagte er plötzlich, »und das kann ja nicht mehr allzu lange dauern, nehme ich Sie einmal mit auf die Themse. Ein paar Stunden werden Sie sich ja frei machen können, und Sie dürfen sich mir ruhig anvertrauen. Ich kann noch von meiner Jugendzeit her mit dem Segelboot umgehen, und ich getraue mich sogar, Sie aus dem Wasser zu ziehen, wenn Sie hineinfallen sollten. Hoffentlich . . .«

Er vernahm neben sich ein so frisches und herzliches Lachen, daß er jäh abbrach und seine Begleiterin wieder einmal ganz verwundert anstarrte.

»Da gibt es nichts zu lachen«, meinte er. Sie verstummte sofort, aber ein Lachen erschütterte ihren ganzen Körper.

»O doch«, gluckste sie, und es klang wie das Gurren einer Taube. »Stellen Sie sich vor: ich auf der Themse – womöglich in strahlendem Sonnenlicht . . . Ich glaube, alle Fische und Schiffe würden scheu werden bei diesem Anblick.«

»Wir wollen einmal den Versuch machen, dann werden wir ja sehen«, sagte er ruhig und bestimmt, und sie fühlte mit einer gewissen Beklemmung, daß es ihm mit seinem sonderbaren Vorschlag ernst war. Der Mann gefiel ihr ja ganz gut, denn er hatte etwas Gerades und Entschlossenes in seiner Art und etwas Bezwingendes in seinem Auftreten, aber Clarisse sagte sich, daß er kein Umgang für sie sei. Sie paßte so gar nicht zu ihm, und es entging ihr nicht, daß immer wieder der eine oder andere der Passanten verwundert auf das seltsame Paar blickte, das sie bildeten. Und außerdem hatte sie an ganz andere Dinge zu denken, als dem eigenartigen Geschmack Mr. Wellbys an unvorteilhaft aussehenden jungen Mädchen Rechnung zu tragen.

Sie hatten schon längst das Cartwright-Haus verlassen und waren die Fleet Street ein Stück hinuntergegangen, dann in die New Bridge Street eingebogen und nun bei der Ludgate Hill Station angelangt.

Hier hielt sie es an der Zeit, ihren Begleiter abzuschütteln, und zeigte auf das nächstbeste Haus.

»Ich bin am Ziel. Gute Nacht«, sagte sie einfach.

»Gute Nacht. Und vergessen Sie nicht unsere Verabredung. Sowie die Sonne herauskommt, schleppe ich Sie einfach mit.«

Sie gab keine Antwort, sondern verschwand lächelnd in dem Haus, während er seinen Weg gegen die Themse fortsetzte.

Hinter ihm drein bummelten, harmlos und in immer gleichem Abstand, zwei auf der rechten, zwei auf der linken Seite, die vier unscheinbaren Gestalten, die lediglich dem scharfen Auge des erfahrenen Mr. Boyd vor dem Cartwright-Haus aufgefallen waren. Einmal hielt einer von ihnen, ein großer, dicker Mann einen Zeitungsverkäufer an, der die Straße mit seinem monotonen Geschrei hinabtrabte, kaufte ein Blatt und ließ sich dann Feuer geben.

»Es wird noch eine gute halbe Stunde dauern, bis es halbwegs dunkel wird«, flüsterte er, während er mächtig an seiner Pfeife zog. »Nun hängt alles davon ab, was er tut. Halte jedenfalls den Sack bereit, und wenn du meinen ersten Pfiff hörst, so mach dich dicht an ihn heran. Dann kommt auch Ed von der anderen Seite herüber. Und wenn ich zum zweitenmal pfeife, wirfst du ihm das Zeug über den Kopf, und Ed sticht zu. Ich werde schon einen günstigen Platz aussuchen. Aber dann wie der Blitz auseinander.«

Aus der Pfeife des Großen stiegen mächtige Rauchwolken, und er setzte seinen Weg fort; der Zeitungsverkäufer war jedoch weit schneller als er und ihm bald wieder voran.

