Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

3

Mrs. Evelyn Dyke blieb noch einige Augenblicke regungslos über die offene Lade ihres Schreibtisches gebeugt, bevor sie den winzigen Kopfhörer vom Ohr nahm, in der dazugehörigen Kassette verwahrte und dann die Lade mit besonderer Sorgfalt abschloß. Hierauf schob sie die Riegel an den Türen zurück, die sie vor jeder Störung gesichert hatten, nahm einige Papiere und drückte auf einen Klingelknopf. Das leise schnarrende Signal bedeutete, daß ihr der Weg durch die dick gepolsterte Doppeltür in das anstoßende Chefzimmer offenstehe.

Hyman empfing sie mit seinem, wie gewöhnlich, unfreundlichen Gesicht und einem kurzen Knurren, denn er konnte diese Frau noch weniger ausstehen als seine übrige Umgebung, weil er an sie nicht herankonnte.

Mrs. Evelyn Dyke war fünf Jahre lang Sekretärin und die rechte Hand des verstorbenen Sir Benjamin in seinem Zeitungskonzern gewesen, und eine letztwillige Verfügung hatte ihr diese Stellung lebenslänglich gesichert. Hyman war wütend über dieses Vermächtnis, das seine Selbstherrlichkeit einschränkte und seiner launenhaften Willkür eine Grenze setzte. Die Einsicht, daß er ohne dieses Erbe unendlich viel mehr Zeit und Mühe hätte verwenden müssen, sich in die komplizierten Verhältnisse des großen Zeitungsunternehmens einzuarbeiten, stimmte ihn womöglich noch schlechter. Tatsächlich kannte Mrs. Evelyn alles, wußte alles, und sie war zu Lebzeiten Sir Benjamins die eigentlich leitende Persönlichkeit gewesen, und das gesamte Personal, von den Chefs der einzelnen Blätter bis zum letzten Laufboy, hatte sich stillschweigend darauf eingestellt. Und wenn man auch heute den ungemütlichen Anwalt, dessen Tage im Haus infolge der besonderen Umstände allerdings gezählt waren, als unumschränkten Herrn gelten lassen mußte, weil er sich mit rücksichtsloser Energie als solcher gebärdete, vermochte dies der bisherigen Stellung der tüchtigen Mrs. Dyke doch keinen Abbruch zu tun. Man wußte, daß sie nach wie vor in allen wesentlichen Fragen das entscheidende Wort hatte, und es gab einige warnende Beispiele dafür, daß die Ungnade dieser noch immer schönen Frau mit dem regelmäßigen, kühlen Gesicht und dem energischen Mund mindestens ebenso verhängnisvoll werden konnte wie die des vierschrötigen Chefs.

»Drei neue Telegramme«, sagte Evelyn Dyke ohne weitere Einleitung mit ihrer dunklen Stimme. »Perth, Adelaide, Sydney. Alle negativ. Mr. Lawrence ist seit seinem Aufbruch von Urandang spurlos verschwunden.«

Sie legte die Blätter auf den Schreibtisch und ließ sich anmutig in einen der Klubsessel fallen. Sie tat dies vom ersten Tag an aus Prinzip, um dem unhöflichen neuen Chef zum Bewußtsein zu bringen, daß sie eine Dame und eine leitende Persönlichkeit und nicht eine seiner Korrespondentinnen war. Hyman hatte zwar beim erstenmal etwas Wütendes geknurrt, aber der unerschrockene, kampfbereite Blick, der auf ihn gerichtet war, hatte ihn abgehalten, das zu sagen, was er auf der Zunge hatte. Es ging etwas Bezwingendes von dieser gescheiten, tatkräftigen Frau aus, dem selbst seine urwüchsige Grobheit nicht standhielt.

Hyman nahm die Telegramme mechanisch auf und überflog sie, aber er war nicht wie sonst bei dieser wichtigen Sache. Das Ereignis der letzten Nacht und die Unterredung, die er eben gehabt, hatten ihm eine weit drückendere Sorge gebracht, die ihn unaufhörlich beschäftigte.

Die Frau, die vor ihm saß, wußte das. Sie wartete geduldig und sah angelegentlich auf die Spitze ihres eleganten Pumps, mit dem sie im Takt wippte. Aber es entging ihr nicht die leiseste Regung in dem finsteren Gesicht des Anwalts.

