Louis Weinert-Wilton
Die Königin der Nacht
Louis Weinert-Wilton

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16

Als Noel Wellby an diesem Tag sein Haus betreten hatte, stieß er im Flur auf seine Wirtin, die wie ein Schatten aus ihrem Zimmer geglitten war. Die magere, blasse Dame hatte ein Tuch um die Schläfen gewunden, und ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie unter körperlichen Schmerzen litt, sonst hätte sie ihren Mieter vielleicht ungeschoren gelassen, denn er hatte schon wieder einen vollen Monat vorausbezahlt, aber augenblicklich brauchte sie eine Aussprache, die ihr Blut etwas in Wallung brachte.

»Mr. Wellby«, sagte sie unfreundlich, »ich kümmere mich zwar sonst nicht darum, was meine Mieter treiben, aber ich will meine Ruhe haben. Meinetwegen bleiben Sie den ganzen Tag zu Hause oder kommen Sie gar nicht«, fuhr sie unliebenswürdig fort, nachdem sie tief Atem geschöpft hatte, »das geht mich nichts an. Aber daß ich deswegen ununterbrochen Scherereien haben soll, das paßt mir nicht. Seitdem der Mann mit dem großen Bart hier gewesen ist, rennen mir die verschiedensten Leute das Haus ein . . .«

»Werfen Sie sie hinaus«, riet Wellby lakonisch und wollte an ihr vorüber, aber sie machte Miene, ihre Hand auf seinen Arm zu legen, und da wich er lieber wieder zurück.

»Das sagt sich leicht«, meinte sie bissig und vorwurfsvoll, »aber ich bin eine alleinstehende Frau und kann es nicht darauf ankommen lassen, daß mir eines Tages etwas passiert. Von dem ersten Herrn, der nach Ihnen fragte, will ich ja nicht reden, denn er war wirklich ein Gentleman«, räumte sie mit einem leichten Seufzer ein, »aber mit den anderen, die seither gekommen sind, möchte ich nichts zu schaffen haben. Sie sind ja nicht der erste Mieter, den ich habe, und jeder hat seine Freunde und Bekannten gehabt, aber ich muß schon sagen, daß die anders ausgesehen haben. Na, schließlich ist das Ihre Sache. Aber anstatt zu kommen, wenn Sie hier sind, trommeln sie an die Tür, wenn ich allein bin. Ich kann dann sehen, wie ich sie wieder los werde. Dafür werde ich nicht bezahlt, Mr. Wellby. Wenn Sie schon eine so große und zudringliche Bekanntschaft haben, so lassen Sie sie wissen, wann Sie zu Hause sind. Kleben Sie meinetwegen einen Zettel an die Haustür, daß ich nicht ständig bei Nacht und bei Tag in Angst sein muß. Bei Ihnen weiß man eigentlich nie, was im Hause vorgeht. Dabei lassen Sie auch noch die Fenster offen. Heute nacht ist wahrscheinlich eine Katze hineingesprungen, weil ich einen Plumpser gehört habe und dann ein paarmal ein Miauen. Auch vorhin, als ich an der Tür gehorcht habe, habe ich es wieder gehört. Ich hätte ja das Vieh hinausjagen können, aber ich kann Katzen nicht leiden. Wenn es wirklich eine Katze ist, wird es oben sauber ausschauen, und ich sehe nicht ein, wie ich dazu komme . . .«

Die bedauernswerte Hauswirtin lehnte sich erschöpft und erleichtert an die Wand, und Wellby benützte die Gelegenheit, um die schmale Treppe hinaufzusteigen. Er hatte dem fließenden Redeschwall der verärgerten Frau sehr aufmerksam gelauscht und ihn stellenweise ganz interessant gefunden.

Der enge Gang, der zu seinem bescheidenen Zimmer führte, war selbst bei Tag stockdunkel, und der Reporter hatte es sich schon längst angewöhnt, ihn nur mit einer Taschenlampe zu betreten. Auch seine Tür pflegte er, bevor er sie öffnete, aus irgendwelchen Gründen vorerst immer sorgfältig abzuleuchten, und erst dann steckte er den Schlüssel ins Schloß und öffnete.