Aber den Spuren Noel Wellbys folgten nicht bloß vier, sondern gleich sieben Schatten. Einige Schritte hinter dem großen, dicken Mann stapfte breitspurig ein Bursche mit krebsrotem Gesicht und strohblondem Haar unter einer Sportmütze, und seine Gliedmaßen waren so lang, daß die Ärmel seines großkarierten Anzuges vier Finger vorm Handgelenk und die Hose am oberen Rand der schweren Stiefel endeten. Ihm gegenüber schritt ein breitschultriger, schmieriger Geselle mit einer Werkzeugtasche und einem kurzen Bleirohr in der Hand, und zwischen beiden ging ein junger Tagedieb, der bald nach vorne, bald nach hinten sah, und auf den jede Auslage eine besondere Anziehung auszuüben schien. Und eben als sich der große, dicke Mann von dem Zeitungsverkäufer Feuer geben ließ, schlängelte er sich dicht an jenem vorbei, um einen Blick in ein Geschäft zu tun, in dem Batterien von Whiskyflaschen zu sehen waren.

Der Reporter stellte seine Verfolger auf eine harte Geduldsprobe. Er schlenderte, die Hände tief in die Taschen des Mantels vergraben, scheinbar ohne bestimmtes Ziel durch die unendliche Thames Street und hatte jedenfalls keine Eile.

Allmählich stellte sich bereits die Dämmerung ein, und vom Strom her kam die erste Brise der feuchten muffigen Nachtluft.

Plötzlich bog Wellby gerade gegen den Fluß ab, und Hanson, der große, dicke Mann hinter ihm, reckte sich tatbereit auf. Wenn der Verfolgte wirklich seinen Weg durch dieses enge Gassengewirr nahm, mußte sich bald eine passende Gelegenheit ergeben, und es galt jetzt, die Augen offenzuhalten und den Augenblick blitzschnell auszunützen. Die Luft konnte schon in der nächsten Minute völlig rein sein, denn die drei Männer, deren feste Schritte er hinter seinem Rücken vernahm, hatten es offenbar sehr eilig, heimzukommen, und sie waren tatsächlich auch schon an ihm vorüber, ehe er ihnen eingehendere Aufmerksamkeit schenken konnte.

Nun hieß es rasch die eigenen Leute sammeln. Hanson machte vor einem der schmutzigen Häuser halt, spähte nach den Fenstern hinauf und stieß einen schrillen Pfiff durch die Finger, als ob er jemanden herbeirufen wolle. Als sich nichts zeigte, schüttelte er verwundert den Kopf und ging rasch weiter.

Noel Wellby war etwa dreißig Schritt vor ihm, hatte vor sich einen kleinen, hageren Menschen, hinter sich einen Zeitungsverkäufer und an der Seite, nur durch die schmale Gasse getrennt, einen muskulösen Hafenarbeiter.

Der große, dicke Mann machte plötzlich halt und überprüfte das Terrain. Unmittelbar vor dem Reporter bildete eine Hofmauer einen Vorsprung, und wenn die Burschen schnell waren . . .

Abermals schrillte ein kurzer, scharfer Pfiff durch die Stille, und Hanson stand mit angehaltenem Atem sprungbereit und starrte in das Dunkel: Er sah plötzlich einen dichten Menschenknäuel, hörte einige dumpfe Schläge, einen wilden Schmerzenslaut und einen schweren Fall . . .

Der zweite Pfiff war noch nicht verhallt, als der Zeitungsverkäufer auch schon den bereitgehaltenen Sack über Wellbys Kopf hielt und sein schmächtiger Genosse mit einem katzenartigen Sprung herumfuhr, um mit dem Messer in seiner Rechten den Stoß zu tun. Und von der Flanke war der schwere Hafenarbeiter gegen das Opfer geschnellt . . .

Aber die Hände des ›Zeitungsverkäufers‹ mit dem Sack sanken kraftlos herab, denn der Mann erhielt einen Hieb über den Kopf der ihn lautlos zusammenbrechen ließ; den Arm mit dem Messer traf trotz seiner Flinkheit auf halbem Weg ein kurzes, schweres Bleirohr, das ihn für immer erledigte, und den Hafenarbeiter traf vor dem Ziel ein kräftiges Bein mit zu kurzer Hose, das gegen seinen Bauch stieß und ihm schmerzhafte Übelkeit bereitete.

Trotzdem war er der erste, der wieder auf die Füße kam und die enge Gasse hinauflief. Als er an dem großen, dicken Mann vorüberschoß, keuchte er trotz seiner Eile und Atemlosigkeit wütend: »Hol dich der Teufel mit deinen dreckigen Geschäften«, und Hanson verstand ihn sofort und schlug sich behende um die nächste Ecke.


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