»Wann haben wir den Aufruf veröffentlicht?« unterbrach er endlich das Schweigen.

»Am 28. Oktober. Am Tag nach der Testamentseröffnung. Mr. Lawrence hat allerdings bereits am 15. September den Marsch in das Innere angetreten, aber nach den ursprünglichen Dispositionen hätte er spätestens Ende Januar wieder an der Küste sein müssen. Und da viele englische, amerikanische und australische Blätter den Aufruf gebracht haben und auch alle Auslandsstellen verständigt worden sind, hätte er bei seinem Eintreffen in dem erstbesten größeren Ort unbedingt sofort davon erfahren müssen.« Sie faltete die gepflegten schmalen Hände über dem Knie und richtete ihre grauen Augen mit eigenartigem Ausdruck auf Hyman. »Die Sache fängt an, rätselhaft zu werden.«

Der Anwalt hatte darauf nur ein Achselzucken. Bis heute morgen hatte ihn diese vergebliche Jagd nach dem Neffen und Universalerben Sir Benjamins einigermaßen in Atem gehalten, aber jetzt stand weit mehr auf dem Spiel. »Haben Sie die Notiz über den Tod Sir Nicholas' gelesen?« fragte er unvermittelt.

Mrs. Evelyn nickte gleichmütig, als ob es sich um eine ganz alltägliche Todesanzeige handelte, und Hyman mußte sich dazu bequemen, sein lebhaftes Interesse an dieser Sache etwas deutlicher zum Ausdruck zu bringen.

»Was sagen Sie zu der Geschichte?« schnaufte er, indem er die Hände in die Hosentaschen versenkte und nervös mit einem Schlüsselbund klapperte.

»Daß sie natürlich sehr viel Staub aufwirbeln wird und daß man wahrscheinlich fragen wird, weshalb wir nicht schon längst etwas unternommen haben, wenn uns die Umstände, unter denen Sir Benjamin gestorben ist, bedenklich schienen.«

»Wer sagt Ihnen, daß nichts unternommen wurde?« platzte der Anwalt wütend heraus, wandte sich aber sofort mit einem jähen Ruck ab, so daß Mrs. Evelyns seltsam flimmernde Augen nur seinen Rücken trafen.

»Das wußte ich natürlich nicht«, meinte sie gelassen, »und den anderen dürfte es wohl noch weniger bekannt sein. Sie werden sich an das halten, was in und zwischen den Zeilen der heutigen ›London Sensations‹ zu lesen ist und das nicht nur geheimnisvoll, sondern wie eine förmliche Anklage klingt.«

»Was wissen Sie von diesem Wellby?« sprang Hyman plötzlich vom Thema ab.

»Nicht viel. Er hat uns bei Ausbruch der Wirren in Afghanistan einige sehr interessante Artikel über die dortigen Verhältnisse gebracht, und der leitende Redakteur hat ihn später auf seine dringende Bitte in den Reporterstab des Blattes aufgenommen. Der Mann scheint viel in der Welt herumgekommen zu sein und ganz gut zu schreiben, aber es ist ihm offenbar in der letzten Zeit nicht zum besten gegangen.«

Alles das interessierte den Anwalt sichtlich nicht im mindesten, und er unterbrach Mrs. Dyke sehr schroff und ungeduldig.

»Glauben Sie alles, was er gesehen und gehört haben will?«

Die schöne Frau hob die Schultern und vermied es, auf diese Frage eine direkte Antwort zu geben.

»Es ist nicht anzunehmen, daß ein Mensch mit gesundem Menschenverstand so etwas bei einem derart tragischen Anlaß erdichtet. – Aber es ist möglich, daß die Episode im Haus von Lord Etheridge mit den Ereignissen in der letzten Nacht gar nichts zu tun hat.«

Hyman verriet nicht, wie er über diesen Punkt dachte, sondern nagte eine Weile an den wulstigen Lippen und kam dann in seiner sprunghaften, abgehackten Art plötzlich auf eine Reihe geschäftlicher Angelegenheiten zu sprechen.

Mrs. Evelyn war sehr nachdenklich, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, und fand es notwendig, neuerlich die Türen zu verschließen, um ungestört zu bleiben. Eine flüchtige Bemerkung, die dem Chef entschlüpft war, hatte sie etwas aus der Fassung gebracht, denn sie kannte seine Verschlagenheit nur zu gut und mußte wissen, woran sie war. Der findige Reporter hatte einen Stein ins Rollen gebracht, der zu einer verheerenden Lawine werden konnte, und es hieß nun doppelt auf der Hut sein.