Heute ließ er sich damit noch länger Zeit als sonst und fand es geraten, eine Weile mit angehaltenem Atem zu lauschen. Er vernahm aber keinen Laut, und nach einigen Minuten schob er die Rechte in die Manteltasche und stieß mit der Linken die Tür auf, wobei er mit einem blitzschnellen Sprung zur Seite hinter der Korridorwand Deckung suchte. Erst als alles ruhig blieb, beugte er vorsichtig den Kopf vor und sah in das Zimmer. Es war mit wenigen alten Möbeln primitiv eingerichtet und so kahl, daß jeder Winkel zu überblicken war.

Schon wollte er eintreten, als er die Vermutung seiner Wirtin bestätigt fand. Er hörte ein gereiztes Fauchen und gleich darauf sprang eine Katze mit schillernden Augen von dem einfachen Bett und machte angriffslustig einen Buckel.

Wellby besah das ausgewachsene Exemplar forschend und überlegte eine Weile. Dann zog er schnell die Rechte aus der Tasche, es gab einen kaum hörbaren Knall, und das Tier schnellte in die Höhe und überschlug sich.

Der Reporter schloß die Tür, und als der seltsame Eindringling die letzten Zuckungen getan hatte, trat er an den Kadaver heran und untersuchte ihn sorgfältig. Er ging dabei äußerst behutsam zu Werke, und als er die im Todeskampf gestreckten Krallen gewahrte, nahm er eine Lupe zur Hand und blickte lange auf den ungewöhnlichen, lackartigen Glanz, mit dem die scharfen Spitzen überzogen waren. Dann lächelte er eigentümlich, nahm ein altes Wäschestück, breitete es auf dem Boden aus und wickelte, nur unter Zuhilfenahme des Fußes, das tote Tier hinein. Hierauf schleppte er eine große Schachtel herbei, hob das Paket vorsichtig hinein und verschnürte den Karton. Dann ging er zum Fenster, blickte eine Weile hinaus und zündete sich eine Zigarette an.

Wenige Minuten später sah die schlechtgelaunte Wirtin von ihrem Ausguck einen großen Mann das Haus betreten und vernahm dessen schwere Tritte, bis sie sich über ihr verloren. Nicht lange darauf kamen die Schritte wieder herunter, und der Fremde entfernte sich mit einer umfangreichen Schachtel unter dem Arm. Der Bursche war jung und machte einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck, und da sie sich in einer Stimmung befand, in der ihr nichts recht war, ärgerte sie sich nun, daß ihr Mieter gerade diesmal zu Hause gewesen war.

Als der Mann gegangen war, begann Wellby hinter verschlossener Tür an einem kleinen Kästchen zu hantieren, das die neugierige Wirtin für ein Radio hielt und immer mit ärgerlichem Kopfschütteln betrachtete, da es doch eigentlich ganz unnütz herumstand. Der Reporter drückte in Intervallen und taktmäßig auf einzelne Taster, die kaum sichtbar in das Gehäuse eingelassen waren, und als nach wenigen Minuten ein leises Surren erklang, öffnete er eine kleine Kappe und ließ einen schmalen Papierstreifen ablaufen, den er ablas und dann in winzige Stücke zerriß.

 

Mr. Fish führte wieder das große Wort, als Wellby etwa zwei Stunden später in das Reporterzimmer kam. Er thronte, den Hut im Genick, die Hände in den Hosentaschen, mit übergeschlagenen Beinen auf einem Schreibtisch und klagte über die lästigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen er sich nicht entziehen könne. Vor einigen Tagen hatte er mit dem englischen Botschafter in Washington im Princes-Restaurant das Dinner einnehmen müssen und war dann noch von Mrs. Dyke und ihrer Gesellschaft in Anspruch genommen worden, am nächsten Abend war ein Empfang bei Lord Liverstone gewesen, von dem er sich trotz aller Anstrengungen nicht hatte frei machen können, am nächsten Tag wieder hatte ihn ein bekannter Politiker förmlich in seinen Klub geschleift und dort einer Menge einflußreicher, aber langweiliger Persönlichkeiten vorgestellt, und gestern mußte er einem millionenschweren jungen Sportsmann bei einem Bummel Gesellschaft leisten, bei dem es ein bißchen toll hergegangen war.

