Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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20

An einem der morschen Fensterläden zu ebener Erde des einsamen Hauses in Hackney zeichnete sich plötzlich ein fadendünner Lichtschein ab, und im Gestrüpp gegenüber knackte im selben Augenblick ein dürrer Ast.

Der ›Professor‹ war gekommen, ohne daß das leiseste Geräusch die nächtliche Stille dieses öden Platzes unterbrochen hätte, und das leise Schnappen des Lichtschalters im Laboratorium war das erste Zeichen, das seine Anwesenheit verriet.

Der niedrige, nicht allzu große Raum mit den geschwärzten Wänden und der verräucherten Decke bot ein Bild der Unordnung und Unsauberkeit. An den Wänden standen rohe Tische, die mit den verschiedensten Apparaten, Instrumenten, Flaschen und Tiegeln bedeckt waren. In die Tischplatten und den abgetretenen Fußboden waren tiefe Flecke eingeätzt. In der Mitte unter einer Schirmlampe befand sich ein runder Tisch mit einer Decke, die nebenbei auch als Wischtuch zu dienen schien. Darauf lag ein hoher staubiger Stoß von Büchern, den offenbar seit undenklichen Zeiten keine ordnende Hand berührt hatte. Daneben gab es als einzige Sitzgelegenheiten zwei einfache Holzstühle.

Fred Cummings zog seinen Mantel aus, hängte ihn mit peinlicher Sorgfalt an einen Haken neben der Tür und stülpte dann ebenso pedantisch seinen Hut darauf. Seine Erscheinung war mit dem verwahrlosten Raum nicht recht in Einklang zu bringen. Er war mittelgroß, hager, etwa vierzig Jahre alt, mit scharfgeschnittenem Gesicht, dem ein Paar tiefliegende dunkle Augen und ein gepflegter schwarzer Bart einen besonderen Reiz gaben. Die tadellose Kleidung vervollständigte den Eindruck einer interessanten Persönlichkeit.

Er sah nach der Uhr und merkte, daß er sich zu beeilen habe, denn er ging plötzlich mit großer Hast zu Werke. Zunächst nahm er aus einer tiefen Tischlade eine seltsam geformte Kopfhaube, die er mit einem verkniffenen Lächeln untersuchte, und dann schob er einen kleinen auf Rädern laufenden Kasten von der Wand, bis der Fleck, auf dem er gestanden hatte, völlig frei war. Der ›Professor‹ hob mit einem geschickten Griff ein Stück des Bretterbelages aus, stülpte sich dann die Gasmaske über und entnahm der Öffnung mit größter Behutsamkeit eine hölzerne Schatulle, die er zu einem der Tische an der Wand trug. Hier schaltete er eine Wandbeleuchtung ein und öffnete die Schachtel. Sie enthielt zuoberst eine dicke Watteschicht, die er vorsichtig entfernte, worauf zwei Reihen etwa pfirsichgroßer Ballons aus einer milchfarbigen Masse sichtbar wurden. Cummings streifte ein Paar weiche, wollige Handschuhe über, holte aus einer Lade eine kleinere Schachtel, legte sie sorgfältig mit Watte aus und entnahm der ersten Schatulle mit zwei Fingern einen der Ballons, um ihn hauchzart in die zweite zu betten. Diese äußerst behutsame Manipulation wiederholte er noch dreimal, worauf er die größere Schachtel wieder an ihren Platz brachte, den Kasten darüberschob und die zweite bis an den Rand mit Watte füllte und sorgfältig verschnürte.

Er war mit diesen Vorbereitungen fertig und hatte gerade die Maske abgenommen, als unter einer Retorte eine winzige farbige Birne in kurzen Intervallen dreimal aufleuchtete. Der ›Professor‹ sah nochmals auf seine Uhr, entnahm seiner Rocktasche einen handlichen Browning, den er nach gründlicher Prüfung wieder verstaute, und setzte dann wieder die unförmige Haube auf. Hierauf rückte er an einem kleinen Hebel an der Wand, löschte das Licht und öffnete die Tür.

Der ganze Raum lag in undurchdringlichem Dunkel, und nur von einigen der Glasbehälter ging ein schwacher Schimmer aus.

Die Person, die kam, mußte das Haus ebenso genau kennen wie Cummings, denn sie nahte so lautlos, daß plötzlich ihre Stimme aus allernächster Nähe erklang.

»Machen Sie Licht.«

Die Lampe über dem runden Tisch flammte auf, und der ›Professor‹ stand, die Rechte in der Rocktasche, hinter der schlanken Gestalt, die in dem dunklen, enganliegenden Mantel einem Schatten glich. Das fußfreie knopflose Kleidungsstück war aus einem glatten Stoff von toter Farbe, und die kleinen Füße steckten in hohen Schnürschuhen mit Gummisohlen. Alles an dieser Erscheinung war geschmeidig und aalglatt, und die Bewegung, mit der sie beim Aufflammen des Lichtes herumschnellte, hatte etwas Katzenartiges.