»Pat«, sagte sie eine halbe Stunde später zu dem kleinen breitschultrigen Mann, der aus seinen blitzenden Augen schlau und ergeben zu ihr aufblickte, »ich möchte einiges über Mr. Wellby erfahren. Sie kennen ihn doch wohl? So rasch als möglich. – Haben Sie mich verstanden?«

Der Ire verzog den breiten Spalt zwischen seinem in allen möglichen Farben spielenden Bartwald, was bei ihm ein Grinsen bedeutete, und nickte lebhaft. Er wußte ganz genau, was das hieß, denn es war nicht der erste Auftrag dieser Art, den er von Mrs. Dyke empfing, und es gab nichts, was er lieber getan hätte. Er war in diese schöne Frau so schwärmerisch verliebt, daß es ihm stets ein Vergnügen war, ihr einen derartigen Dienst leisten zu können, und außerdem pflegte Mrs. Evelyn geradezu fürstlich zu honorieren. Wenn er seine schwärmerische Verehrung bezeigen und außerdem noch Geld verdienen konnte, war Pat Coppertree von doppeltem Eifer, und er brachte seiner Auftraggeberin stets reiches, brauchbares Material. Wie er es anstellte, so genaue und erschöpfende Auskünfte erteilen zu können, blieb sein Geschäftsgeheimnis. Jedenfalls konnte man sich auf ihn verlassen, und Mrs. Dyke durfte daher hoffen, binnen vierundzwanzig Stunden über den Mann, der die ›Königin der Nacht‹ gesehen haben wollte, manches zu erfahren, was ihr nützlich sein konnte.

 

Noel Wellby ahnte nichts von dem lebhaften Interesse, das die einflußreiche Frau, von deren Existenz er bisher nur vom Hörensagen wußte, an ihm nahm, aber als er sich am selben Abend im Cartwright-Haus einfand, konnte er die Beobachtung machen, daß er plötzlich zu einer Persönlichkeit geworden war. Schon im Vestibül legte Pat die Hand höflich an die Mütze, was er sonst nur bei jenen Herren tat, von denen er ein monatliches Geschenk von mindestens einem Pfund bezog, und im Reporterzimmer wechselte man bei seinem Eintritt bedeutsame Blicke. Mr. Fish bequemte sich sogar zu so etwas wie einem gönnerhaften Kopfnicken, und in seinen Augen lag die scheue Bewunderung, die man etwa einem Mann zollt, der unversehrt aus einem Löwenkäfig herausgekommen war. Noch vor einer Viertelstunde hatte der stets unternehmende ›Fliegenpilz‹ allerdings eine Wette vorgeschlagen, daß man den aufgeblasenen Burschen nicht mehr zu sehen bekommen werde, aber es war niemand darauf eingegangen, und Mr. Fish hatte zu seiner größten Entrüstung hören müssen, daß er sich am Vormittag höchst unfair benommen habe.

Wellby vergrub sich sofort in seinen Zeitungen und konnte feststellen, was er mit seinen wenigen Zeilen in den ›London Sensations‹ angerichtet hatte. Die kurze Notiz hatte in Fleet Street wie eine Bombe eingeschlagen, und die Spalten der Abendblätter verrieten, mit welcher Gier sich das aufgescheuchte Reporterheer auf die geheimnisvolle Angelegenheit gestürzt hatte. Man wußte zwar in der Sache selbst nichts Neues zu berichten, erging sich aber dafür um so ausführlicher in Nebensächlichkeiten und Vermutungen. Eins der Blätter teilte mit, daß zur selben Stunde, da Sir Nicholas vom Tod ereilt wurde, an der Mauer des Hauses ein polizeibekannter Dieb leblos zusammengebrochen war. Überall erinnerte man sich auch an den Tod von Sir Benjamin Cartwright, der vor ungefähr fünf Monaten eines Morgens in seinem Haus in Bayswater starr und steif an seinem Schreibtisch aufgefunden worden war. Der ›Evening Messenger‹ hatte sich sogar auf irgendwelche Weise den seinerzeitigen Obduktionsbefund zu beschaffen gewußt, den er nun in großer Aufmachung veröffentlichte. Das Gutachten war lediglich dadurch bemerkenswert, daß es einen trotz seiner gelehrten Weitschweifigkeit über die eigentliche Todesursache völlig im unklaren ließ. Der einzige einigermaßen auffallende Befund war eine eigenartige Affektion der Luftwege und der Lunge, doch wurden daraus keine besonderen Folgerungen gezogen.