Der ›Fliegenpilz‹ gähnte zur Bekräftigung seiner begreiflichen Müdigkeit höchst ausgiebig, und die Art, wie er die sommersprossigen Wülste über den Augen hochzog, sollte andeuten, daß ihm dieser Rummel furchtbar zuwider war.

»Dreimal, viermal in der Woche, schön, aber jeden Abend in Frack und Lackschuhen, das ist ein bißchen zu viel. Ich bin gewiß ein Gesellschaftsmensch, aber zuweilen hat man doch das Bedürfnis, sich selbst zu gehören und ordentlich auszuschlafen.« Er gewahrte plötzlich, wie Wellby mit gespreizten Fingern seinem Etui eine Zigarette entnahm und zwischen die seltsam verkniffenen Lippen schob, und der mißtrauische Jüngling empfand das als Herausforderung. »Dabei gibt es wahrscheinlich Leute«, fuhr er daher mit erhobener Stimme und verächtlich geblähten Nüstern höchst anzüglich fort, »die wer weiß was darum gäben, wenn sich die Gesellschaft so um sie reißen würde. Aber dazu gehört etwas mehr, als ein vornehmes Getue, hinter dem nichts steckt. Darauf fällt kein wirklicher Mann von Welt herein. Ich würde ihn doch nicht für einen geborenen Pair halten. – Genauso, wie ich Miss Avery nicht für eine Gräfin halte, obwohl sie in der Nacht in einem Privatauto herumfährt.«

Wellby blies den Rauch seiner Zigarette in einer langen Säule gegen die Decke, und einer der Reporter brach in helles Gelächter aus.

»Großartig. Miss Avery in einem Auto. Da haben Sie sich wohl verschaut.«

Mr. Fish sah den Sprecher mitleidig an und zuckte mit den Schultern. »Solche Augen sollten Sie haben wie ich«, sagte er selbstbewußt. »Und wenn es Miss Avery hundertmal bestreitet, weil sie wohl selbst einsieht, daß es eine komische Sache ist, weiß ich doch, was ich gesehen habe. Zehn Schritte vor mir ist sie heute nacht beim Regents Park in einen wartenden Wagen gestiegen. Ich wollte sie schon anrufen, aber das Auto fuhr bereits los. Glauben Sie, daß ich Miss Avery nicht erkannt hätte? Bei dem Gesicht? Weiß ich, warum sie es nicht gewesen sein will?« Er verzog seinen breiten Mund zu einem Grinsen. »Wenn sie etwas netter wäre, könnte man fast glauben . . . Jedenfalls muß sie ihre Gründe haben, denn schließlich, es ist zwar nichts Besonderes, was ich gefunden habe, aber immerhin . . .« Er zog ein kleines Notizbuch aus der Tasche und ließ die Blätter ablaufen. »Vier Schilling mag die Sache gekostet haben. Echtes Leder und feines Papier und gut zur Hälfte noch unbeschrieben. Ich würde so etwas nicht so ohne weiteres laufen lassen, wenn es mir gehörte. Und es gehört ihr, denn ich habe genau gesehen, wie es aus ihrer Handtasche fiel, als sie in den Wagen schlüpfte. Deshalb habe ich sie auch aufhalten wollen. Beweisen kann ich es allerdings nicht, denn es steht kein Name darin, und das andere kann man auch nicht lesen. Wenigstens ich nicht«, fügte er hinzu und sah sich herausfordernd im Kreise um, »denn es ist, wie ich glaube, Hebräisch, und da bin ich nicht sachverständig. Ausgerechnet so etwas muß ich finden«, schloß er verdrießlich, »und der Besitzer muß die Annahme ablehnen. Ich wünschte, es wären in dem Buch wenigstens noch ein oder zwei Pfund gewesen.«

»Drei Pfund für das Buch«, sagte in diesem Augenblick der schweigsame Wellby so klar und deutlich, daß Mr. Fish wie eine Sprungfeder vom Tisch schnellte und den Sprecher mit offenem Mund anstarrte. Aber sein Mißtrauen gegen diesen unsympathischen Mann wurzelte zu tief, um durch solch eine Redensart völlig beseitigt zu werden.