»Müssen diese dummen Geschichten immer sein?« kam es gereizt hinter dem dichten, silbergestickten Gewebe hervor, das den ganzen Kopf einhüllte und nur zwei schmale Schlitze für die Augen frei ließ. Die Stimme klang durch die Verhüllung breit und dumpf, und es war nicht zu unterscheiden, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte.

»Unbedingt«, hallte es aus der Gasmaske ebenso zurück. »Aus Vorsicht. Man kann nicht wissen, was geschieht.«

Die dunkle Gestalt warf ärgerlich den Kopf zurück und ließ sich auf einen der Stühle fallen.

»Haben Sie die Sache vorbereitet?« fragte sie ungeduldig.

Cummings blieb mit der Hand in der Rocktasche stehen und gab eine ausweichende Antwort.

»Sie brauchen etwas viel davon«, sagte er, »und ich fürchte, bald nicht mehr nachkommen zu können, da die Herstellung sehr langwierig und umständlich ist.«

Der Besuch war offenbar auf eine derartige Bemerkung nicht vorbereitet, denn er machte eine überraschte Wendung, und die leuchtenden Augen richteten sich sekundenlang mit einem lauernden Ausdruck auf die Kopfmaske.

»Ich werde Sie nun längere Zeit in Ruhe lassen. Aber die vier Ballons muß ich dringend haben.«

»Sie stehen Ihnen zur Verfügung. Unter den üblichen Bedingungen. Das wären also vierhundert Pfund.«

Die verhüllte Gestalt machte eine unwillige Geste.

»Gut. Aber Sie müssen sich etwas gedulden. Augenblicklich kann ich einen derartigen Betrag nicht entbehren.«

»Dann nehmen Sie eben weniger«, schlug er vor. »Um unserer guten Beziehungen willen möchte ich nicht, daß Sie in mir Ihren Gläubiger sehen müssen. Das könnte Sie gegen mich einnehmen, und wer weiß, was daraus entstehen würde.«

»Sie sind ein erbärmlicher Blutsauger«, stieß der Schatten hervor. »Habe ich Ihnen nicht schon Tausende gegeben?«

»Immer nur als meinen wohlverdienten Anteil«, stellte Cummings fest und geriet in Erregung. »Habe ich Ihnen dafür nicht etwas geliefert, was eigentlich unbezahlbar ist? Aber das können Sie nicht beurteilen. Wenn ich das, wofür ich von Ihnen lumpige hundert Pfund verlange, der Allgemeinheit übergebe, kann ich das Tausendfache verdienen. Schon mit den Ballons allein, ohne Füllung.« Er redete sich immer mehr in Feuer und begann lebhaft gestikulierend auf und ab zu gehen. »Wieviel Zeit und Mühe und wieviel vergebliche Versuche hat es mich gekostet, um diese Masse zu finden! Widerstandsfähig gegen einen atmosphärischen Druck und doch so empfindlich und spröde, daß der geringste Aufschlag genügt, um die runden Dinger als unsichtbaren Staub in alle Winde zersplittern zu lassen. Von dem, was sie enthalten, will ich gar nicht reden. Wenn ich wollte, könnte ich mich damit zum Herrn der Welt aufwerfen. Ich könnte London zu einem riesigen Totenhaus machen, ganz England, den ganzen Kontinent. Sie wissen das ja ebensogut wie ich. Trotzdem wollen Sie mit mir plötzlich feilschen.«

»Ich habe augenblicklich wirklich kein Geld«, versicherte der Besuch.

»Dann wirtschaften Sie sehr schlecht«, bemerkte er tadelnd. »Sie haben in der letzten Zeit gute Geschäfte gemacht.«

»Von denen Sie ehrlich die Hälfte erhalten haben«, kam es gereizt zurück.

»Allerdings. Für meine wertvollen Tips, ohne die Sie nie zu den guten Gelegenheiten gekommen wären. Jedenfalls sind Ihnen recht nette Summen geblieben, und ich verstehe nicht, daß da vierhundert Pfund eine Rolle spielen sollen.«

»Sie spielen aber eine Rolle«, sagte die schwarze Gestalt hartnäckig und verbissen. »Wenn Sie nicht warten wollen und um Ihren Lohn fürchten« – die Stimme wurde plötzlich lockend und schwül –, »so machen Sie sich auf eine andere Weise bezahlt. Wie Sie es ja früher zuweilen getan haben . . .«

Cummings blieb mit einem Ruck stehen und sah aus den Gläsern seiner Maske starr auf seinen Besuch. Dann ließ er ein kurzes, höhnisches Lachen hören.