Wie Mr. Hyman und Mrs. Dyke vermutet hatten, konnte es sich kein Blatt versagen, das seltsame Verhalten des Cartwright-Konzerns zu kritisieren, dessen leitende Persönlichkeiten doch offenbar längst gewisse Verdachtsmomente haben mußten, aber mit diesen viele Monate zurückgehalten hatten, bis das Schicksal Sir Mortons sie plötzlich zu einer schlecht angebrachten versteckten Anklage veranlaßte.

Der bereits genannte ›Evening Messenger‹ benützte die günstige Gelegenheit auch, um in einem fetten zweispaltigen Titel die äußerst herausfordernd und verfänglich klingende Frage aufzuwerfen: ›Wo bleibt der Erbe Sir Benjamin Cartwrights?‹ Das Blatt erinnerte daran, daß der Zeitungsmagnat ohne direkte Nachkommen gestorben sei und zu seinem Universalerben seinen Neffen Gordon Lawrence, den Sohn seiner verstorbenen älteren Stiefschwester, eingesetzt hatte, die mit einem Amerikaner, dem Grubenbesitzer Frank Lawrence, verheiratet gewesen war. Der junge, etwas abenteuerlustige Lawrence habe einige Wochen vor dem plötzlichen Ableben seines Onkels eine Reise in das innere Australien angetreten und sei seither trotz aller Bemühungen unauffindbar geblieben. Daran war in äußerst vorsichtigen Wendungen eine Bemerkung geknüpft, die die Leser mit geheimem Gruseln aufmerken ließ, weil sie die Möglichkeit andeutete, daß das unerklärliche Verschwinden von Gordon Lawrence vielleicht ein neues Glied in der Kette der rätselhaften Umstände bilden könne, unter denen der Tod von Benjamin Cartwright und Nicholas Morton erfolgt war.

Zum Schluß hatten so ziemlich alle Zeitungen das seinerzeit erschienene interessante Buch Sir Benjamins über seine afrikanische Jagdexpedition erwähnt und sogar einige der Bilder, wie Gruppenaufnahmen der Teilnehmer, wildromantische Landschaften und Fotografien seltener Trophäen, reproduziert. Aus den beigefügten Kommentaren war zu entnehmen, daß von den Mitgliedern dieses Jagdausflugs nur mehr drei am Leben waren: Mr. Arthur Bryans auf Threecourts und die beiden bekannten Londoner Kluberscheinungen Charlie Selwood und William Osborn.

Der Mann von den ›London Sensations‹, auf dessen Stichwort hin diese tolle Fontäne von Spürsinn, Phantasie und Druckerschwärze hochgeschossen war, hatte sich mit gelangweiltem Gesicht durch den ungeheuren Wust durchgelesen und nicht eine Zeile übersprungen, obwohl es für ihn dabei vorläufig nichts mehr zu tun gab. Mr. Hyman hatte die strikte Weisung ergehen lassen, daß die Blätter seines Konzerns in dieser Sache nur jene Nachrichten bringen dürften, die ihnen direkt vom Chefbüro zukamen, und die Reporter waren darüber nicht sonderlich böse. Man ersparte sich eine Menge Mühen und die unaufhörliche Angst, von der Konkurrenz geschlagen zu werden.

Wellby entnahm seinem abgenützten Etui eine Zigarette, setzte sie in Brand und sah dann nach der Uhr. Es ging gegen acht, und um neun hatte er einer Versammlung der Heilsarmee beizuwohnen, die sich augenblicklich für und wider ihren General in den Haaren lag, woran alle echten englischen Bürger dasselbe lebhafte Interesse nahmen wie an jedem außergewöhnlichen Fußballspiel. Es blieb ihm also Zeit, noch vorher in einem der billigen Restaurants in der Nähe von Old Bailey ein einfaches Abendbrot einzunehmen, was sich bei der zu gewärtigenden Redseligkeit der streitbaren Versammlung dringend empfahl.