»Machen Sie keine schlechten Witze«, begann er daher gereizt, aber die letzten Worte kamen eigentlich kaum noch über seine Lippen, denn der andere hatte tatsächlich drei Pfundnoten vor sich auf den Tisch gelegt und streckte nun die Hand aus, um das Notizbuch in Empfang zu nehmen.

Angesichts der Scheine wich der Argwohn des ›Fliegenpilzes‹ bald, und als er vorsichtshalber rasch die Hand auf die Banknoten legte, war er sich des Ernstes der Sache vollkommen bewußt.

»Drei Pfund sind eigentlich etwas wenig«, meinte er und schob dabei das Geld auch schon in die Westentasche, »aber weil Sie es sind, lieber Wellby . . .« Das schlechte Geschäft machte ihn so zerstreut, daß er auch das Buch in Gedanken wieder einstecken wollte, aber er ließ es plötzlich mit einem leichten Aufschrei fallen, weil sich fünf Finger wie ein eiserner Reif um sein armes Handgelenk gelegt hatten.

»Was Sie für Manieren haben«, stieß er ärgerlich hervor. »Mich wegen nichts und wieder nichts so zu quetschen. Morgen wird die ganze Hand blau sein, und man wird mich fragen, in was für einer Gesellschaft ich verkehre, daß ich so zugerichtet bin.« Er rieb sich umständlich das Gelenk, und bereute, daß er wieder einmal zu bescheiden gewesen war. Wenn er statt ein oder zwei, drei oder vier Pfund gesagt hätte, so hätte dieser aufgeblasene Dummkopf von einem Wellby statt drei auch fünf Pfund auf den Tisch gelegt.

Miss Avery, um deren angebliches Eigentum es hierbei ging, war wieder einmal nicht zu sehen gewesen, aber zu seiner größten Überraschung sollte Wellby an diesem Abend noch von ihr hören. Er hatte sich wegen eines Berichts über eine Regatta länger in der Redaktion aufgehalten, und es ging bereits auf neun Uhr, als er die Treppe hinabstieg. Die weite Halle war völlig leer.

Als aber Wellby an der Pförtnerloge vorüberschritt, streckte sich ihm plötzlich ein langer knochiger Arm mit einem Brief entgegen, und der Arm hatte es so eilig, wieder zu verschwinden, daß der Umschlag zu Boden fiel, bevor der Reporter noch dazu gekommen war, ihn zu ergreifen. Wellby hob den Brief verwundert auf, aber die Handschrift der Adresse vermochte ihm nichts zu sagen. Erst als er das Schreiben geöffnet und einen Blick auf die Unterschrift geworfen hatte, war er sich im klaren, aber seine Überraschung war deshalb nicht geringer.

»Mr. Wellby«, schrieb Clarisse Avery, »wenn Sie sonst nichts anderes vorhaben und wenn Sie sich meinetwegen wirklich nicht genieren, so würde es mich freuen, mit Ihnen heute ein Stündchen plaudern zu können. Vor allem möchte ich Sie auf einen Umstand in den Fällen der ›Königin der Nacht‹ aufmerksam machen, der mir aufgefallen ist und der sich vielleicht journalistisch sehr interessant verarbeiten ließe. Ich habe bis ungefähr neun Uhr in der afrikanischen Mission zu tun und werde dann in dem Restaurant gegenüber der County Hall zu Abend essen. Es soll dies ein Vorschlag sein und kein Zwang, und deshalb sage ich auch nicht, daß ich mich freuen würde, wenn Sie kämen.«

Der Reporter las die wenigen Zeilen einige Male durch, bevor er sie mit nachdenklichem Gesicht zusammenfaltete und in die Tasche steckte.