»Früher, ja. Aber nun scheint es mir doch ratsamer, mich mit Geld zu begnügen. Ich traue mich ja gar nicht mehr, in Ihrer Gegenwart diesen unbequemen Kopfschmuck abzulegen. Das würde ein sehr unbehagliches Schäferstündchen werden.«

»Feiger Schurke!«

Der schlanke, geschmeidige Körper schnellte wie eine Feder empor, und einen Augenblick schien es, als ob er sich auf den Professor stürzen wollte, aber dieser stand unbeweglich, und nur die Hand, die er in der Tasche hielt, zuckte leicht.

»Echauffieren Sie sich nicht«, sagte er kühl. »Es hat keinen Zweck. Lassen Sie uns lieber mit unserem Geschäft zu Ende kommen. – Also, vierhundert Pfund in bar.«

Der verschleierte Gast riß an einem seiner Handschuhe und brachte ein Bündel zusammengeknüllter Banknoten zum Vorschein, das er wortlos auf den Tisch warf.

Cummings zählte bedächtig und deutete dann mit einem Kopfnicken auf die vorbereitete Schachtel.

»Alles in Ordnung«, sagte er höflich. »Ich möchte Ihnen nur wie immer äußerste Vorsicht empfehlen, denn . . .«

»Lassen Sie das«, unterbrach ihn die verhüllte Gestalt wütend, indem sie das kleine Paket aufriß, an sich nahm und unter dem Mantel verschwinden ließ. »Ich weiß mit diesen Dingen ebensogut umzugehen wie Sie.«

Sie schlüpfte eilig zur Tür, machte aber an der Schwelle nochmals halt und wandte den Kopf.

»Wegen des heutigen Abends werden wir noch abrechnen«, klang es schneidend hinter dem dichten Schleier mit der silbernen Mondsichel und den flimmernden drei Sternen hervor.

Der ›Professor‹ hob gleichmütig die Schultern.

»Ich glaube, Sie hätten an wichtigere Dinge zu denken«, sagte er. »Man spricht bereits zu viel von der ›Königin der Nacht‹, als daß Sie noch lange ungeschoren bleiben können.«

Schon wenige Minuten später sollte die ›Königin der Nacht‹ an diese Worte erinnert werden.

Sie war aus der kleinen Tür an der rechten Hauswand geglitten und dicht an der Mauer nach rückwärts geschlüpft, um den schmalen Pfad im Gebüsch zu erreichen, als ihr an der Ecke plötzlich eine dunkle Masse den Weg versperrte.

Die Verhüllte vermochte in der Winzigkeit des Augenblicks nichts zu unterscheiden, aber das Bewußtsein der Gefahr ließ ihre Rechte jäh emporschnellen.

Um den Bruchteil einer Sekunde früher fuhr die dunkle Masse zu Boden, und zum erstenmal verfehlte eines der tödlichen Geschosse der ›Königin der Nacht‹ sein Ziel und flog irgendwohin ins Leere.

Und zum erstenmal entglitt auch Clive Boyd eine Beute, die er bereits mit eisernen Händen gefaßt hatte. Er erhielt mit der Spitze eines Schuhs einen so derben Stoß zwischen die Augen, daß sich seine Finger, die einen feinen Knöchel umklammerten, unwillkürlich lockerten. Das genügte der geschmeidigen Gestalt, sich zu befreien und das Gebüsch zu erreichen.

Der Herr mit dem weißen Haar dachte nicht an eine Verfolgung, sondern lauschte, hart an die Mauer gedrückt, dem leisen Rascheln der Äste, das sich immer weiter entfernte.

Dann schlich er in der entgegengesetzten Richtung, aus der die Gestalt gekommen war, gegen die Vorderfront des Hauses und war im Begriff, um die Ecke zu biegen, als von der Spitze eines Strauches her ein matter Schein sein Auge traf. Er ließ vorsichtig das Licht seiner Taschenlampe auf die Stelle fallen und besah sich neugierig den schimmernden Gegenstand.

Es war ein kleiner milchfarbiger Ballon, der in das sprießende Blätterwerk einer Astgabelung gebettet war.

Über Boyds Züge glitt ein strahlendes Lächeln, und er verlöschte rasch sein Licht. Dann zählte er mit peinlicher Genauigkeit die Schritte bis zum Weg und hatte nur den einen Wunsch, daß er die seltsame Kugel noch unversehrt vorfinden möchte, wenn er entsprechend ausgerüstet wiederkehrte.

Und sein Glück blieb ihm auch diesmal treu.


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