Als er im Vestibül an Clarisse Avery, einer seiner Kolleginnen, mit einem kurzen Gruß vorüber wollte, sprach sie ihn plötzlich an. Es hatte den Anschein, als ob sie auf ihn gewartet habe, und sie vermochte eine gewisse Befangenheit und Unruhe nicht zu verbergen.

»Verzeihen Sie«, sagte sie hastig, »aber ich habe gehört, daß Sie ebenfalls zu der Versammlung in der Cartershall gehen. Ich habe einige der weiblichen Offiziere zu interviewen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich mitnehmen würden. Wir können uns dann auch gleich in die Abfassung des Berichts teilen«, schloß sie schüchtern, und Wellby stimmte höflich zu.

Er war von dieser plötzlichen Vertraulichkeit des jungen Mädchens einigermaßen überrascht, denn Miss Avery galt als ein verschlossenes Wesen, das wie ein Schatten im Haus ein und aus ging. Sie arbeitete, soviel er wußte, bereits über ein halbes Jahr bei den ›London Sensations‹ und erwies sich als sehr geschickt, aber ihre Erscheinung war nicht danach angetan, einen besonders für sie einzunehmen. Während der Fahrt im Bus hatte er bei dem gleichgültigen Gespräch, das sie führten, zum erstenmal Gelegenheit, sich diese Kollegin näher anzusehen, und er war betroffen von dem widersinnigen und grausamen Spiel, das die Natur hier getrieben hatte. Das feingeschnittene, regelmäßige Gesicht mit dem kleinen, etwas üppigen Mund war durch ein häßliches Feuermal verunstaltet, das vom linken Ohr über die untere Wange bis an den Hals lief, und dazu kam noch, daß eine dicht anliegende, große dunkle Sonnenbrille die Augen völlig verbarg und den Zügen etwas Unpersönliches und Altjüngferliches gab. Auffallend schön war ihre Gestalt, wenn sie sich hie und da aus ihrer schlechten Haltung aufrichtete, und wenn man die gesunde Wange mit dem frischen, brünetten Teint vor sich hatte und sich durch die schauderhaften toten Brillengläser nicht stören ließ, war man von dem Reiz des regelmäßigen Profils außerordentlich überrascht und gefesselt. Aber Clarisse Avery tat gar nichts dazu, um ihre Vorzüge wenigstens einigermaßen zur Geltung zu bringen. Sie ließ die Schultern nach vorne hängen, trug unter einem engen, unmodernen Mantel ein hochgeschlossenes, altmodisches Kleid, und die Haarlocke von dunklem Kupferglanz, die sie unter dem einfachen verblichenen Hut kokett hervorgedreht hatte, war das einzige an ihr, was von weiblicher Eitelkeit sprach.

Wellby mußte das Mädchen an seiner Seite immer wieder verstohlen betrachten, und er fragte sich, ob dieses arme Geschöpf wohl unter seiner Häßlichkeit litt.

Und wie als Antwort auf seine stumme Frage sagte Miss Avery plötzlich: »Sie sind mir doch hoffentlich nicht böse, daß ich mich Ihnen angeschlossen habe. Ich weiß, daß ich keine gute Figur mache, aber das läßt sich leider nicht ändern. Denken Sie einfach, daß Sie mit Mr. Fish fahren, der auch nicht vorteilhafter aussieht, obwohl er es sich wahrscheinlich einbildet.«

Daß sie förmlich seine Gedanken erraten hatte, setzte Wellby in einige Verlegenheit, aber noch verwirrter war er über ihren Ton, der so gar nicht zu ihrem ganzen trübseligen Aussehen paßte. Es lag ein frischer, überlegener Humor in ihren Worten, und als er sich ihr jäh zuwandte, sah er für Sekunden einen etwas spöttisch lächelnden Mund mit wundervollen Zähnen und leicht vibrierende Nasenflügel, und er verwünschte die Gläser, die ihm die Augen seiner Begleiterin verbargen.

Miss Avery schien über diese ›Entgleisung‹ selbst erschrocken, denn ihr Gesicht nahm wieder seinen gewöhnlichen kalten, nichtssagenden Ausdruck an, und ihr Oberkörper fiel noch mehr als sonst in sich zusammen. Sie war während der weiteren Fahrt plötzlich sehr einsilbig und nachdenklich, doch dem Reporter kam es vor, als ob sie ihn hinter ihrer dunklen Brille hervor scharf beobachtete und immer wieder zu einer Bemerkung ansetzte, die aber nicht über ihre Lippen kommen wollte.