Pat, der mit grimmigen Augen über Wellbys Schulter schielte, hoffte, daß der Mann, der ihn an das ärgste Mißgeschick seines Lebens erinnerte, nun endlich gehen würde, aber sein Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Wellby drehte sich vielmehr so blitzschnell um, daß Mr. Coppertree den Blick nicht mehr abwenden konnte und direkt in die scharfen, dunklen Augen dieses unangenehmen Menschen sehen mußte.

Der Reporter trat so nahe heran, daß sein Oberkörper das Schiebefenster der Loge völlig ausfüllte, und seine Stimme klang so gedämpft, daß sie gerade nur so weit zu hören war, wie der kleine krummbeinige Ire stand.

»Mr. Pat – das Doppelte von dem, was Sie bekommen haben, wenn Sie mir sagen, wie der Arzt heißt, auf dessen Anordnung Sie so weite nächtliche Spaziergänge unternehmen.«

Mr. Coppertree starrte nach dem dunklen Gesicht im Fenster wie ein entsetzter, glaubensstarker Mann nach dem Versucher, der ihn vom rechten Wege abbringen will. Einen Augenblick wirbelten die Worte in seinem Kopf. »Das Doppelte von dem, was . . .«, hatte jener gesagt, und der süße Pat bemühte sich, möglichst rasch darauf zu kommen, wieviel das eigentlich gewesen war. Wenn er sich recht erinnerte, waren es drei Pfund gewesen, aber wenn er das andere dazuschlug und allen Ärger mit Mrs. Nettie, so hätten es wenigstens fünf Pfund sein sollen . . .

Als ob er Pats geheimsten Gedanken erraten hätte, fragte der Versucher am Fenster mit seiner leisen Stimme auch schon: »Wieviel war es also?« Und der arme schwache Mann konnte dieser teuflischen Lockung nicht widerstehen. Er spreizte zunächst die fünf Finger seiner Rechten so deutlich, daß sie nicht zu übersehen waren, und damit auch die Linke nicht zu kurz kam, hob er noch deren dicken Daumen.

»Also zwölf Pfund«, sagte Wellby geschäftsmäßig. »Und damit Sie es nicht mit Ihrem Gewissen zu tun bekommen, müssen Sie mir den Namen nicht einmal nennen, sondern, wenn ich ihn ausspreche, machen Sie einfach kehrt. Dann können Sie bei Ihrem Schutzpatron und jedem anderen Heiligen beruhigt schwören, daß nicht ein Wort über Ihre Lippen gekommen ist.«

Mr. Coppertree starrte den Reporter mit einer Scheu und Ehrfurcht an, als ob er der oberste Teufel selbst wäre, denn nur dieser konnte auf eine so großartige Idee kommen. Das mit dem Schwören war verdammt schlau und richtig, und wenn Mr. Wellby vielleicht auch nicht der Teufel war, so war er sicherlich ein Ire, der wußte, daß es mit dem Gewissen und dem Schwören eine sehr ernste Sache ist. Und wenn Mrs. Dyke auch eine Dame war und er viel für sie übrig hatte – da es um zwölf Pfund und einen Landsmann ging und er außerdem beruhigt schwören durfte, konnte ihm niemand einen Vorwurf machen.

»Legen Sie los«, brummte er daher leise, »aber zuerst . . .«

Der andere verstand ihn, und während Pat mit scharfen Augen mitzählte, legte jener durch das Fenster zwölf Pfundnoten auf den Tisch und zog sich zu Mr. Coppertrees Beruhigung etwas zurück.

»Mr. Hyman?«

Pat stand wie ein Felsblock und starrte den Teufel an.

»Mrs. Dyke?«

In diesem Augenblick gab es dem Iren einen so gewaltigen Ruck, daß er um seine krumme Achse flog, und als er sich nach einigen Augenblicken wieder vorsichtig umwandte, war der Versucher verschwunden, aber die Scheine, an die er sich plötzlich mit Schrecken erinnerte, waren, Gott sei Dank, noch da.

Als Wellby sich in dem Restaurant gegenüber der County Hall einfand, mußte er noch eine ganze Weile warten, bevor Miss Avery etwas atemlos erschien, und er war überrascht, als er sie sah. Sie trug diesmal statt des unkleidsamen Mantels, in dem sie wie in einem Regenschirmfutteral steckte, ein sehr geschmackvolles Sportkostüm und einen dazu passenden neuen Hut, und wenn ihre Erscheinung dadurch auch nicht viel anziehender wurde, so wirkte sie doch weniger auffallend.

»Mir scheint, ich gefalle Ihnen«, sagte sie ironisch, als sie seinen Blick bemerkte, und wieder einmal hörte er das leise, weiche Lachen, das so gar nicht zu dem unschönen Mädchen passen wollte. »Ich habe auch das neue Kostüm nur Ihretwegen angezogen«, gab sie unbefangen zu, »denn es ist etwas zuviel verlangt, daß Sie sich mit einer vollendeten Vogelscheuche zeigen sollten. Ich weiß, was sich gehört, und nachdem ich heute darauf vorbereitet war, mit Ihnen zu Abend zu essen, so konnte ich mich etwas herrichten.«

Er bemerkte, daß tatsächlich sogar auch die kupferbraune Locke unter dem Hütchen mit besonderer Koketterie hervorgezogen war, und er mußte lächeln, daß Miss Avery trotz allem die weibliche Eitelkeit nicht ganz verleugnen konnte.

Seine Begleiterin entwickelte diesmal von Anfang an eine auffallende Gesprächigkeit, und er ahnte, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, wofür sie eine entsprechende Einleitung suchte. Sie erzählte ihm von der Sitzung in der afrikanischen Mission, und ihre treffenden Bemerkungen über die dort vorgebrachten seltsamen Anträge sagten ihm, daß sie sehr viel Geist und Witz besaß und eine gehörige Portion schalkhafter Bosheit.

»Wenn Sie die Sachen so niederschreiben, wie Sie sie mir eben berichteten, können Sie vom ›Puck‹ sehr viel Geld bekommen«, meinte er, aber sie wehrte lächelnd ab.

»Ich glaube, die Redakteure des ›Puck‹ würden weit weniger entzückt sein als Sie. Und solche Sachen interessieren mich auch nicht. Aber«, fuhr sie leichthin fort und spielte dabei mit ihren Fingern, von denen sie die Handschuhe abzustreifen vergessen hatte, »es ist schade, daß wir in dem gewissen Fall so ganz kaltgestellt sind. Sie wissen ja, was ich meine. Da hätte sich, glaube ich, manches machen lassen.«

»Fühlen Sie das Zeug zu einem Detektiv in sich?« fragte er und richtete seinen Blick aus halb geschlossenen Lidern auf die großen dunklen Gläser, die ihm aber sofort auswichen.

»Das gerade nicht«, gab sie mit verlegener Hast zurück, »aber so geheimnisvolle Dinge regen mich zum Nachdenken an. Ich habe etwas gefunden, was sehr auffällig und vielleicht von größter Wichtigkeit ist.« Sie brach ab und schien eine Aufmunterung zu erwarten, aber Wellby sah sie nur mit einem leichten Zucken um den Mund an, und sie wurde plötzlich so nervös, daß das Besteck in ihrer Hand leicht zitterte.

»Es gibt doch bei jedem Verbrechen eine gewisse Logik der Geschehnisse«, begann sie nach einer Weile plötzlich von neuem, »und diese vermisse ich hier. Ich weiß nicht, ob wirklich eine ›Königin der Nacht‹ existiert, aber wenn alles sich so verhält, wie die Zeitungen berichten, so ist mir das Verhalten dieser geheimnisvollen Frau völlig unverständlich. Sie erscheint und stellt, wie es heißt, eine Frist, aber noch bevor diese um ist, tritt bereits die Katastrophe ein. – Warum tötet die ›Königin der Nacht‹ nicht schon das erstemal, wenn sie es unbedingt auf das Leben derer, die sie aufsucht, abgesehen hat? Und warum stellt sie eine Frist, wenn sie nicht gewillt ist, sie einzuhalten? Können Sie sich das erklären?«

Sie sah von ihrem Teller auf und wandte ihm das Gesicht zu, und wieder einmal bemühte sich Wellby vergeblich, die toten Augengläser zu durchdringen.