Als sie die Endstation erreichten, von der das Versammlungslokal nur mehr eine kurze Strecke entfernt war, fühlte sich Wellby, der ehrlichen Hunger verspürte, veranlaßt, die Kollegin zu einem kleinen Imbiß einzuladen, und sie war ohne weiteres einverstanden. Sie wählten ein einfaches, nettes Restaurant, aber das Mädchen legte nicht erst ab, sondern drückte sich in die nächste dunkle Ecke und konnte sich, als er dagegen protestierte, eine kleine Selbstironie nicht versagen.

»Lassen Sie mich nur. Wenn mich die Leute im Licht sehen würden, könnte Ihr Geschmack arg in Mißkredit kommen.«

Er hörte ein leises melodisches Lachen, und die Gegensätze in diesem eigenartigen Wesen setzten ihn immer mehr in Erstaunen. Während sie speisten, entdeckte er plötzlich, daß das unscheinbare Mädchen ihm gegenüber die wunderbarsten und gepflegtesten Hände besaß, die er je gesehen hatte, und er starrte so bewundernd darauf, daß Miss Clarisse, sichtlich erschrocken, ihre Hände unter dem Tisch verbarg.

»Sie haben mit Ihrer Nachricht über den Tod von Sir Nicholas Morton sehr viel Staub aufgewirbelt«, sagte sie mit einer gewissen Hast, als ob sie durch das nächstbeste Gesprächsthema über ihre Verlegenheit hinwegkommen wollte. »Die Sache las sich auch furchtbar aufregend. Besonders die Geschichte von der ›Königin der Nacht‹. – Haben Sie selbst diese Episode beobachtet?«

Wellby nickte lächelnd.

»Allerdings. Ich war der geheimnisvollen Frau so nahe, wie ich jetzt Ihnen bin.«

Die dunklen Augengläser ruhten sekundenlang auf ihm, dann begann Miss Avery langsam ihre gewirkten, an den Spitzen sorgsam gestopften Handschuhe anzuziehen.

»Das nenne ich Reporterglück«, meinte sie leichthin. »Wer weiß, welch wichtige Dienste Sie nun in dieser rätselhaften Geschichte noch leisten können. – Es dürfte Ihnen ja vielleicht möglich sein, die Frau wiederzuerkennen?«

Der junge Mann mit den leicht angegrauten Schläfen zündete sich eine Zigarette an und hob die Schultern.

»Das traue ich mir nicht zu«, erwiderte er bedächtig, »denn ich habe leider so gut wie gar keinen Anhaltspunkt.«

Er sprach, wie am Vormittag im Zimmer Mr. Hymans, nicht ganz die Wahrheit, aber das konnte ja die Kollegin nicht interessieren.

Als Wellby die Rechnung beglichen hatte, wurde das junge Mädchen plötzlich sehr energisch.

»Machen Sie keine Dummheiten«, tuschelte sie ihm zu. »Sie sehen mir nicht danach aus, als ob Sie sich das leisten könnten, und wenn es so wäre, so würde ich es mir erst recht nicht gefallen lassen. Ich mag niemandem verpflichtet sein.« Sie nahm den Zettel auf und überflog ihn. »Sie bekommen von mir einen Schilling neun Pence«, schloß sie sachlich und bestimmt.

Noch vor dem Hause zählte sie den Betrag ab und reichte ihm das Geld, obwohl ein strömender Regen niederging. Zum Glück hatten sie nur etwa hundert Schritte zu gehen, aber als sie bei der Cartershall anlangten, rann das Wasser förmlich in Bächen von ihren Mänteln und Hüten, und sie schüttelten sich, während sie unter der großen Lampe im Flur standen.

Wellby, der sich hinter Clarisse Avery befand, beugte sich plötzlich blitzschnell vor und starrte betroffen auf den Hals seiner Begleiterin, aber diese hatte es sehr eilig, ihre nasse Garderobe loszuwerden, und entschlüpfte ihm, ehe er sich noch vergewissern konnte, ob ihn seine Augen nicht getäuscht hatten.


 << zurück weiter >>