»Was schließen Sie daraus?« fragte er.

»Oh, man könnte verschiedenes vermuten«, meinte sie, »aber alles das sind nur Theorien. Zum Beispiel . . .«

Sie vollendete nicht, denn seine Interesselosigkeit benahm ihr anscheinend den Mut, das zu sagen, was sie dachte. Und Wellby fiel es nicht ein, in sie zu dringen. Als sie eine Weile in ihrer Schweigsamkeit verharrte, begann er selbst von allen möglichen gleichgültigen Dingen zu sprechen, und sie beschränkte sich darauf, ihm nachdenklich zuzuhören.

Plötzlich griff er in die Tasche und legte das Notizbuch, das er vor einigen Stunden von dem geschäftstüchtigen Mr. Fish erstanden hatte, vor sie auf den Tisch.

»Ich stelle Ihnen hier Ihr Eigentum zurück, Miss Avery«, sagte er.

Sie sah ihn erst völlig verständnislos an, als sie aber das kleine Buch erblickte, verfärbte sie sich jäh und schob es mit einer energischen Bewegung von sich.

»Es gehört nicht mir«, sagte sie gereizt. »Ich habe das doch schon Mr. Fish erklärt. Was soll das heißen, daß man es mir mit aller Gewalt aufdrängen will? – Haben Sie hineingesehen?«

Er schüttelte den Kopf und blickte sie so offen an, daß sie ihm glaubte.

»Nein. Aber wenn es wirklich nicht Ihnen gehören sollte, so nehme ich es wieder an mich und werde mich für den Inhalt interessieren. Ich glaube nämlich, zum Unterschied von Mr. Fish, diese gewissen hebräischen Schriftzeichen entziffern zu können.«

Sie legte unwillkürlich ihre Hand auf das Notizbuch, und es trat ein langes Schweigen ein.

»Weshalb haben Sie es mir gebracht?« fragte sie endlich leise.

»Weil mir der Gedanke unangenehm war, eine Sache, die Ihnen gehört, im Besitz von Mr. Fish zu wissen«, erklärte er ausweichend. »Und weil vielleicht Dinge darin stehen könnten, die nur Sie angehen.«

Sie riß in einem jähen Impuls den gestopften Handschuh herunter und reichte ihm eine zarte, weiche Hand, die er einen Augenblick in der seinen hielt.

»Ich möchte Sie aufmerksam machen«, sagte er unbefangen, »daß wir nach der Prognose schönes Wetter bekommen, und da wird unsere verabredete Segelpartie fällig. Würde Ihnen der Sonntag passen? Da können Sie einen vollen Tag frische Luft schöpfen, was Ihnen sicherlich sehr guttun wird.«

Sie nickte lebhaft, und ihr Lächeln verriet, daß ihr die Sache Spaß zu machen begann. Erst als er sie fragte, ob er sie abholen solle, wurde sie wieder etwas verlegen.

»Bitte, machen Sie sich keine Umstände«, sagte sie. »Bestimmen Sie irgendeinen Ort, der nicht zu verfehlen ist.«

Er dachte einen Augenblick nach.

»Also sagen wir um neun Uhr beim Battersea Park. Wir werden übrigens darüber noch sprechen.«

Als sie nach einer halben Stunde aufbrachen und er sie ein Stück begleiten wollte, lehnte sie sehr entschieden ab. Er durfte mit ihr nur bis zum nächsten Bus gehen, aber schon an der folgenden Haltestelle stieg Miss Avery wieder aus und fuhr in der entgegengesetzten Richtung zurück, bis sie endlich in einer kleinen Gasse in ein wartendes Privatauto schlüpfte.

Der Mann auf dem Motorrad, der ihr folgte, mußte sehr aufpassen, aber er war äußerst findig und geschickt und blieb ununterbrochen auf ihrer Fährte.


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